Gerhard Fürmetz (Hg.): "Schwabinger Krawalle". Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre (= Villa ten Hompel. Schriften; 6), Essen: Klartext 2006, 254 S., ISBN 978-3-89861-513-6, EUR 22,90
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Die "Schwabinger Krawalle" gehören zu den herausragenden immateriellen Erinnerungsorten der Bundesrepublik - ein mythisches Ereignis, das das Ende der Adenauer-Ära und die Liberalisierung der Bundesrepublik anzuzeigen scheint. Ausgelöst von einem Polizeieinsatz gegen Straßenmusikanten lieferten sich im Juni 1962 an fünf Nächten Polizei und mehrere tausend Demonstranten einen Kampf um die Oberhoheit auf der Leopoldstraße im Münchener Vergnügungsviertel Schwabing. Sieht man einmal ab von dem großen zeitgenössischen Medienecho, war bislang über den Ablauf der Ereignisse, die Konfliktlinien, die Vor- und Nachgeschichte nicht viel bekannt. Die "Schwabinger Krawalle" wurden zitiert, nicht erforscht. Hier setzt der anzuzeigende Sammelband an, der dieses komplexe Ereignis und seine Folgen erstmals detailliert nachzeichnet und analysiert.
Der Entstehungskontext dieses Bandes ist charakteristisch für viele um das Thema "1968" kreisende Forschungen, in dessen Weichbild die "Schwabinger Krawalle" häufig verhandelt werden. In Seminar- und Magisterarbeiten, die zumeist an der Münchner Universität entstanden, haben sich seine Autorinnen und Autoren seit der zweiten Hälfte der 90er-Jahre mit den Konflikten der 60er-Jahre beschäftigt und ihre Ergebnisse auf einer Veranstaltung zum 40. Jubiläum des Ereignisses vorgestellt. Daraus ging diese Publikation hervor, die ein wunderbares Beispiel dafür ist, wie aus lokal- und regionalgeschichtlichen Spurensuchen studentischen Ursprungs veritable Forschung mit überregionaler Erklärungskraft entstehen kann.
In "mikroskopische[r]" (20) Annäherung konzentriert sich der Band zum einen auf die Untersuchung der Ereignisse - in den Blick genommen werden die beteiligten Jugendlichen (Stefan Hemler), die Polizei (Michael Sturm) und die Öffentlichkeit (Andreas Voith, Esther Arens, Margit Fürmetz) -, zum anderen auf ihre Nachgeschichte - hier diskutieren die Autoren den Zusammenhang mit der Studentenbewegung der späten 60er-Jahre (Stefan Hemler), das gerichtliche Nachspiel (Michael Sturm) und die sich wandelnde erinnerungspolitische Funktion der "Schwabinger Krawalle" (Gerhard Fürmetz). Zahlreiche Illustrationen, Grafiken und Quellendokumente belegen und verstärken die Erklärungskraft der Argumentation.
Rätselhaft erschienen die "Schwabinger Krawalle" bislang vor allem, weil sich in der kollektiven Erinnerung und in der Geschichtsschreibung die Halbstarkenkrawalle um 1957 und die Studentenbewegung um 1968 als Zentralereignisse einer Jugendrebellion festgesetzt haben. Mitunter wurden diese beiden Pole zueinander in Beziehung gesetzt, aber ihre Vor- und Nachgeschichten, insbesondere die Zeit zwischen ihnen blieb diffus. Eines der herausragenden Verdienste des Sammelbandes besteht darin, dieses im Zwielicht von kulturellem Eigensinn und politischer Rebellion nur undeutlich wahrnehmbare Niemandsland exemplarisch erkundet zu haben. Besonders prägnant arbeitet Stefan Hemler die Spezifik der Schwabinger Krawalle zwischen Halbstarkenrebellion und Studentenbewegung heraus. Im Studentenviertel Schwabing gingen Hochschüler auf die Straße, aber auch Lehrlinge und Jungarbeiter - Letztere ganz nach dem klassischen Muster juveniler Territorialkämpfe. Theorie und große Politik spielten hier im Unterschied zur Studentenbewegung noch keine Rolle, sondern im Mittelpunkt stand das Insistieren auf kultureller Selbstbestimmung. Allerdings nahmen Studenten in ihrer Verteidigungsargumentation nach den Krawallen die bestimmenden emotionalen Elemente des Konfliktes - wie etwa jugendliche Provokationslust - zurück und stellten seine rationalen Aspekte voran - zum Beispiel den bürgerrechtlichen Protest gegen eine gewalttätige Polizei. Diese Deutung entsprach den Normen des rationalen Diskurses und konnte auf größeren Widerhall in der Öffentlichkeit hoffen, drängte aber die nicht in erster Linie vernunftgesteuerten Elemente der kulturellen Dynamik der 60er-Jahre in den Hintergrund, die erst später unter dem Schlagwort der "neuen Sensibilität" (Herbert Marcuse) prominent wurden. Dieses treffend als "selbstlähmende Rationalisierung" (169) bezeichnete Phänomen war in der Tat typisch insbesondere für die deutsche Studentenbewegung, sichtbar noch bis weit in die 70er-Jahre hinein. Hemlers genaue Analyse der "Schwabinger Krawalle" zeigt, dass die frühen 60er-Jahre keine "Pausenzeit generationeller Konflikte" (56) waren, sondern eher eine Gärungsphase, in der vielerorts jugendliche Milieus entstanden, die neue kulturelle Formen ausprobierten und daher mit traditionalen Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung in Konflikt gerieten. Schwabing wurde so spektakulär, weil die Münchner Polizei an einem studentisch geprägten, traditionell libertären Ort so massiv reagierte.
Anhand der Reaktionen von Polizei und Justiz analysiert Michael Sturm in zwei exzellenten Aufsätzen, wie mehrdeutig sich der Wandel der politischen Kultur in der Bundesrepublik vollzog. Er zeigt, wie wenig die auf politische Unruhen nach Weimarer Muster hin ausgebildete Polizei in der Lage war, auf Auseinandersetzungen zu reagieren, die nicht in erster Linie politisch motiviert waren und "Rädelsführer" oder "fanatische Gefolgsleute" kaum aufwiesen. Ebenso wenig geschlossen wie die "akute Masse" agierte freilich die Polizei, deren chaotische Organisation dazu beitrug, dass die auf eigene Entscheidungen verwiesenen Polizisten den Gummiknüppel als Kommunikationsmittel bevorzugten. Insbesondere jugendlich-cooler Habitus und weiblicher Protest versetzten Polizisten in Raserei, denen traditionelle Ideale von Männlichkeit und Staatsautorität vorschwebten. Doch setzte die öffentliche Diskussion über den Missbrauch staatlicher Gewalt die Polizeiführung erheblich unter Druck und trug zur Entwicklung der "Münchner Linie" bei, die auf Zurückhaltung, Differenzierung und verbale Kommunikation abzielte und damit bundesweit als Muster polizeilichen Handelns in einer demokratischen Konfliktkultur gehandelt wurde. Sturm arbeitet auch heraus, dass die Münchner Polizei damit keineswegs auf Repression ganz verzichtete - im Gegenteil: Weil künftige Gewalttätigkeiten schon präventiv verhindert werden sollten, bemühte man sich darum, nonkonformistische Jugendliche wie Pflastermaler oder "Gammler" dauerhaft unter Druck zu setzen und aus dem Stadtbild möglichst zu verbannen. Auch in der Prozesswelle, die sich nach den Ereignissen vor allem über Demonstranten ergoss, wurde deutlich, dass obrigkeitsstaatliche Vorstellungen noch von zäher Permanenz waren. Während Jugendliche zum Teil drastische Urteile entgegenzunehmen hatten, wurden Polizisten kaum belangt. Wohl setzte die gegenüber der Rechtsprechung zunehmend kritische öffentliche Meinung die Justiz erheblich unter Rechtfertigungszwang, doch zu handfesten Reformen kam es hier markant später als bei der Polizei.
Natürlich gibt es hier wie bei allen Sammelbänden Unterschiede im analytischen Niveau der Beiträge, auch wäre vielleicht das eine oder andere Torten- und Säulendiagramm entbehrlich gewesen, und sicherlich ließe sich noch weiter forschen - etwa zum Selbstverständnis der jugendlichen Akteure, zu ihren kulturellen und politischen Interessen und Stilen. Aber das sind Details, die das Gesamturteil nicht berühren. Dieses Buch ist mehr als eine Studie mit lokal begrenzter Reichweite. Als dichte Beschreibung, die eine allgemeine Fragestellung an einem genau rekonstruierten Beispiel untersucht, weist sie über ihren begrenzten Gegenstand hinaus. Nun wissen wir nicht nur erstmals etwas Profundes über die "Schwabinger Krawalle", sondern auch mehr über die Mechanismen, Schübe und Ungleichzeitigkeiten des Wandels in der politischen Kultur der Bundesrepublik. Gleichzeitig demonstriert dieser Band, wie spezifische Traditionen und Verarbeitungsweisen diesen Wandel lokal geprägt haben. Das Ineinanderblenden allgemein- und lokalgeschichtlicher Perspektiven macht ihn im Hinblick auf die 60er-Jahre zu einer Pionierstudie. Sie deutet an, welche Aufschlüsse noch zu gewinnen wären, bezöge man andere Orte des kulturellen Wandels ein. Da kommen nicht nur seine Dreh- und Angelpunkte von Schwabinger Kaliber infrage - die Reeperbahn, Frankfurt oder Berlin-Kreuzberg, sondern auch Dörfer und Kleinstädte, die vermutlich ganz andere Dynamiken aufzuweisen haben.
Detlef Siegfried