Wuchernder Schauplatz der Psyche
Wols und die „ganz andere Kunst“ – neue Sichtweisen auf sein Werk
Von Klaus Hammer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAußer einem Kreis von Eingeweihten ist er hierzulande wohl weniger bekannt, der in Berlin geborene, in Dresden aufgewachsene und bereits vor dem Zweiten Weltkrieg nach Frankreich emigrierte Fotograf, Zeichner und Maler Alfred Otto Schulze, der sich seit 1937 Wols nannte – mit diesem Namen hatte ihn ein verstümmeltes Telegramm erreicht. Die offizielle Anerkennung blieb ihm zu Lebzeiten versagt. Sein Werk war erst nach seinem Tod (1951 starb er 38-jährig) einflussreich geworden. Obwohl sein Schöpfer der einsamste, menschenscheueste Maler der Welt war, übernahm es so etwas wie eine Vermittlerrolle zwischen der französischen Avantgarde und einer sich rasch formierenden westdeutschen Nachkriegskunst. Die jungen Künstler der Bundesrepublik wurden in den 1950er-Jahren vornehmlich von der gegenstandsentbundenen Fantasie des Informel beherrscht, dessen abstrakt-rhythmische Malgesten und spontane Kalligrafien man zugleich als Ausdruck der wieder gewonnenen realen Freiheit empfand. 1965/66 fanden in Frankfurt am Main und 1973 in der Westberliner Nationalgalerie die ersten großen Wols-Retrospektiven statt. Und nunmehr, zum 100. Geburtstag des Künstlers, zeigt die Kunsthalle Bremen bis zum 11. August 2013 (anschließend geht die Ausstellung nach Houston in den USA weiter) eine ebenso repräsentative wie exquisite Schau von Gemälden wie Papierarbeiten aus mehr als 15 Jahren – von den surrealistisch beeinflussten Anfängen bis zum eindrucksvollen malerischen Spätwerk.
Die Positionen von Wols wurden bisher nur als Widerspiegelung und Kommentar zu den Katastrophen des Zeitgeschehens und den persönlichen Lebenswirren gesehen. Nunmehr, 60 Jahre nach seinem Tod, sei eine Neudeutung fällig gewesen, meinen die Bremer Ausstellungsmacher. Man will die formale Vielfältigkeit seines Werkes, die innovative und inspirierende Produktivität seines Werkes vor Augen führen – und das scheint in der Tat gelungen zu sein.
Der Katalog ist sowohl ein vorzüglicher Bildband, in dem man wunderbar blättern und seine Entdeckungen machen kann (die in Bremen präsentierten Fotografien 1932-1941, Arbeiten auf Papier 1933-1951 und Gemälde 1946-1951 werden großformatig dargestellt) als auch ein gediegener Textband, der neue Sichtweisen auf das Werk des Künstlers einbringt. Ewald Rathke – er hat sich schon seit vielen Dezennien mit Wols beschäftigt – überdenkt bisherige Positionen der Wols-Forschung. Anstelle des Zugangs zum Werk über die Biografie stellt er dar, wie dem Künstler aus dem Fundus seiner Erinnerungen die Motive der Bilderfindungen zuströmen, wie dieser Streifzüge mit ungewissem Ausgang in die Terrra incognita seiner Gedanken und Erinnerungen unternimmt und dabei in seinen Erkundungen immer wieder neue Wege einschlägt. Rathkes Fazit: „Wer über Wols schreibt, wird immer an seiner Legitimation zweifeln, denn Wols hatte sich Analysen und Erklärungen verbeten. Wenn aber seine Kunst von uns verlangt zu sehen, was ist, so kann sie Anregungen und Anstöße geben, um die Augen überhaupt zu öffnen, um zu sehen, was ist“.
Toby Kamps von der Menil Collection in Houston, die die größte Museumssammlung von Wols-Arbeiten besitzt, bringt wesentliche Überlegungen der amerikanischen Sicht auf das Werk des Künstlers ein. Wols Werk weist nicht nur auf neue, vorwärtsgerichtete Wege, sondern es ist auch eine nach innen gewandte Kunst. Er hat zwei gegensätzliche Strömungen in der Kunst – die der Abstraktion und die des Surrealismus – zusammengebracht und in eine neue, aus beiden Strömungen gespeiste Sprache überführt. Patrycja de Bieberstein Ilgner, die seit einigen Jahren ein Wols-Archiv an der Karin und Uwe Hollweg Stiftung in Bremen erarbeitet, stellt Überlegungen zu Wols, Paul Klee und dem Ethnologen Leo Frobenius an, in dessen Frankfurter Institut der junge Wols gearbeitet hat. Im surreal-gegenständlich geprägten Frühwerk entdeckt sie frappierende Ähnlichkeiten zu den Felsdarstellungen, die Frobenius von seinen Expeditionen mitgebracht hatte. Katy Siegel, Professorin of Art History und Chief Curator, Hunter College, New York, stellt den Künstler in den Kontext der Kunstströmungen des 20. und 21. Jahrhunderts. Wols’ Vermächtnis, sein Werk und seine künstlerische Leistung waren in dem Koffer voller Kieselsteine und den Stücken Papier enthalten, auf die er zeichnete und schrieb.
Wols’ Schaffen setzte Ende der 1930er-Jahre ein und gründete auf einer bereits gefestigten surrealistischen Tradition. Es gelang ihm, die „automatische Handschrift“ der Surrealisten zum vegetabil wie organisch wuchernden Schauplatz seiner Psyche zu machen. Malen wurde für ihn der verzweifelte Rückzug zu sich selbst, die existentielle Selbstbehauptung als Selbstverlust, das Erleiden eines immer wieder gescheiterten Aufbrechens, eines ständigen Zurückfallens auf sich selbst bis zur Selbstzerstörung. Das macht die ungeheure dramatische seelische Spannkraft seines Werkes aus. Wols wollte durch Paradoxie die Welt neu deuten. Seit 1939 trug er sich mit dem nie realisierten Projekt eines Gesamtkunstwerkes aus Kunst, Wissenschaft und Philosophie, eines kleinen, multimedialen „Welttheaters“, das ihm als Gegenentwurf zur eigenen Isolation und Lebensgefährdung, als Sinnbild einer aus den Fugen geratenen Welt dienen sollte. Dabei erfolgte die Beschreibung der realen und surrealen Sachverhalte mit höchster Akribie und Präzision. Die Umkehrungen gegenüber der Realität sind in den (miniaturhaften) Größendimensionen, in der eigenmächtigen Farbigkeit und in der funktionellen Widersprüchlichkeit der Bildelemente zu suchen.
Wenn Wols zeichnete und aquarellierte, dann kam es zu den absonderlichsten Ausgeburten der Fantasie, die aber doch immer als Möglichkeiten des Lebens auf dieser Erde und nicht als „höhere“ Wirklichkeiten, als etwas Surreales verstanden wurden. Sie stehen auf der Erde, auf einer irdischen Bühne oder schweben in einer entrückten Traumwelt, in der nichts tatsächlich, aber alles möglich ist. Wols hat der äußeren Erscheinungswelt immer eine „andere“ Welt gegenübergestellt. Es sind weiträumige Landschaften mit begehbaren Wegen, betretbaren Häusern, seetüchtigen Schiffen und wehrhaften Türmen – und doch gehen sie ungewohnte Verbindungen ein, überlagern sie sich und widersetzen sich einer schlüssigen Deutung. Dann wieder verwandelte seine Fantasie den Anblick keimender Kartoffeln oder den von Fleischstücken in fantastische Köpfe, Gesichte, Geschwüre. In ihren Wucherungen lauern versteckte Augen, aus ihnen bluten Wunden oder verbergen sich vaginale Gestaltformen. Qualvoll an die Erde gewurzelte Wesen, gefesselte Menschenbündel, blütenhafte Gewächse in der Verwesungsform, Blumen des Bösen, unheimlich menschenleere Städte, von monströsen Ungeheuern bewohnte Inseln dokumentieren Visionen des Entsetzens.
Mit den 1940er-Jahren gewann zunehmend die Linie ihr selbständiges Leben gegenüber den Gegenständen, die nur noch selten direkt gezeichnet werden, sondern sich aus den Liniengespinsten traumhaft-fantastisch wie von selbst ergeben, neben aller Poesie jedoch beunruhigend und bedrängend. Seine Linien sind spontane Bewegungen der Hand, die aus der Imagination schöpft, die innere Gesichte niederschreibt. „Die Bewegungen der Finger und der Hand genügen, um alles auszudrücken. Ein winziges Blatt Papier kann die ganze Welt enthalten“. Bei Wols entwickelte sich aus dem formlosen Surrealismus die informelle Malerei. Dieser erst in der Nachkriegszeit gebräuchliche Begriff fasst die Abkehr von der geregelten Formstruktur und die Hinwendung zur spontanen Gestik des künstlerischen Schöpfungsprozesses, zu frei erfundenen Zeichen, Flecken, Linien und Strukturen zusammen. In den letzten Jahren lenkte er häufig den Blick in nebelhafte Galaxie-Fernen mit ungewissem Ziel und ungewisser Ankunft. Heftige Linien schießen durch den Bildraum, schließen sich zu Ellipsensegmenten oder Schraffurbündeln zusammen oder laufen in schriftzugähnlichen Schnörkeln aus. Ungeheure Ereignisse spielen sich im Bildraum ab
So ist das großformatige Ölbild „It’s All Over“ (Es ist alles vorbei, 1946/47) als Symbol einer atomaren Katastrophe gedeutet worden. Als er 1947 die gerade entstandenen großformatigen Ölbilder sah, formulierte der Maler George Mathieu deren Botschaft so: „Wols hat diese vierzig Leinwände mit seinem Drama, mit seinem Blut gemalt. Es handelt sich um vierzig Momente aus der Kreuzigung eines Menschen, der die Verkörperung einer Reinheit, Sensibilität und Weisheit war, die der Schöpfung selbst zur Ehre gereichen“.
Zeit seines Lebens hat Wols Segelschiffe gezeichnet, manche mit Fantasiestädten beladen, die über imaginäre Meere meist unbemannt dahinziehen oder direkt auf den Betrachter zusteuern. Er liebte Rimbauds „Bateau Ivre“ über alles und trug lange Zeit Travens „Totenschiff“ mit sich herum. Das Bild des trunkenen Schiffes mit der Last des sich selbst zerstörenden Lebens verfolgte ihn immer wieder. Wenige Tage vor seinem Tode entstand das Gemälde „Das trunkene Schiff“. Mit dem Schiff kommt uns ein Gesicht entgegen, das der Schiffsstruktur symbolhafte Züge gibt: das „Gesicht eines verbannten Engels“ hat Verlaine Rimbauds trunkenes Schiff genannt.