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"Die überforderte Generation"
Der Stress der 30- bis 40-Jährigen

Ausbildung und Beruf, Partnerschaft, Kinder, Familie - das alles lässt sich heute schwerer denn je unter einen Hut kriegen. Es gibt eine "überforderte Generation", davon ist Hans Bertram überzeugt, und so hat er auch sein neues Buch genannt. Ein unerlässlicher Diskussionsbeitrag, findet Rezensentin Monika Dittrich.

Von Monika Dittrich |
    Eine Mutter im Business-Anzug mit ihrem Baby auf dem Arm, in der Hand eine Kaffeetasse.
    Kinder und Karriere: Die heute 30- bis 40-Jährigen wollen alles unter einen Hut bringen. Das führt zu Stress. (dpa / picture alliance / Lehtikuva Elina Simonen)
    Sie schlafen weniger, sie essen schneller, und manche duschen sogar seltener. Die 30- bis 40-Jährigen, insbesondere wenn sie Kinder haben, sind heutzutage im Stress - sie erleben einen Zeitdruck, den weder ihre Eltern noch ihre Großeltern kannten.
    "Sie müssen in fünf Jahren das leisten, was die Elterngeneration in zehn Jahren geleistet hat", sagt Hans Bertram, emeritierter Soziologieprofessor der Berliner Humboldt-Uni und einer der renommiertesten Familienforscher der Republik. Gemeinsam mit Carolin Deuflhard hat er alles ausgewertet, was der Mikrozensus, also die größte statistische Erhebung in Deutschland, über ökonomischen Strukturwandel und familiäre Lebensformen hergibt. Das Fazit der beiden Soziologen: Von jungen Erwachsenen wird in Deutschland zu viel auf einmal verlangt.
    "Höchstleistungen im Beruf bei unsicheren Berufsperspektiven [...] lassen sich nur schwer mit der Entscheidung für Kinder und der Fürsorge für Kinder verbinden."
    Weshalb ein großer Teil dieser Generation kinderlos bleibt. Das muss nicht daran liegen, dass sich die Frauen und Männer bewusst gegen Familie entscheiden - viele verpassen möglicherweise nur den richtigen Zeitpunkt. Die überforderte Generation, das sind Bertram und Deuflhard zufolge etwa die Jahrgänge 1970 bis 1980. Sie sind in einer Zeit des Wohlstands groß geworden und erlebten ein enormes Angebot an Schule, Ausbildung und Studium. Ihre Qualifikation ist allerdings keine Garantie für eine sichere und gut bezahlte Anstellung. Im Gegenteil: Die jungen Berufstätigen sollen flexibel bleiben und mobil, sie sollen ins Ausland gehen, befristete Verträge annehmen, in Projekten arbeiten.
    "Sie brauchen sehr viel länger, um in einen vernünftigen Job zu kommen, und dann entscheiden sie sich auch erst für die Partnerschaft. Die Frage von Kindern, das beginnt heute erst mit dem 28. oder 29. Lebensjahr. Die Elterngeneration fing mit 23 Jahren an, entschied sich für einen Job, konnte dann auch mit 23 heiraten, Kinder bekommen und hat auch mit 35 Jahren diese Familiengründungsphase hinter sich gebracht."
    Das Charakteristische an der überforderten Generation arbeiten die Autoren schlüssig heraus, indem sie diese Kohorte immer wieder mit den Jahrgängen 1930 bis 1940 vergleichen, die der Soziologe Helmut Schelsky schon 1957 als "skeptische Generation" bezeichnet hatte. Ihre Kindheit war geprägt von Diktatur, Krieg und Zerstörung; später blieben sie allen politischen Heilsversprechen gegenüber misstrauisch.
    "Sie hatten einen ganz bescheuerten Anfang, aber sie haben ziemlich viel aus ihrem Leben gemacht. Sie haben sehr viele Kinder bekommen, sie haben die Bundesrepublik mit aufgebaut, sie haben viel geleistet."
    So bescheuert der Anfang war, wie Bertram sagt, so pragmatisch nahmen diese Jahrgänge ihr Leben später in die Hand. Und der Verlauf folgte typischerweise einer fest vorgegebenen Reihenfolge: erst Ausbildung und Beruf, dann Partnerwahl, Heirat, Kinder kriegen. Gute zehn Jahre durfte all das dauern. Was damals nacheinander passierte, müssen junge Erwachsene heute mitunter gleichzeitig schaffen. Und falls sie tatsächlich Kinder bekommen, dann müssen sie fleißiger sein als ihre Eltern, wie Bertram und Deuflhard schreiben:
    "1965 brauchte eine Familie im Durchschnitt 56 Arbeitsstunden, um die ökonomische Existenz der Familie zu sichern; 2008 waren dafür schon 67 Stunden nötig."
    Auch für Doppelverdiener-Eltern ist es also schwieriger geworden, ein angemessenes Einkommen zu erwirtschaften. Mütter und Väter arbeiten heute insgesamt mehr als die Generationen vor ihnen, auch um den Anschluss nicht zu verpassen und keinen Karriereknick zu riskieren. Gute und fürsorgliche Eltern wollen sie trotzdem sein.
    "Sie verzichten nicht auf die Zeit für die Kinder. Sondern da ist ein ganz paradoxer Effekt: Praktisch Europa-weit kann man zeigen, dass die Zeit für Kinder gestiegen ist. Das heißt, die Eltern, auch die Väter, investieren mehr Zeit in ihre Kinder, als die eigene Elterngeneration."
    Die heutige Überforderung hat nach Ansicht der beiden Soziologen vor allem damit zu tun, dass Individualisierung und Modernisierung vor allem in der privaten Lebensführung stattgefunden haben, die Berufswelt aber noch immer uralten Mustern folgt:
    "Beruflicher Erfolg kann nur dann erreicht werden, wenn spezifische Stufen in dafür vorgesehenen, kontinuierlich aneinander anschließenden Zeiträumen erreicht werden - eine Vorstellung, die auf das 19. Jahrhundert zurückgeht. Das führt dazu, dass diejenigen, die sich trotz beruflicher Potenziale für Kinder entscheiden und einen Zeitraum verstärkt der Fürsorge für ihre Kinder widmen, was insbesondere Frauen tun, beruflich abgehängt werden."
    Zu den Stärken dieses Buches gehört es, dass Bertram und Deuflhard es nicht bei der Diagnose belassen:
    "Die Vorstellung, dass alles am Anfang gelernt wird, und dann das ganze Leben dadurch bestimmt wird, kann man natürlich ersetzen durch eine Vorstellung, dass man im Leben immer wieder neu anfangen kann."
    Immer wieder neu anfangen und im Beruf auch mal eine Pause einlegen - ohne Nachteile für die Karriere. Mit Anfang 40 vielleicht noch einmal studieren und dann bis 80 arbeiten - warum eigentlich nicht, wenn trotzdem 45 Berufsjahre zusammenkommen?
    "Solange wir [...] nicht bereit sind, die gewonnenen Jahre nach dem 65. Lebensjahr zu nutzen, um die Lebensverläufe individueller gestalten zu können, wird die Überforderung von Eltern zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr systematisch fortgeschrieben. [...] Wir werden auch zunehmend akademische und politische Eliten erhalten, die ihr Leben ohne persönliche Fürsorge für andere gestaltet haben und die dann davon ausgehen [...] müssen, dass die persönliche Fürsorge nur noch über den Markt abzuwickeln ist, das heißt gekauft werden muss."
    Eine etwas flottere Schreibe hätte diesem Buch gutgetan - viele Argumente kommen in feinstem Soziologendeutsch daher, und man fragt sich, ob von Subjekten die Rede sein muss, wenn Menschen gemeint sind. Auch das Lektorat lässt passagenweise zu wünschen übrig. Trotzdem ist es eine wichtige und lesenswerte Studie, die Hans Bertram und Carolin Deuflhard vorgelegt haben - sie ist ein unerlässlicher Diskussionsbeitrag zur Frage, wie wir Arbeit und Familie in Zukunft organisieren wollen - ohne uns ständig zu überfordern.
    Hans Bertram, Carolin Deuflhard: "Die überforderte Generation. Arbeit und Familie in der Wissensgesellschaft", Budrich UniPress, 253 Seiten, 28 Euro, ISBN: 978-3-8474-617-4.