sehepunkte - 8 (2008), Nr. 3

Kathleen Pyne: Modernism and the Feminine Voice. O'Keeffe and the Women of the Stieglitz Circle, Berkeley: University of California Press 2007, xxxix + 339 S., ISBN 978-0-520-24190-9, GBP 19,95

Rezensiert von:
Christian Hammes
Kunsthistorisches Institut, Freie Universität, Berlin

Schon von ihrem ersten �ffentlichen Auftreten an war die Rezeption Georgia O'Keeffes eng an eine ausgepr�gte Betonung ihrer Weiblichkeit und an eine extrem sexualisierte Deutung ihrer Bilder gebunden. Das Eigent�mliche an der Konstruktion O'Keeffes als genuin weibliche K�nstlerin ist jedoch die enge Verkn�pfung mit dem Topos des Kindlich-Reinen und Intuitiven. Ma�geblich gesteuert wurde diese Inszenierung O'Keeffes durch ihren sp�teren Ehemann, den Fotografen und Kunstvermittler Alfred Stieglitz. Pyne legt nun eine Rekonstruktion der Genese dieses Vorstellungskomplexes vor, mit dem Stieglitz ein Modell f�r eine essenziell weibliche Version der k�nstlerischen Moderne entwickelte. Sie nimmt dabei auch zuvor nur wenig beachtete K�nstlerinnen wie Gertrude K�sebier, Pamela Colman Smith und Anne Brigman in den Blick, die vor O'Keeffe von Stieglitz gef�rdert wurden. Auf diese Weise gelingt es Pyne, die postulierte Ausnahmestellung O'Keeffes in der amerikanischen Kunst zur�ckzunehmen und sie in Stieglitz' Suche nach einer "woman in art" (xxxii) einzubetten, an deren Ende die "phantom figure of the woman-child [�] possessed of an adult sexuality, yet energized by innocence" (xxxii) stand.

Pyne zeichnet diese Entwicklung ausgehend vom Einfluss James McNeill Whistlers auf die Photo-Secession nach. Deren �sthetik war f�r die Etablierung der Fotografie als Kunstform von entschiedener Bedeutung. Whistler stellte den Fotografen des Stieglitz-Kreises mit der Figur des 'white girl' ein Paradigma von Weiblichkeit zur Verf�gung, in dem sich Unschuld, Spiritualit�t und eine sublimierte, entk�rperlichte Erotisierung miteinander verschr�nkten. In welchem Ma�e sich Stieglitz und seine Mitstreiter mit der Whistlerschen Poetik des "Wei�en" identifizieren konnten, zeigt Pyne anhand der Fotografien Gertrude K�sebiers, der weiblichen Galionsfigur der Photo-Secession, in denen die weitgehend auf sich selbst bezogene, introspektive Figur des 'white girl' zu einer ihrer gesellschaftlichen Rolle bewussten Frau transformiert und so einem vorherrschenden Frauenbild angeglichen wird, das die Werte des M�tterlichen und Kultivierten propagiert.

Von diesem an den Wertvorstellungen der amerikanischen Mittelschicht orientierten Frauenbild verabschiedete sich Stieglitz um 1910 entschieden und wandte sich direkteren Ausdrucksformen der Sexualit�t zu, etwa in seinen Ausstellungen von Rodin- und Matisse-Zeichnungen. Den Bruch mit dem �lteren Weiblichkeitsverst�ndnis zeichnet Pyne in Stieglitz' Hinwendung zu den Aktfotografien Anne Brigmans nach. Das in den Fotografien choreografierte symbiotische Verh�ltnis zwischen Frau und ungeb�ndigter Natur liest sie vor dem Horizont der Ideen, die in den Boh�me-Zirkeln von Greenwich Village kursierten und die auch Stieglitz' Vorstellung k�nstlerischen Schaffens eminent beeinflussten. Henri Bergsons vitalistische Philosophie, die Freudsche Psychoanalyse und die Theorien des Sexualwissenschaftlers Havelock Ellis lokalisierten die Quellen k�nstlerischer Kreativit�t in Bereichen, die eher weiblich konnotiert wurden, sei es in der Intuition, den unbewussten sexuellen Trieben oder dem K�rperlichen. Auf diese Weise konnte der geschlechtlich markierte weibliche K�rper zum zentralen Ort erkl�rt werden, von dem aus nicht nur die k�nstlerische Moderne neu zu denken war, sondern auch gesellschaftliche Gegenmodelle entwickelt werden konnten, die sich vom puritanischen Wertekosmos abkoppelten und die gesellschaftlich akzeptablen Definitionen von Sexualit�t um Bereiche jenseits des Reproduktionszwangs erweiterten. Die in dramatischen Posen dargestellten Frauenakte Brigmans konnten, �hnlich dem Tanz der Isidora Duncan, als ein zweifacher "act of feminine self-embodiment" (xxxiv) dienen: als Ausdruck emanzipatorischer Bem�hungen einerseits wie als Modelle der Theatralisierung und �bersetzung der eigenen Seelenlandschaft in die �u�ere Natur und ins Kunstwerk hinein. Auf diese Weise entsprachen sie genau Stieglitz' Konzept vom Kunstwerk als Ausdruckstr�ger seelischer und k�rperlicher Regungen.

Pyne entfaltet das Feld der sexuellen Politik der amerikanischen Moderne in beeindruckender Weise. Sie lotet seine Einfl�sse auf Stieglitz' Denken aus, beleuchtet seine Auswirkungen auf die k�nstlerischen Entw�rfe der von Stieglitz protegierten K�nstlerinnen und rekonstruiert das Verh�ltnis zwischen ihnen und ihrem Mentor. Eine konzeptionelle Schw�che der Studie ist jedoch, dass das modernistische Ideal, nach dem das Leben in Kunst �bergeht und sich das Selbst des K�nstlers in seinem Werk manifestiert, methodisch �bernommen wird. Dies verengt die Interpretation des reichen Bildmaterials auf eine Belegfunktion f�r die pers�nlichen Einstellungen der K�nstlerinnen in der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Modernit�t und Geschlechterfrage. Eine Konsequenz dieses biografisch-psychologisierenden Ansatzes ist, dass Pyne auch zeitgen�ssische Denkfiguren in ihre Darstellung �bernimmt. So werden etwa die g�ngigen Dichotomien im Geschlechterdiskurs, die auf Oppositionen wie m�nnlich/weiblich, Natur/Kultur oder K�rper/Geist beruhen, weiter getragen und flie�en in die Interpretation ein. �rgerlich ist zudem, dass Pyne Strukturen des psychoanalytischen Dramas, das f�r die Protagonisten zweifellos von Bedeutung war, in ihre Erz�hlung einbaut. So wird etwa Stieglitz' Verh�ltnis zu O'Keeffe in den ersten Jahren ihrer Beziehung zu einem "return to the maternal space" (xxxi) erkl�rt. Und in einer der Fotografien von O'Keeffe aus Stieglitz' composite portrait will Pyne eine "maternal relation to her works" (223) entdecken.

Als entscheidender Schritt in der Entwicklung des woman-child-Topos erweist sich die �berblendung des Bildes der Frau als naturnahes und intuitives Wesen mit der auch von Stieglitz geteilten zeittypischen Faszination f�r die kindliche Bildsprache. Den unschuldigen Blick des Kindes �ber den Begriff der Authentizit�t mit dem Weiblichen zu verbinden, ist in der Tat ein rein amerikanisches Ph�nomen, das sich deutlich von der europ�ischen Pathologisierung der Sexualit�t absetzt. Die resultierende Figur eines woman-child, in dem sich der Diskurs des Kindlich-Reinen mit dem erotisierten Blick auf die Frau kreuzen, bleibt somit auch un�bersetzbar und ist keineswegs mit dem Topos der Kindfrau gleichzusetzen; sie �hnelt eher Mignon als Lolita. Dass Stieglitz zusammen mit seinen Hauskritikern das �ffentliche Bild O'Keeffes nach diesem Modell konstruierte, ist hinl�nglich bekannt. [1] Allein seine Bewertung und O'Keeffes Rolle bei seiner Entstehung sind der zentrale Streitfall in der Forschung, die O'Keeffe entweder zum Opfer m�nnlicher Kritik stilisiert [2] oder ihre Handlungs- und Gestaltungsm�glichkeiten als weibliche K�nstlerin in einer vorherrschend m�nnlichen Umgebung auslotet. [3]

Pynes zentrale These, O'Keeffe habe lediglich die Erotisierung ihrer Arbeiten abgelehnt, w�hrend sie "the intuitive child part of Stieglitz' woman-child figure as her alter ego" (244) akzeptierte, st�tzt sich auf einige Arbeiten aus dem Jahr 1917, in denen die K�nstlerin mit einer kindlichen Bildsprache experimentiert, bleibt jedoch im Gro�en und Ganzen einer immer noch vorherrschend biografisch argumentierenden O'Keeffe-Forschung verhaftet. Jenseits der zuerst von Anne M. Wagner gestellten Frage, ob ein biografischer Zugang gerade zum Werk O'Keeffes nicht immer fragmentarisch bleiben muss und ob der Rekurs auf ihre �u�erungen �berhaupt als privilegierter Zugang zu ihrem Werk benutzt werden kann [4], bleibt die Frage, ob es nicht versprechender gewesen w�re, die komplexen Funktionsweisen der Rhetorik des Kindhaften innerhalb des Stieglitz-Kreises zu untersuchen, in die auch m�nnliche K�nstler wie Arthur Dove, Marsden Hartley, John Marin und Stieglitz selbst einbezogen waren. Auch scheint die Komplexit�t des k�nstlerischen Dialogs zwischen Stieglitz und O'Keeffe ihre Darstellung als woman-child in Teilen zu unterlaufen: In seinem composite portrait, einem Projekt der fortw�hrenden Ann�herung an sein Gegen�ber wie an sich selbst, entwirft Stieglitz ein Bild von O'Keeffe, das keinen g�ngigen Weiblichkeitsidealen zuzuordnen ist und zunehmend androgyne Z�ge bekommt. Tendenziell l�st sich hier die strenge Dichotomie der Geschlechter auf. Unber�cksichtigt bleibt auch, dass Stieglitz nicht nur unabl�ssig die Weiblichkeit von O'Keeffe betont, sondern sich auch mit ihr identifiziert. F�r ihn ist sie "a purer form of myself". [5]

Die St�rke von Pynes Studie liegt in der sorgf�ltigen Rekonstruktion der Genealogie des woman-child-Topos. Das Potenzial, das sich aus den Taktiken seiner Anwendung und seiner �berschreitungen im gender-trouble-Spiel ergibt, bleibt dagegen ungesehen.


Anmerkungen:

[1] Ines Lindner: Medium - Geschlecht - Moderne. Georgia O'Keeffe und Alfred Stieglitz, in: Renate Berger (Hrsg.): Liebe Macht Kunst. K�nstlerpaare im 20. Jahrhundert, K�ln / Weimar u. a. 2000, 227-247.

[2] Anna Chave: O'Keeffe and the Masculine Gaze, in: Art in America 78 (1990), Heft 1, 115-125 und 177-179.

[3] Barbara Buhler Lynes: O'Keeffe, Stieglitz and the Critics, 1916-1929, Ann Arbor / London 1989; Marcia Brennan: Painting Gender, Constructing Theory. The Alfred Stieglitz Circle and American Formalist Aesthetics, Cambridge, MA / London 2001; Jay Bochner: An American Lens. Scenes from Alfred Stieglitz' New York Secession, Cambridge, MA / London 2005.

[4] Anne Middleton Wagner: Three Artists (Three Women). Modernism and the Art of Hesse, Krasner and O'Keeffe, Berkeley / Los Angeles u. a. 1996.

[5] Arthur Stieglitz in einem undatierten Brief an Arthur Dove, zitiert nach Barbara Buhler Lynes: O'Keeffe, Stieglitz and the Critics, Chicago 1991, 32.

Redaktionelle Betreuung: Sigrid Ruby

Empfohlene Zitierweise:

Christian Hammes: Rezension von: Kathleen Pyne: Modernism and the Feminine Voice. O'Keeffe and the Women of the Stieglitz Circle, Berkeley: University of California Press 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 3 [15.03.2008], URL: <http://www.sehepunkte.de/2008/03/13080.html>