Die Rolle der Religion
Ein von Barbara Becker-Cantarino herausgegebener Sammelband über Christentum und Islam in den globalen Wanderungsbewegungen
Von Rüdiger Scholz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Einwanderung von Personen islamischer Religion in die westliche, christlich bestimmte Welt und das globale Agieren islamischer wie islamistischer Gruppen ist seit langem ein ganz großes internationales Thema. Allein in deutscher Sprache sind im letzten Jahrzehnt über 300 Bücher dazu erschienen. Für Barbara Becker-Cantarino ist der ethnisch-religiöse Konflikt der bedeutendste seit Ende des Kalten Krieges. Sie hat zu dem Thema einen Sammelband mit Aufsätzen herausgegeben, die in kürzerer Form ursprünglich als Vorträge auf einer Konferenz des Humboldt Kollegs der Ohio Universität im April 2011 gehalten wurden. Der Band versteht sich als Beitrag zur Versachlichung der internationalen Diskussion über die Rolle der Religion bei den Wanderungsbewegungen.
Das Interessanteste dieses für den englisch sprechenden Raum bestimmten Bandes ist die Idee, eine Verbindung herzustellen zwischen der Einwanderung von islamisch geprägten Gruppen in die westliche Welt im 20. und 21. Jahrhundert und dort die Bildung von Zellen, Gettos, Parallelgesellschaften zu vergleichen mit der christlichen weltweiten Missionierung seit dem 16. Jahrhundert, etwa in Amerika oder Südostindien.
Das kühne Unterfangen, Distanz zur aktuellen Islamdebatte herzustellen durch die Frage, wie eigentlich das Eindringen christlicher Zellen etwa in die indianische Kultur in den Jahrhunderten seit der Entdeckung Amerikas vor sich ging, schlägt einen weiten Bogen von den Religionskriegen des 16. Jahrhunderts in Europa über die protestantischen und protestantisch pietistischen Einwanderer nach Nordamerika im 17. bis 19. Jahrhundert bis zu den Einwanderern aus islamisch geprägten Gesellschaften nach Deutschland im 20. Jahrhundert. Becker-Cantarino begründet in ihrem Einleitungsaufsatz, dass Deutschland wegen seines großen türkischen Bevölkerungsanteils ausgewählt wird.
Der Blick geht zunächst zurück in die christliche Kolonisierung Nordamerikas. Becker-Cantarinos These lautet, dass es Ähnlichkeiten im missionarischen Impuls der Eroberung und Gemeindebildung zwischen der Besiedlung Nordamerikas im 18. Jahrhundert und der islamischen Migration in Deutschland im 20. Jahrhundert gibt. Die Herausgeberin argumentiert, dass der missionarische Impuls zur Eroberung neuer Räume und der Errichtung neuer Gemeinden bei beiden Religionen gleich ist.
Die Rolle der Religion in den Missionierungen und Einwanderungen ist das allen Beiträgen gemeinsame Thema. Die Bedeutung der Religion nimmt zu. Die „Rückkehr der Religion“ bei ethnischen Gruppen ist signifikant, Glaubenssysteme gewinnen an Einfluss, auch die Bedeutung von Religion auf Menschen allgemein verstärkt sich. In Abgrenzung zu der einheimischen Bevölkerung beziehen etwa islamische „Gast“-Arbeiter ihre Identität aus ihrer Religion, die als Begründung für ein anderes Familienleben mit anderer Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen als in europäischen Industriegesellschaften dient.
Die Einwanderung im Zeitalter der globalen Kommunikation hat eine gänzlich neue Dimension angenommen. Die globale Mobilität von Geschäftsleuten, Touristen und Abenteurern schafft Probleme. Überall machen sich islamisch geprägte ethnische Gruppen bemerkbar. Die Einheit von Religion und Staat, etwa im Iran, doch bei Islamisten überhaupt, gerät in Konflikt mit der in den westlichen Zivilisationen vollzogene Trennung von Staat und Kirche. Damit kann die Haltung des Laissez faire in der Religionsausübung, etwa in den USA und Deutschland, nicht mehr aufrecht erhalten werden. Die Integration islamischer Volksgruppen in die westliche Zivilisation scheitert. In diesem Prozess bleibt die Religion ein bedeutender Faktor in den Einwanderungsbewegungen.
Die erheblichen Schwierigkeiten sind allgegenwärtig, trotz der Unterschiede säkularer, traditionaler und fundamentalistischer Haltung islamischer Gruppen. Das Problem sind weniger Gottesglauben oder Jenseitsvorstellungen als vielmehr religiöse Begründungen für die Herrschaft der Männer über die Frauen, die Verletzung des Menschenrechts islamischer Frauen auf Selbstbestimmung in Kleidung, Berufs- und Liebeswahl bis hin zu der Ermordung derer, die dieses Recht in Anspruch nehmen, durch Mitglieder der eigenen Familie.
Die erste Hälfte des Buches umfasst Beiträge zur christlichen Missionierung und erörtert Positionen führender Pietisten zur Gestaltung protestantischer Missionierung in Übersee. Besonderes Augenmerk liegt auf der protestantischen deutschen Einwanderung und Kolonisierung. Die Evangelisation war verbunden mit Erforschung, Eroberung und Kolonisierung. Becker-Cantarino beleuchtet in ihrer Einleitung einen Herrnhuter Pietisten, David Zeisberger (1721-1808), als Beispiel für eine Haltung, die Amerika groß gemacht hat. Wolfgang Breul stellt den theologischen Hintergrund der weltweiten Missionierung von August Hermann Francke, dem Hallenser Pietisten, und Nikolaus Zinzendorf und seiner Herrnhuter Brüder dar. Der Beitrag von Pia Schmid widmet sich dem Herrnhuter Missionar John Heckewelder (1743-1823), der viele Jahre unter den Indianern der Eastern Woodlands lebte und missionierte. Die zentrale These lautet, dass das ‚eschaton’, die Erwartung des tausendjährigen Reiches, sich immer stärker auf die irdische Gegenwart verschob und umfangreiche Aktivitäten zur Umgestaltung des irdischen Lebens auslöste, also auch die Missionierung.
Das führte zur Vision eines protestantischen Weltreiches im 18. Jahrhundert. Ulrike Gleixner zeigt das an der Missionsgründung in Südost-Indien, initiiert vom dänischen König Frederick IV. in Verbindung mit dem Waisenhaus in Halle und der Londoner Gesellschaft zur Förderung Christlicher Bildung. Ergänzt wird dieses Bild durch Ulrike Strassers Beitrag zur deutschen jesuitischen Missionierung. Sie beleuchtet besonders den „Neuen Welt-Bott“, die von dem Jesuiten Joseph Stöcklein herausgegeben Zeitung, in der die Berichte aus Spanisch-Indien den Hauptteil der 4.500 Folioseiten ausmachen.
Der Komplex wird abgeschlossen durch eine informative Studie über die Pietistin Charlotte Nebel, deren Hauptwerk „Der große Versöhnungstag“ kurz nach ihrem Tod 1761 erschien und verbreitet wurde, ein tief religiös spiritistisches Werk. In der 1853 erschienenen englischen Übersetzung, der noch mehrere folgten, fand das Buch auch im internationalen Pietismus weite Verbreitung.
Der zweite Teil des Sammelbandes thematisiert die Verbreitung des Islam. Historische Tiefe gewinnen die Erörterungen durch Rebekka Habermas’ Darstellung der Islamdiskussion in Deutschland zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Islam spielte eine große Rolle bei den imperialistischen Überlegungen des deutschen Kaiserreiches. Er galt als Religion von Primitiven, als Hauptmerkmal der Muslimischen Welt wurde die Sklaverei angesehen. Nicht ganz klar ist, ob die deutsche Islam-Debatte von 1905/10 Auswirkungen auf gegenwärtige differenzierte Argumente gegenüber Einwanderern mit islamischer Religion hat.
Der Verbindung von Rassismus und kollektiver Identität in der Islam-Diskussion des neuen Jahrtausends geht Claudia Breger nach. Ihr Ansatz ist der Topos des christlichen Universalismus als Anspruch der westlichen Staaten. Konstatiert wird erneut die Zunahme der Bedeutung der Religion weltweit, die Jürgen Habermas zur These von der „postsäkularen Gesellschaft“ bewegte, die sich sowohl an Ostdeutschland nach dem Fall der Mauer und an der Post-Atatürk-Türkei zeige. Nach einer Studie der SPD-nahen Friedrich Ebert-Stiftung waren 2008 fast 60 Prozent der Deutschen dafür, die Ausübung der islamischen Religion erheblich einzuschränken. Wie der Aufsatz von Thomas Schmitt zusammenstellt, passt in diesen Zusammenhang die starke Ablehnung von Moscheen in ihren christlichen Vierteln und Städten.
Breger kann die daraus resultierende These verstehen, dass die religiöse Identifikation ein Deckmantel für puren Rassismus ist, wenn sie diese These auch für eine zu einfache Erklärung hält. Ihr eigener Standpunkt: Die lange Geschichte der Berührungen zwischen christlicher und islamischer Welt demonstriere die Absurdität der gegenwärtigen anti-islamischen Rhetorik. Die Widersprüche in den Identitäten müßten sich historischer Lösungen, etwa in der Aufklärung, bewußt werden.
Die Hoffnungen der Beiträger und Beiträgerinnen richten sich auf die Säkularisierung islamischer Gesellschaften und damit auf einen Islam als Privatreligion. David Gramling, der zwei Jahre in Ankara gelebt hat, akzentuiert das Aufweichen islamischer Lebenstraditionen. Die Tendenz von Gramlings Darstellung ergibt sich aus dem resümierenden Satz, der, frei übersetzt, so lautet: "Der weiten Bandbreite von Arten, das muslimische Kopftuch zu tragen, entspricht die große Bandbreite sozialer, generationsbedingter, geographischer, familialer und individueller Verhaltensweisen." Die Geschichte der laizistischen türkischen Republik weist den Weg in die Säkularisierung.
Bei der Einwanderung nach Europa aus dem Iran, aus Afghanistan und Pakistan zeigt Kamaal Hague, dass bei und mit diesen Volksgruppen weniger Probleme bestehen, offenbar auch deswegen, weil vierzig Prozent der eingewanderten Iraner erklären, dass sie keiner Religion angehören. Den Abschluss des Bandes bildet die Auseinandersetzung von Karl Ivan Solibakke mit Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“, das 2010 für Aufsehen sorgte. Solibakke zeichnet die öffentliche Diskussion in Deutschland um dieses Buch nach; er ist selbstverständlich auf der Seite der Kritikerinnen und Kritiker.
Der Sammelband besticht durch den weiten Rahmen, der die gesamte Geschichte der Neuzeit umfasst. Alles ist sehr gründlich recherchiert. Man erstaunt, wieviel neue Literatur allein im letzten Jahrzehnt erschienen ist. Hier Leistungen und Tendenzen knapp und informativ darzustellen, ist sehr wertvoll. Allein die Forschungen zum Pietismus sind seit Ritschels dreibändiger Darstellung von 1880/86 uferlos.
Dasselbe trifft auch auf die Islam-Kapitel zu. Der informative Überblick über Positionen und die Literatur wird mit dem kritischen Blick auf fanatische Haltungen geboten. Das Buch plädiert für mehr Verständnis für die islamisch geprägten Einwanderer und einen toleranteren Umgang mit deren Lebensweise. Das ist besonders in Deutschland und in den USA nach 2001 eine wichtige Position.
Die eingangs gestellte Frage, was man von der christlichen Missionierung vergangener Jahrhunderte für die Ausbreitung des Islam lernen könne, wird allerdings nicht mehr formuliert. Es fehlt ein auswertendes Kapitel, das die beiden Teile des Buches zusammenführt. Die Konsequenzen bleiben der Reflexion von uns Lesenden überlassen. Lernen kann man, dass die Christianisierung des Globus vielfach gewaltsam verlief und dass Religionskriege wie etwa gegenwärtig im Irak und religiös begründete Konflikte zwischen Weltreichen keine Besonderheit der Weltgeschichte sind. Der religiöse Faktor bestimmte im 16. und 17. Jahrhundert Wanderungsbewegungen in Europa massiv. Die Wanderung von Muslimen im 20. und 21. Jahrhundert hat jedoch zuallererst ökonomische Ursachen, der religiöse Faktor dient offensichtlich zur Stabilisierung der Identität der kulturellen Tradition der Eingewanderten.
Bei dem Werben um Toleranz für die friedlichen Teile von Islamgesellschaften kommt der Kernpunkt des Konflikts in den westlichen Demokratien etwas zu kurz: das Problem der Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen. Die sogenannten Ehrenmorde sind nur der Gipfelpunkt der massiven Gewalt von muslimischen Männern gegenüber Frauen der eigenen Familie. Die Darstellung der Kopftuch- und Burka-Problematik von David Gramling verkennt, dass hier ein Zwang auf Frauen ausgeübt wird. Das muslimische Kopftuch, schon gar die Burka und auch die Ganzkörperkleidung, sind nur scheinbar religiöse Symbole, in Wirklichkeit sind sie Symbole der Unfreiheit von Frauen. Jedes wie immer auch neckisch öffentlich getragene muslimische Kopftuch ist ein Schlag ins Gesicht der türkischen, der iranischen oder der afghanischen Frauenbewegung, eine Beleidigung aller Frauen auf der Welt.
Nicht angesprochen wird, dass muslimische Einwanderer aus dem Osten der Türkei in Deutschland versuchen, eine eigene Gerichtsbarkeit neben der deutschen aufzubauen und damit Straftäter der deutschen Justiz zu entziehen. Problematisch ist ferner, dass Imame sich nicht auf die private Religionsausübung beschränken, sondern sich an der Unterdrückung muslimischer Frauen, die westlich leben wollen, beteiligen. Ein Problem ist auch, mit welcher aggressiven Verachtung muslimische Männer häufig über deutsche Frauen reden. Und: Viele deutsche Frauen haben den begründeten Verdacht, dass deutsche Männer unter dem Stichwort Multikulturalität nichts gegen die muslimische Unterdrückung von Frauen haben, sie im Gegenteil gern tolerieren.
Nicht genannt wird die oft mangelnde Solidarität muslimischer Arbeiter und Arbeiterinnen mit ihren deutschen Kollegen und Kolleginnen. Die Ghettobildung von Muslimen in größeren Städten, etwa Frankfurt oder Dortmund, führt zu Parallelgesellschaften, deren Mitglieder sich nicht am Kampf deutscher Arbeiter für ihre Rechte und mehr Lohn im Betrieb beteiligen, sondern deren Kampf durch Willfährigkeit gegenüber den Arbeitgebern unterlaufen. Das führt natürlich zu Wut bei deutschen Arbeitern.In einem Buch, das für Toleranz in der Islamfrage wirbt, sollten solche Probleme aufgegriffen werden. Barbara Becker-Cantarino reißt in ihrer Einleitung einige Themen zwar an, aber eine etwas genauere Darstellung der Probleme fehlt in dem sonst hervorragenden Sammelband.
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