Rezension über:

Werner Müller / Norbert Quien: Virtuelle Steinmetzkunst der österreichischen und böhmisch-sächsischen Spätgotik. Die Gewölbeentwürfe des Codex Miniatus 3 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 37), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2005, 126 S., 28 Abb., ISBN 978-3-937251-03-5, EUR 39,80
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Rezension von:
Stefan Bürger
Institut für Kunst- und Musikwissenschaft, Technische Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Gerhard Lutz
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Bürger: Rezension von: Werner Müller / Norbert Quien: Virtuelle Steinmetzkunst der österreichischen und böhmisch-sächsischen Spätgotik. Die Gewölbeentwürfe des Codex Miniatus 3 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 2 [15.02.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/02/9835.html


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Werner Müller / Norbert Quien: Virtuelle Steinmetzkunst der österreichischen und böhmisch-sächsischen Spätgotik

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Die Veröffentlichung nimmt den Codex Miniatus 3 der Österreichischen Nationalbibliothek, das um 1560/70 entstandene so genannte Dresdner Skizzenbuch, als Ausgangspunkt, sich tiefer gehend mit Fragen der Entwurfsprozesse spätgotischer Gewölbe zu beschäftigen. Innerhalb der einführenden Kurzcharakteristik des Codex werden zunächst die Forschungsgeschichte thematisiert, Datierungs- und Deutungsprobleme benannt und Lösungsansätze formuliert.

Zum Verständnis der im Codex enthaltenen Gewölbeentwürfe erläutert Müller grundsätzliche Verfahrensweisen spätgotischer Entwurfspraktiken. Da die Entwürfe als potenzielle Vorlagen für Wölbungen gelten, schließen sich nahtlos Erläuterungen zur praktischen Umsetzung der Gewölbe an. Auf Grund fehlender gebauter Architekturen als Belege entwickelten die Autoren Computergraphiken (CAD), deren digitale Projektionen die zeichnerischen Visierungen in räumlich-virtuelle Gebilde umwandeln. Die Raumgebilde werden an einfachen Beispielen vorgeführt und erläutert. Die Beschreibung einer Prinzipalbogenaustragung dient dabei sowohl dem Nachvollziehen der Übertragung der Zeichnungen in digitale Systeme als auch dem Verständnis der Zeichnungen selbst.

In einem zweiten Schritt folgt die Präsentation der Computergraphiken zum Codex. Die Gewölberisse des Codex, die vollständig im farbigen Tafelteil abgedruckt sind, werden durch einen schematischen Hilfsgrundriss und eine Kurzbeschreibung kommentiert und mithilfe der entsprechenden Computergrafik visualisiert. Es schließt sich ein Vergleich zum Manuskript Ms W*276 des Historischen Archivs in Köln an. Dessen Wölbrisse werden exemplarisch in ihrem Bezug zum Wiener Codex vorgestellt und durch kommentierte Computergrafiken ergänzt. Gelegentlich erfolgen durch das Einbinden von fotografischen Abbildungen gezielte Verweise auf existierende Wölbungen als Referenzobjekte vergleichbarer räumlicher Gebilde.

Im Rahmen kunstwissenschaftlicher Betrachtungen werden Parallelen der dekorativen Wirkung im Vergleich zum Maßwerk aufgezeigt. Ferner erfolgen Überlegungen zum Seriellen in der Gewölbeherstellung und zu Differenzen zwischen Entwürfen und Werken durch den Prozess der Fertigung. Anschließend bieten die beschriebenen Bauaufgaben einen Überblick über die Anwendungsbereiche verschiedenartiger Wölbkonzepte. Vor allem Bauten mit zahlreichen individuellen Wölbungen werden als "gebaute Mustersammlungen" vorgestellt. Rückführend auf die Gewölberisse werden einzelne bestehende Wölbungen analysiert, die Bogenaustragungen nachvollzogen und zu Grunde liegende Entwurfsprinzipien rekonstruiert. Eine große Rolle spielen dabei die Gewölbe der Pfarrkirchen in Most/Brüx und Ingolstadt. Erweitert wird der Überblick durch Beispiele, wie Füllmuster in Brüstungen, Maßwerk u. a., die sich mit Wölbrissen in Verbindung bringen lassen.

Ein weiterer Abschnitt widmet sich der Entwicklung und Veränderung bestimmter Figurationen in den Entwurfsprozessen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf komplexen Wölbungen mit mehrschichtigen Rippensystemen. Mit ihrer Hilfe werden sich weiterentwickelnde Entwurfsstrategien und Modifizierungen diskutiert, bzw. feste Setzungen im Entwurf und die Bandbreite möglicher Wandlungen präsentiert. Die Analysen der Figurationen versuchen die Variationen von Grundformen (z. B. den Blütensternen) durch eine raumspezifische Bindung an bestehende Grundrisse zu erklären. Herausragende Argumentationsgrundlage sind die Bogenrippengewölbe im Wladislawsaal der Prager Burg, der Annaberger Annenkirche und der Kirchen in Most/Brüx und Kutnà Hora/Kuttenberg.

Ein Hauptanliegen des üppig bebilderten Buches ist die Veröffentlichung der Visierungen und Computergrafiken. Müller verweist auf den Umstand, dass zu keinem spätgotischen Gewölbe eine entsprechende Visierung erhalten ist, wobei er die Visierungen der Zwickauer Marienkirche übersieht, die teilweise und nur als Umzeichnungen in Karl Weißbachs Monografie zur Marienkirche publiziert sind (Die Marienkirche in Zwickau, Zwickau 1922). In der Digitalisierung suchen die Autoren die Visierungen, deren Entstehung nicht mit heutigen Projektionsverfahren vergleichbar ist, unseren Sehgewohnheiten anzupassen bzw. die Lesbarkeit zu unterstützen. Hintergrund ist ihre Funktion als Entwurfsmedium und Versatzhilfsmittel, wobei für die Wiener und Kölner Sammlungen auch andere Funktionen (Repräsentationspläne und Lehrzwecke) diskutiert werden. Die Funktion des Wiener Codex als Musterbuch einer Bauhütte für Kapellenbauten privater Bauherren wird nicht erwogen. So bleibt die Frage offen, ob beispielsweise für individuell gestaltete, privat finanzierte Seitenkapellen der Stadtpfarrkirchen, Altarziborien, Portalvorhallen etc. derartige Musterbücher zur Anwendung kamen.

Mit der Forcierung entwurfstechnologischer Fragestellungen und der Analyse der Form- und Innovationspotenziale der spätmittelalterlichen Entwurfsmedien beschäftigt sich Müller seit langem mit einem hoch spezialisierten Bereich der Architekturgeschichte. Die spezifischen Kenntnisse der Werkmeister fordern eine wohl überlegte Herangehensweise, die sich bereits in zahlreichen anderen Publikationen Müllers widerspiegelt. Die Forschungsleistung trägt in hohem Maße zum Verständnis spätgotischer Bauplanung bei und fördert die Suche nach formbildenden Momenten im Entwurfsprozess, die für die Beurteilung von Gewölben entscheidend sein kann. In der Zusammenarbeit von Müller und Quien erreicht der Diskurs zur Problematik spätgotischer Gewölbeentwürfe eine neue Qualitätsebene, die in der Forschung zur Wölbkunst bislang kaum reflektiert wird. Den Autoren gelingt es, mittels präziser Beschreibungen und computergrafischer Bilder, Sachverhalte leicht nachvollziehbar zu machen, wobei sie nicht versäumen, auf die Unterschiede des digitalen Verfahrens zur mittelalterlichen Steinmetzkunst hinzuweisen. Sie rekonstruieren anschaulich die Differenzen zwischen Entwurf und gefertigten Gewölben durch den Herstellungsprozess bzw. den einstigen (idealisierten) Entwurfsgedanken.

Die Veröffentlichung berücksichtigt die Unerfahrenheit der Leser, was dem Verständnis zuträglich, der Tiefenschärfe jedoch abträglich ist. So wird auf Variationsbreiten der Entwürfe nicht hingewiesen; sie können allenfalls den Kommentierungen der Abbildungen entnommen werden. Auch bleibt beispielsweise die Frage, wann man sich für aufsteigende oder fallende Rippenanfänger entschied, offen. Für Grafik 12 scheinen im Übrigen fallende Linien in den Stichkappen wahrscheinlicher, da es sich eher um ein Schiffgewölbe handelt. In kleinen, kuppeligen Wölbungen sind eher aufsteigende Anfänger anzunehmen.

Ferner verspricht das Kapitel zum Rippensystem als verräumlichtes Maßwerk mehr als nur den Hinweis auf dekorative Elemente. Hier wäre ein konstruktiver Vergleich zwischen den Lehrgerüstfunktionen von Maßwerk und Rippenwerk zu erwarten gewesen.

Die Einbindung der Risse in die österreichische und sächsisch-böhmische Steinmetzkunst erfolgt ausschließlich über die Bogenrippengewölbe, wodurch diese gegenüber dem größeren Bestand scheidrechter Gewölbe zu Unrecht bevorzugt wurden. Die einzige Bewertung eines scheidrechten Gewölbes, der Wölbung des Domes in Freiberg, geht bei der Bezugnahme auf "kassettiert wirkende Gewölbe im Übergang zur Renaissance" fehl, denn die Freiberger Wölbung entspricht Rautennetzen, wie dem der Leipziger Thomaskirche (analog Tafel II). Andere Bezüge: Tafel VI zur Nordkapelle im Freiberger Dom; Tafeln XII/XV zur Ulrichkirche in Halle.

Insgesamt stellt das Buch einen wertvollen Beitrag dar, spätmittelalterliche Entwurfsprozesse zu verstehen, Visierungen lesen zu lernen sowie ihre konstruktiven Informationen und dekorativen Potenziale zu erkennen.

Stefan Bürger