sehepunkte - 8 (2008), Nr. 7

Benoît Van den Bossche: La Cathédrale de Strasbourg. Sculpture des portails occidentaux, Paris: Picard 2006, 208 S., ISBN 978-2-7084-0779-4, EUR 57,00

Rezensiert von:
Christoph Brachmann
Institut für Geschichte und Kunstgeschichte, Technische Universität, Berlin

Die 1277 begonnene Stra�burger Westfassade, mit der der seit dem sp�ten 12. Jahrhundert in Gang befindliche Neubau des M�nsters seinen ebenso monumentalen wie filigranen Abschluss fand, ist eines der ma�stabsetzenden Architekturprojekte der Zeit. Durch die angenommene Verbindung mit einem zwischen 1284 und 1318 namentlich greifbaren Werkmeister, dem legend�ren Erwin von Steinbach, weiter beg�nstigt, ist sie mit ihrem nachgerade fadend�nnen 'Harfenma�werk' seit langem fester Bestandteil des kunsthistorischen Kanons.

Nur eingeschr�nkt wurde der dazugeh�rigen Skulptur eine derartige Wertsch�tzung zuteil. Ganz anders als etwa der gut 50 Jahre �ltere Figurenzyklus des S�dquerhauses entsprach und entspricht sie, wie ein Blick auf die jeweilige Literatur und deren Umfang zeigt, weit weniger klassischen Vorstellungen hochgotischer Skulptur. Dem stand allein schon ihre partiell expressiv-karikaturhafte Formreduktion entgegen; nicht zuletzt jene der Propheten des Mittelportals, deren Kompromiss- und Vorbildlosigkeit eher verst�rend wirkte. Es war Wilhelm Pinder, der darin bereits ein neues, �ltere Paradigmen abl�sendes Ideal sehen wollte, das die Mystik verk�ndet habe; n�mlich jenes: "Dass die Seele um so mehr bl�he, als der Leib verdorrt, um so mehr verdorre als der Leib bl�ht [....]." [1] Sein Versuch, die �berschlanke, entmaterialisierte Skulptur zugleich der �hnlich gearteten Architektur anzun�hern, kulminierte noch in j�ngerer Zeit in der These, beides gehe auf die gleiche entwerfende Hand, auf Erwin von Steinbach, zur�ck. [2]

Fern dieser formalen Diskussionen legt Beno�t Van den Bossche seinen Fokus demgegen�ber nahezu exklusiv auf das ikonografische Programm, auf dessen Logik und Stringenz. Das mag �berraschen, doch fehlte dazu bisher in der Tat eine vergleichbar akribische Studie. [3]

Sein Augenmerk gilt zun�chst der detailgenauen Beantwortung der - angesichts der umfangreichen Zerst�rungen der Franz�sischen Revolution durchaus berechtigten - Frage, welche der Darstellungen �berhaupt original sind oder zumindest noch dem urspr�nglichen Thema entsprechen. Aufwendig werden dazu alle nur denkbaren Schrift- und Bildquellen herangezogen. Mit einem eigenen Kapitel sowie einem Gro�teil des musterg�ltigen vierzigseitigen Katalogs, in dem zu jeder Einzeldarstellung bzw. -figur zus�tzlich ausf�hrliche Beschreibungen sowie Angaben zu Literatur und Archivalien geliefert werden, erh�lt das Problem der Rekonstruktion des Originalbestandes ausnehmend breiten Raum. So manche modern anmutende Figurenerfindung kann dadurch nun eindeutig als authentisch eingeordnet werden.

Gleiche Bedeutung besa� daf�r die Untersuchung der Figuren in situ, vom Ger�st aus. Gerade bei den Darstellungen in den Archivolten und den Tympana kam das zudem der umfangreichen fotografischen Dokumentation zugute, gelangen auf diese Weise doch einige neue und f�r die Qualit�t der Skulptur erhellende Aufnahmen, insbesondere was die Gewitztheit der Erz�hlung betrifft: Verwiesen sei hier auf Szenen wie die Kreuztragung, die drei Frauen am Grabe oder den ungl�ubigen Thomas mit ihren partiell extremen Perspektiven und virtuosen Figurenzusammenstellungen.

Immerhin kurz wird im Kapitel zur Authentizit�t des Bestandes auch auf die stilistische Einordnung der Skulptur eingegangen, die Van den Bossche als zwar von unterschiedlich arbeitenden Werkst�tten ausgef�hrt, sicherlich aber zur gleichen Zeit entstanden beschreibt. Mit dem Verweis auf die Vorbildhaftigkeit unter anderem der Skulptur der Reimser Westfassade oder des Stra�burger Lettners wird weitgehend der g�ngigen Meinung gefolgt. Hier w�re sicherlich auch noch eine solche von Reims ableitbare Skulptur wie die ehemalige Madonna des Metzer Liebfrauenportals [4], welche im �brigen Van den Bossche selbst immer wieder vor allem unter ikonografischen Gesichtspunkten als vorbildlich anf�hrt, in die Diskussion mit einzubeziehen. Dass es in der Tat weitere als die hier und in den nachfolgenden Kapiteln benannten Bildquellen und Vergleichsbeispiele geben d�rfte, zeigt etwa die Gefangennahme Christi im Tympanon des Mittelportals, die auff�llige kompositorische �hnlichkeiten zu der gleichen Szene des etwas �lteren Lettners der Amienser Kathedrale (Metropolitan Museum of Art, New York) aufweist.

Eigentliches Anliegen der akribischen Bestandsrekonstruktion ist jedoch die Generierung einer fundierten Basis f�r die Analyse des Programms, welches Van den Bossche als durchlaufend und auf einen einzigen Urheber zur�ckgehend identifiziert. Die Untersuchung schreitet dabei sehr systematisch portalweise von Norden nach S�den voran. Immer wieder wird die Frage nach den - mitunter sehr weit zur�ckreichenden - ikonografischen Vergleichsbeispielen gestellt, das Verh�ltnis von Tradition und Innovation reflektiert.

Interessant ist das Programm nun weniger wegen ausgefallener und schwer identifizierbarer Einzeldarstellungen, sondern wegen deren neuartiger Zusammenstellung: Zwar ist es das einzige des deutschsprachigen Raums, das in Umfang und Qualit�t denjenigen franz�sischer Kathedralen ebenb�rtig ist, doch hebt sich das Stra�burger Skulpturenprogramm durch zahlreiche Besonderheiten sogleich wieder davon ab. War das schon zuvor gesehen worden, so gelingt es dem Autor, hier durchaus eigene Akzente zu setzen und den Grund f�r diese neue Zusammenstellung schl�ssig zu kl�ren.

In der Tat nimmt das Programm eine Neugewichtung vor: Im Zentrum steht nicht mehr wie bei den franz�sischen Vorbildern der drohende, richtende Gott, sondern die zum Mitleiden einladende bzw. von der Befreiung von den S�nden durch seinen Opfertod k�ndende Darstellung des menschlichen, des leidenden Gottessohns. Kulminationspunkt ist hierbei der Gekreuzigte an zentraler Stelle im Tympanon des Hauptportals. Eine Akzentverschiebung etwas anderer Art findet sich bereits in den Darstellungen der Tugenden am Nordportal, die nicht mehr mit den Lastern k�mpfen, sondern unmittelbar �ber sie triumphieren. Ausschlaggebend mag daf�r allerdings auch gewesen sein, dass auf diese Weise die weiblichen Darstellungen jenen der Klugen und T�richten Jungfrauen am S�dportal angeglichen werden konnten. Derartige formale Bedingtheiten w�ren noch in einem erweiterten Rahmen zu diskutieren. Dazu geh�rte auch die Frage, inwiefern nicht auch die architektonischen Vorgaben Umfang und Art des Bildprogramms mitbestimmten, wie das zum Beispiel an der Reimser Westfassade und deren Apokalypsedarstellungen deutlich wird. Eine etwas eingehendere Diskussion h�tte man sich zudem im Zusammenhang mit dem durchaus interessanten und bedenkenswerten Befund gew�nscht, dass die ungew�hnliche Bildauswahl f�r die Darstellungen der Kindheit Christi im Tympanon des Stra�burger Nordportals auf zeitgen�ssische Mysterienspiele zur�ckzuf�hren sei (71).

Auch wenn alle dargestellten Szenen den Konventionen folgen und lediglich in der Zusammenstellung und Schwerpunktsetzung etwas Neues darstellen, somit wohl auch von jedem einfachen Gl�ubigen zu identifizieren waren [5], geht Van den Bossche abschlie�end noch einmal einer f�r die Stra�burgforschung geradezu klassischen Frage nach: Ob als Autor des Programms tats�chlich Albertus Magnus erwogen werden kann oder ob es sich hierbei doch eher um einen Reflex auf den allgemeinen historischen und theologischen Kontext der Zeit handelt. Van den Bossche befragt dazu die Schriften dieses Theologen auf die aus dem Fassadenprogramm herauszulesenden Schwerpunkte '�thique', 'Dogmatique (mariologie)' und 'Ex�g�se' hin (149-156). Schnell ist festgestellt, dass Albertus Magnus' Aussagen dazu jeweils zu allgemeiner Art sind und damit kaum als unabdingbare und unmittelbare Voraussetzung f�r das Programm gelten k�nnen. Als Autor nimmt Van den Bossche deswegen eher einen mit den Schriften vertrauten anonymen Geistlichen an, dessen Programm allerdings nicht simpler Reflex auf aktuelle Diskurse sei, sondern einen eigenst�ndigen Diskurs darstelle (157).

Angesichts der Dominanz ikonografischer Fragestellungen �berrascht es fast, am Schluss des Buches doch noch Aussagen zur Datierung der Skulptur zu finden. Gegen�ber der zumeist �blichen Einordnung 'um 1280 bis 1300' f�llt sie mit '1260er Jahre' (157) erstaunlich fr�h aus und w�rde an dieser Stelle doch einer st�rkeren skulpturgeschichtlichen R�ckbindung bed�rfen, auch wenn manche Korrektur in der g�ngigen Chronologie gotischer Skulptur sicherlich bedenkenswert erscheint. St�rkere argumentative Flankierung ben�tigte dar�ber hinaus die daraus abgeleitete Datierung des Programmentwurfs bereits um 1250-60; allgemeine Verweise auf Magdeburg und Trier erscheinen hier zu vage (157).

Insgesamt ist Van den Bossches Arbeit ein wichtiger Beitrag zur Skulptur der Stra�burger Westfassade, mit dem Fragen hinsichtlich des originalen Bestandes und - damit verbunden - Programms nun abschlie�end gekl�rt erscheinen. Sie wird Ausgangspunkt aller Forschungen zu sein haben, die sich zuk�nftig mit diesen ungew�hnlichen Bildwerken und ihrer noch ausstehenden letztg�ltigen skulpturgeschichtlichen Einordnung besch�ftigen.


Anmerkungen:

[1] Wilhelm Pinder: Deutsche Plastik des 14. Jahrhunderts, M�nchen 1925, 11.

[2] Reinhard Liess: Zur Entwurfseinheit der Portale der Stra�burger Westfassade. Skulptur und Architektur, in: Bulletin de la Cath�drale de Strasbourg 24 (2000), 23-118.

[3] Als wichtige diesbez�gliche Vorarbeit Kirsten Fast: Untersuchungen zu Architektur und Skulptur der Westportale des Stra�burger M�nsters, M�nchen/T�bingen 1990.

[4] Vgl. Christoph Brachmann: Das Metzer Liebfrauenportal (Portail-de-la-Vierge) und die Madonna im Schlossgarten von Aschhausen. Einige Bemerkungen zum Problem des "Naumburger Meisters", in: Zeitschrift des Deutschen Vereins f�r Kunstwissenschaft 52/53 (1998/1999), 261-298.

[5] So auch j�ngst Bruno Boerner: Strasbourg, cath�drale. L'iconographie des portails de la fa�ade, in: Congr�s Arch�ologique 2004, 162e session, Strasbourg et Basse-Alsace, Paris 2006, 201-209.

Redaktionelle Betreuung: Gerhard Lutz

Empfohlene Zitierweise:

Christoph Brachmann: Rezension von: Benoît Van den Bossche: La Cathédrale de Strasbourg. Sculpture des portails occidentaux, Paris: Picard 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7 [15.07.2008], URL: <http://www.sehepunkte.de/2008/07/12502.html>