Schrittmacher der Moderne

Wie kein anderer Künstler des 19. Jahrhunderts hat Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) der preussischen Residenzstadt Berlin seinen Stempel aufgedrückt. Eine umfangreiche Ausstellung am Kulturforum in Berlin beleuchtet nun die vielfältigen Facetten seines Werkes.

Von Jürgen Tietz
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Karl Friedrich Schinkel war nicht nur Architekt, Denkmalpfleger und Maler, er entwarf auch Bühnenbilder – 1815 etwa für die «Zauberflöte». (Bild: Reinhard Saczewski / bpk / SMB)

Karl Friedrich Schinkel war nicht nur Architekt, Denkmalpfleger und Maler, er entwarf auch Bühnenbilder – 1815 etwa für die «Zauberflöte». (Bild: Reinhard Saczewski / bpk / SMB)

Welche Kunstrichtung beherrschte Karl Friedrich Schinkel eigentlich nicht? Er war erfolgreicher Architekt und Denkmalpfleger, war Baubeamter und versierter Maler. Schinkel entwarf epochemachende Bühnenbilder ebenso wie Möbel. Und mit der Gestaltung von Bilderrahmen war er genauso vertraut wie mit dem Entwurf von königlichen Palastvisionen. Wie kein zweiter Architekt seiner Zeit formte der 1781 nördlich von Berlin in Neuruppin geborene Universalkünstler die preussische Residenzstadt: von der Neuen Wache Unter den Linden (gleich neben dem barocken Zeughaus) über das Alte Museum bis hin zum Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Bis heute prägen Schinkels Repräsentationsbauten die Mitte Berlins, ja der Begriff «Spree-Athen» ist aus baulicher Sicht recht eigentlich sein Verdienst.

Eine umfangreiche Werkschau des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin bietet nun am Kulturforum unter dem Titel «Schinkel – Geschichte und Poesie» einen in Werkgruppen untergliederten Einblick in Schinkels vielfältiges Schaffen. Anlass für die Ausstellung ist kein Jubiläumsdatum, sondern der Abschluss eines Forschungs- und Digitalisierungsprojektes, bei dem die rund 5000 grösstenteils eigenhändigen Zeichnungen Schinkels und etwa 500 druckgrafischen Blätter der Staatlichen Museen in einem Online-Katalog erfasst werden, der Ende 2012 freigeschaltet werden soll.

Obwohl Schinkels Ausnahmetalent ausser Frage steht, hatte auch er Vorläufer, die seinem Wirken den Boden bereitet haben. Allen voran der ebenso früh vollendete wie früh verstorbene Friedrich Gilly (1772–1800). Er war der entscheidende Wegweiser für Schinkel. Gillys nicht verwirklichter Entwurf für ein Denkmal des Preussenkönigs Friedrich II. aus dem Jahr 1796 für den Leipziger Platz in Berlin gehört zu den Initiationsmomenten des preussischen Klassizismus und findet sich folgerichtig gleich am Anfang der Berliner Ausstellung. Wer heute den öden, «kritisch rekonstruierten» Leipziger Platz besucht, der fragt sich, wie dieser Ort wohl aussehen würde, hätte Gilly dort seinen tempelartigen Denkmalentwurf verwirklichen können. Wäre das Monument für den Mauerbau 1961 abgeräumt worden? Und hätte man nach 1990 um seine Rekonstruktion so heftig gerungen wie seit Jahren um den Wiederaufbau von Schinkels Bauakademie?

Unter der Ägide Schinkels zog ein gleichermassen pragmatischer wie brillanter Klassizismus in Preussen ein. Ein Klassizismus, der sich nicht darauf beschränkte, das antike Formenrepertoire mit Säulen und Kapitellen wiederzubeleben, sondern dem es gelang, zugleich neue künstlerische Wege einzuschlagen. So steht Schinkels Altes Museum am Lustgarten mit seinen kolossalen ionischen Säulen am Beginn einer eigenständigen modernen europäischen Museumsarchitektur. Von hier aus sah man aus der offene Treppenhalle auf das barocke Schloss. So dokumentierte sich im Alten Museum nicht nur ein neues bürgerliches Selbstverständnis im Umgang mit der Kunst. Schinkel gab hier zugleich eine neuartige Definition des Stadtraums als eines öffentlichen Orts.

Sein Gemälde «Blick in Griechenlands Blüte», 1825 entstanden und nur in der schönen Kopie von August Wilhelm Julius Ahlborn überliefert, lässt sich daher nicht nur als ein sentimentaler Blick zurück in die Geschichte verstehen. Vielmehr erweist es sich als ein Blick nach vorne in eine Zeit neuen Wachstums, eine neue «Weltlandschaft».

Vaterländische Visionen

Als die in Preussen überaus beliebte Königin Luise 1810 starb, entwarf Schinkel im Schlosspark Charlottenburg für sie ein Mausoleum in gotischen Formen. Das Bauwerk wäre einer Apotheose der Königin gleichgekommen. Von Engeln flankiert, sollten spitzbogige Pfeilerstellungen den Weg ins lichtdurchflutete Innere des Mausoleums weisen. Auch wenn anstelle von Schinkels gotischer Vision ein klassizistischer Entwurf von Heinrich Gentz unter Mitwirkung Schinkels verwirklicht wurde, zeigte sich Schinkel bereits hier als ein früher Historist. Souverän wusste er sich bei seinen Entwürfen unterschiedlicher Stimmungen und Architekturstile zu bedienen. Eine gleichermassen poetische wie dramatisch anmutende Stimmungsmacht kennzeichnet auch seine grossformatigen Tafelbilder «Gotischer Dom am Wasser» (1813) und die «Mittelalterliche Stadt an einem Fluss» (1815). Die übersteigerten gotischen Architekturen standen dabei in den Jahren der Befreiungskriege für eine Rückwendung zum Mittelalter, das als Zeitalter einer nationalstaatlichen Einheit verklärt wurde.

Nicht umsonst wählte Schinkel für sein 1821 eingeweihtes Denkmal für die Befreiungskriege auf dem Berliner Kreuzberg die gotische Formensprache. Dass der Geist der Gotik bei Schinkel gleich neben dem der Antike seinen Platz fand, verdankte er ebenfalls Friedrich Gilly. Auf einer gemeinsamen Reise mit seinem Vater, dem Landbaumeister David Gilly, zeichnete der junge Gilly 1794 die Ruine der mittelalterlichen Marienburg in Ostpreussen und schuf so die Grundlage für Erhalt und Restaurierung des zum Abbruch stehenden Monuments. Gillys Engagement für die Marienburg erweist sich als Geburtsstunde des Denkmalschutzes in Preussen, für den sich auch Schinkel in der Folge einsetzte und dem sich die Berliner Ausstellung gleich zu Beginn ausführlich widmet.

Schinkels Erbe

Wie sehr Schinkel nicht nur in seiner Zeit lebte, sondern ihr auch immer wieder voraus war, wie sehr er sich aktuellen architektonischen Entwicklungen öffnete, unterstreichen seine Aufzeichnungen zu Industriebauten, die er auf seiner gemeinsamen Englandreise mit Christian Peter Wilhelm Beuth 1826 kennenlernte. Kongenial übersetzte er diese reduzierten, klar gegliederten Architekturvorbilder in seinen Entwurf für die ziegelsichtige Bauakademie in Berlins Mitte, in der er später selbst lehrte und lebte.

So umfangreich die Berliner Schinkel-Ausstellung auch ist, so vermag sie Schinkels Schaffen doch nur zu umreissen. Seit der Schinkel-Forscher Paul Ortwin Rave den Startschuss dazu gab, wird Schinkels Lebenswerk in Einzelbänden aufgearbeitet und veröffentlicht. So widmete sich Eva Börsch-Supan 2011 im mittlerweile 21. Band der Reihe den «Arbeiten für König Friedrich Wilhelm III. von Preussen und Kronprinz Friedrich Wilhelm IV.». Es gäbe also viel Material vorzustellen. Diese Fülle führte dazu, dass die Ausstellung leider nur allzu knapp auf Schinkels Erben eingeht und den späteren Umgang mit seinen Bauten sowie ihren derzeitigen Zustand ausblendet. Derweil lässt sich an den Potsdamer Turmvillen ebenso wie an den zahlreichen Berliner Backsteinschulen und Markthallen ablesen, wie tiefgreifend Schinkel und seine Schüler Berlin und sein Umland geprägt haben, aber auch ferne Orte, wenn man etwa an Gustav Albert Wegmanns Alte Kantonsschule in Zürich denkt.

Auch die Frage nach der Bedeutung Schinkels für die Baukunst der Gegenwart wird leider nicht gestellt. Dabei wäre es höchst interessant, zu erfahren, was Schinkel wohl zu der Präsentation seiner Werke am Kulturforum gesagt hätte. Geradezu dramatisch macht die auf drei Räume verteilte Ausstellung nämlich deutlich, wie sehr es den Staatlichen Museen dort an einem angemessenen Raum für grosse Sonderausstellungen fehlt. Wie ein Wurmfortsatz an die Eingangshalle angebunden und durch ein belangloses Treppenhaus voneinander getrennt, werden die heutigen Sonderausstellungsräume dem internationalen Anspruch der Berliner Museen in keiner Weise gerecht. Ein Malus für Schinkels Erben. Die gegenwärtige Diskussion über die Neuordnung der Sammlungsbestände der Staatlichen Museen (NZZ 22. 9. 12) muss daher unbedingt den Neubau eines Sonderausstellungstraktes mit einbeziehen — Platz wäre dafür am Berliner Kulturforum mehr als genug.

Bis zum 6. Januar 2013 im Kupferstichkabinett am Kulturforum in Berlin und anschliessend in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München. Katalog: «Schinkel – Geschichte und Poesie». Hirmer-Verlag, München, 360 S., € 39.90.