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Europa
Ruf nach mehr Demokratie

Europa ist schon immer ein Projekt der Eliten gewesen, meint der Historiker Wilfried Loth in seinem Buch "Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte". Er fordert mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung - gerade gegenüber einer zunehmend eurokritischen Öffentlichkeit.

Von Jörg Münchenberg |
    Die Europäische Union ist kompliziert, die Interessenlage vielseitig, und die Entscheidungsprozesse sind selten transparent. Wer dennoch wissen will, warum das so ist und wie die Europäische Union funktioniert, der sollte das neue Buch des Historikers Wilfried Loth lesen. "Europas Einigung" hat es der Professor an der Universität Duisburg-Essen genannt. Und im Nachsatz heißt es, eine unvollendete Geschichte. Damit steht schon fest: Es ist ein langer und mühevoller Integrationsprozess, den Loth da nachzeichnet. Beginnend mit den Gründerjahren 1948 bis 1957 bis in die Gegenwart - in der vor allem Euro- und Staatsschuldenkrise den europäischen Einigungsbemühungen ihren Stempel aufgedrückt haben. Deshalb ist auch der Rechtfertigungsdruck auf die europäischen Eliten enorm gestiegen - gerade gegenüber einer zunehmend eurokritischen Öffentlichkeit, betont der Historiker:
    "Europa ist in der konkreten Ausgestaltung immer ein Projekt der Eliten gewesen. Und das ist heute nach wie vor der Fall. Was die breiten Kreise der Bevölkerung betrifft, da gab es früher eine allgemeine, aber vage Zustimmung. Die Eliten hatten sozusagen das vage Vertrauen, dass die Europapolitik schon richtig gemacht wird. Das hat sich heute geändert. Weil im Unterschied zu den, sagen wir, 1960er-Jahren heute jeder Bürger von den Entscheidungen der EU betroffen ist und das auch weiß, dass er von diesen Entscheidungen betroffen ist."
    Ausdruck knallharter Interessenpolitik
    Doch bis dahin war es ein langer Weg. Loth beschreibt in seinem Buch ausführlich die unzähligen Treffen zwischen Ministern und den Staats- und Regierungschefs, das zähe Ringen, das verbissene Taktieren, den eigenen nationalen Vorteil immer genau im Blick. Das ist nicht immer leicht zu lesen, wenn sich die Mitgliedstaaten wieder einmal bei den Garantiepreisen für die Landwirtschaft, beim Ringen um die Europäische Sicherheitspolitik oder bei den Verhandlungen zur Währungsunion verhakt hatten. Doch eines macht Loth durch seinen historischen Überblick mehr als deutlich: Die Grundmechanismen der europäischen Integrationsbemühungen haben sich bis heute nur wenig verändert. Es gibt eben nicht, wie der Geschichtsforscher zu Recht schreibt, eine einheitliche Europapolitik, sondern sie ist und war immer auch eine Fortsetzung von unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen auf europäischer Ebene. Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Europa ist neben vielem anderen Ausdruck knallharter Interessenpolitik, in der die Nationalstaaten als maßgebliche Akteure eine zentrale Rolle spielen. Auch wenn inzwischen immer mehr Kompetenzen nach Brüssel verlagert worden sind. Aber die dominierende Rolle der Mitgliedsländer sollten gerade die nicht vergessen, die gerne und laut über Brüssel schimpfen. Gleichzeitig holt Loth mit seinem Buch jedoch auch die zahlreichen Idealisten in die oftmals raue europäische Realität zurück. Die bis in die Anfänge zurückgehe, so der 65-jährige Historiker:
    "Der Gründungsmythos oder die europäische Meistererzählung überhöht die Anfangseuphorie in sehr, sehr starkem Maße. Die Probleme, die Interessengegensätze, waren schon immer sehr groß. Und deswegen hat es trotz anfänglicher Euphorie in verschiedenen Bevölkerungsteilen auch sehr lange gedauert, bis die ersten europäischen Institutionen realisiert werden konnten. Die Römischen Verträge als die Grundlage der heutigen Europäischen Union sind zum ersten Januar 1958 in Kraft getreten. Das heißt ganze 13 Jahre nach dem Ende des Krieges."
    Die entscheidende Rolle einzelner Persönlichkeiten
    Und doch hat die EU immer wieder bemerkenswerte Integrationsfortschritte gemacht, gerade in oder nach schweren Krisen. Diese sind also eine Art Katalysator im Einigungsprozess, was auch die geplante Bankenunion beweist, die inzwischen kurz vor der Vollendung steht - als unmittelbare Konsequenz aus der Finanzkrise. Gleichzeitig hat die Union jedoch ihre maßgebliche Schwäche wie Stärke bis heute bewahrt. Denn die Einigungsbemühungen - und auch das wird durch Loths detailreiche Nachzeichnungen deutlich, sind maßgeblich von Einzelpersönlichkeiten geprägt:
    "Wenn in einer Situation der Diskrepanz zwischen dem gewünschten und machbaren Europa Politiker bestimmte Weichenstellungen vornehmen und diese auch erläutern, dann finden sie Gefolgschaft. Deswegen haben einzelne Persönlichkeiten in der Geschichte der europäischen Integration immer eine entscheidende Rolle gespielt. Ohne einen Robert Schuman wäre die Montanunion nicht zustande gekommen, ohne einen Konrad Adenauer wären die Römischen Verträge nicht zustande gekommen. Ohne einen Helmut Kohl wäre die Währungsunion nicht zustande gekommen."
    Welche Rolle übrigens einmal Bundeskanzlerin Angela Merkel im Einigungsprozess einnehmen wird, das lässt das Buch offen. Europa ist eben eine unvollendete Geschichte. Die aber zugleich, so Loth in seinen Schlussbetrachtungen, an einer wichtigen Wegkreuzung angekommen sei. Denn der bislang so erfolgreiche technokratische Umweg nach Europa sei überholt, heißt es. Stattdessen müssten Entscheidungen transparent, kontrollierbar und korrigierbar werden, fordert der Historiker. Was vor allem eine größere Bürgerbeteiligung bedeutet. Natürlich hat der Reformdruck gerade an dieser Stelle in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Doch wer "Europas Einigung" gelesen hat, weiß am Ende auch - der Ruf nach mehr Demokratie ist eine Kernforderung der europäischen Integrationsgeschichte. Schnelle Erfolge sind also eher nicht zu erwarten.
    Wilfried Loth: "Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte". Campus Verlag, 512 Seiten, 39,90 Euro.