Eggers‘ Monographie ist eine präzise Studie über eine bisher weitgehend unerforschte Epoche des (Hallen-)Handballs und bietet zudem Ansätze für ein verbessertes Verständnis von dessen Geschichte vor dem Hintergrund deutsch-deutscher Zweistaatlichkeit. Anlass der Veröffentlichung war das 40. Jubiläum des Weltmeistertitels, den die bundesdeutsche Männernationalmannschaft am 05. Februar 1978 in Dänemark errang. Erik Eggers, Sporthistoriker und -journalist, vergleicht die epochale Zäsur, die dieser Titelgewinn für die weitere Entwicklung des westdeutschen Handballs darstellte, mit dem „Wunder von Bern“ der Fußballer von 1954, was die historisch-politische Bedeutung dieses Ereignisses allerdings überhöht. Der Gewinn der Handball-WM war vielmehr Anfang und Ende einer Entwicklung: Nach dem desaströsen Abschneiden des DHB-Teams bei der olympischen Premiere des Hallenhandballs 1972 in München und der Weltmeisterschaft 1974 in der DDR wurde die Sportart in nur vier Jahren professionalisiert und etabliert. Wie die „Helden von Bern“ 1954 prägten die Protagonisten der Mannschaft von 1978 die international erfolgreiche Entwicklung des bundesdeutschen Vereinshandballs, die nach dem WM-Sieg einsetzte und durch die Vereine VfL Gummersbach und TV Großwallstadt dominiert wurde. Dabei erreichte der WM-Titelgewinn der Handball-Männer aber bei weitem nicht die gesamtgesellschaftliche Dimension des Fußball-Titels von 1954, der später als „wahre Geburtsstunde der Bundesrepublik“ interpretiert wurde. Die Bedeutung des 05. Februar 1978 blieb sportartspezifisch und Ausdruck einer sportlichen und sportpolitischen Entwicklung der Bundesrepublik dieser Zeit: der „Versportlichung des Sports“.
Von 1960 bis 1970 verdoppelte der Deutsche Sportbund seine Mitgliederzahlen. Auch der bereits 1961 gegründete „Bundesausschuss zur Förderung des Leistungssports“ sorgte zwischen 1972 und 1988 dafür, dass der bundesdeutsche Sport Anschluss an die internationale Entwicklung halten konnte. Neben medialer Aufbereitung und Expansion als Wirtschaftsfaktor setzte die Verwissenschaftlichung des Sports ein: 1968 wurde an der Universität Tübingen die erste Sportprofessur in der Bundesrepublik eingerichtet. In diesen Jahren vollzog sich auch der Wechsel vom Feld- zum Hallenhandball und die damit einhergehende Professionalisierung des Sports. Die forcierte Modernisierung des bundesdeutschen Leistungssports war Ausdruck des sportlich wie politisch motivierten Auftrags, im Konkurrenzkampf gegen das Staatssportsystem der DDR zu bestehen. In der heutigen gesamtdeutschen Erinnerung an den „Mythos ´78“ konkurriert dieser allerdings mit dem Olympiasieg der DDR-Auswahl der Männer in Moskau 1980 – damals gegen den verhassten Bruderstaat Sowjetunion. Somit bleibt der WM-Titel von Kopenhagen 1978 ein – nämlich „der westdeutsche“ – Meilenstein einer damals getrennten Geschichte der „deutschen Sportart“ Handball. Der Bezug, den Eggers zwischen Sport und Systemkonflikt herstellt, zeichnet sein Buch in besonderem Maße als sporthistorisches Werk aus.
Eggers Publikation geht weit über die übliche Publizistik über sportliche Großereignisse hinaus. Neben der Schilderung der „sporthistorischen Sensation von 1978“ wird die Entwicklung der bundesdeutschen Nationalmannschaft 1974–1978 rekonstruiert, in den zeithistorischen Kontext eingebettet und vor diesem bewertet. Die Kapitel des Buchs orientieren sich an der Chronologie herausragender sportlicher Ereignisse, die Anlass und Meilensteine für das Werden und Wachsen einer Mannschaft sind: der Mannschaft „der 78er“, aus deren Perspektive der Autor die sportliche Entwicklung einer gesamten Sportart erzählt. So nimmt die Schilderung der rein sportlichen Ereignisse des WM-Turniers in Dänemark 1978 nur 36 Seiten ein. Umfangreicher ist mit 64 Seiten die Vorgeschichte seit dem WM-Debakel 1974 in der DDR, das für den Autor die Systemkrise im deutschen Handball dieser Zeit symbolisiert. Der bundesdeutsche Handball sei durch diese WM, obwohl der Verband sich stets „als der Mittelpunkt der Handballwelt“ betrachtet habe, mit der brutalen Wirklichkeit des sportlichen Niedergangs konfrontiert worden. Kurz gesagt: Der westdeutsche Handball hatte den Anschluss an die Entwicklung vom Feld- zum Hallenhandball verpasst, der 1972 erstmals olympisch geworden war. Die leistungssportliche Struktur, von den Verbandsstrukturen bis hin zum alltäglichen Training der Spieler war nicht mehr zeitgemäß. Die Einsicht in diese katastrophale Ausgangslage traf den bundesdeutschen Handball umso mehr, weil es die osteuropäischen (Handball-) Nationen – vor allem auch die DDR – waren, die international den Ton angaben.
Vor diesem Hintergrund widmet sich der Autor der Entstehung einer Mannschaft, die aus jungen, international unerfahrenen Spielern bestand und sich 1975 und 1976 gegen die DDR in zwei sporthistorisch denkwürdigen Qualifikationsspielen bewährte, die den Kalten Krieg auf sportlichem Parkett eindrucksvoll fortsetzten. Ihnen folgte 1976 der erste sportliche Erfolg bei den Olympischen Spielen in Montreal und die Formierungs- und Vorbereitungsphase der Mannschaft auf die Weltmeisterschaft 1978. In seiner Schilderung gelingt es dem Autor, ein Porträt bundesdeutscher Leistungssportler der 1970er-Jahre zu entwerfen, die sich selbst zunehmend als sportliche Profis und politische Akteure mit öffentlicher Ausstrahlung wahrzunehmen begannen, im Vergleich zu den „Staatsportlern“ des Ostblocks aber als pure Amateure angesehen werden mussten.
Auch das letzte Viertel des Buchs ist aus der Perspektive der Spieler geschrieben. Hier werden Fragen beantwortet, die in der Regel in Büchern über sportliche Großereignisse nicht vorkommen: wie die Spieler den Titelgewinn selbst erlebten, inwieweit sich das Leben der Spieler durch den oder nach dem Titelgewinn veränderte oder wer von der Vermarktung der Weltmeisterschaft am meisten profitierte.
Eggers sieht Anlass und die Ursache für den wundersamen Aufstieg des DHB-Teams und damit der Sportart Handball in der Person von Bundestrainer Vlado Stenzel, der nach langen internen Querelen im April 1974 verpflichtet wurde. Dem „Magier“, wie dieser in der Öffentlichkeit genannt wurde, widmet der Autor im Laufe seines Buchs eine fast komplette Biografie. Er zeigt auf, dass Stenzel, der seit Ende der 1960er-Jahre den Hallenhandball in Jugoslawien maßgeblich entwickelt und das jugoslawische Olympiateam 1972 zur absoluten Dominanz geführt hatte, aus eigenem Antrieb deutscher Bundestrainer werden wollte; dabei gelingt es Eggers, die Entwicklung der Sportart Handball in Deutschland anhand des Lebensbilds von Stenzel zu erklären. Dessen extrovertierter, teilweise unberechenbarer Charakter, gleichzeitig aber seine für damalige Verhältnisse fachlich-innovative Kreativität und Konsequenz seien für den bundesdeutschen Leistungssport, in diesem Fall den Handball, ein Schock gewesen. Seiner Expertise und Persönlichkeit sei es zu verdanken, dass sich die traditionellen Strukturen im Handball zu bewegen begannen. Angetrieben von einer großen Portion persönlicher Eitelkeit, gepaart mit viel Mut und Geschick, war er der Motor der Professionalisierung.
Damit wird klar, dass das Buch nicht dem klassischen Schema der Nur-Berichterstattung eines rein sportlichen Großereignisses folgt. Ganz im Gegenteil: Die persönlichen Geschichten der Spieler und des Trainers und die gesellschaftspolitischen Verhältnisse der 1970er-Jahre nehmen deutlich mehr Raum ein. Somit erreicht der Autor ein vertieftes Verständnis bei den Leser/innen für die Entwicklung einer Sportart, die in diesem Fall Spiegelbild der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Zeiten des deutsch-deutschen Systemkonflikts war. Ihm gelingt es, einen originären Beitrag zur Geschichte des Handballsports beizutragen, deren führender Historiker und renommiertester Kenner er selbst ist. Dazu wertete er bisher unerschlossenes Quellenmaterial aus, vor allem aus Privat-, Vereins- und Verbandsarchiven, wobei von besonderer Bedeutung für Eggers der Einblick in Trainingspläne und -unterlagen sind, die Aufschluss über die tatsächlich sportlich-professionelle Entwicklung der Sportart geben. Neben den langjährigen Recherchearbeiten, deren Ergebnisse in den Band eingeflossen sind, ist die Kontaktaufnahme des Autors zu den WM-Spielern von 1978 und Trainer Vlado Stenzel bemerkenswert, die ihn nicht zu unkritischer Distanz verleitet haben. „Mythos ´78“ bezieht den aktuellen Forschungsstand zur Geschichte des Handballs ein, insbesondere Werke, die sich mit Sport im Kalten Krieg und deutsch-deutschem Verhältnis auseinandersetzen. Abseits von der offiziellen sportpolitischen Linie und dem nach innen propagierten Selbstverständnis von „Sport als Instrument der Politik“ in der DDR und einem „unpolitischem Sport“ in der Bundesrepublik, kann der Autor herausarbeiten, wie diese offizielle Linie im Alltag des Sports aufgeweicht wurde.
Fazit: Eggers fügt der Erforschung der Geschichte der Sportart Handball ein neues Kapitel hinzu. Für das Verständnis der Entwicklung des Hallenhandballs in der Bundesrepublik und des bundesdeutschen Leistungssports in den 1970er-Jahren im Kontext der Systemauseinandersetzung mit der DDR leistet das Werk einen wesentlichen Beitrag und zeigt die Desiderate der (politischen) Sportartengeschichte auf: Eine historische Aufarbeitung in Form von Monografien unter anderem zum Handball im Nationalsozialismus, der Nachkriegszeit, der DDR oder in der restlichen Epoche des Kalten Kriegs stehen noch aus.