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Verhandlungen �ber die Vergegenw�rtigung
der Vergangenheit in der Literatur
des sp�ten 19. Jahrhunderts

  • Katharina Gr�tz: Musealer Historismus. Die Gegenwart des Vergangenen bei Stifter, Keller und Raabe. (Beitr�ge zur neueren Literaturgeschichte 225) Heidelberg: Universit�tsverlag Winter 2006. 556 S. 5 Abb. Gebunden. EUR (D) 64,00.
    ISBN: 978-3-8253-5105-2.
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Traditionsbruch und �sthetische
Umcodierung des Historischen

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In ihrer T�binger Habilitationsschrift positioniert Gr�tz die Literatur von Stifter, Raabe und Keller nicht allein im Kontext gesellschaftlicher Historisierungs- und Musealisierungstendenzen, sondern interpretiert sie vielmehr als einen zentralen Ort der kritischen Reflexion dieser Ph�nomene. Dass die gesteigerte Rezeption und Wertsch�tzung der Vergangenheit einen Geltungsverlust und Bruch mit der Tradition voraussetzt, erscheint nur auf den ersten Blick paradox und gilt inzwischen als Topos. Dieser distanzierte und reflektierte Umgang mit der Tradition pr�gte, Gr�tz zufolge, nicht nur die Geschichtswissenschaft, sondern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die gesamte gesellschaftliche Praxis und sei ein zentrales Kennzeichen der Moderne (S. 22). Gr�tz geht es um ein Verst�ndnis des Historismus als eines soziokulturellen Ph�nomens mit gesellschaftlicher Strahlkraft und um die �Interferenzen zwischen der Literatur und der auf Historie bezogenen zeitgen�ssischen kulturellen Praxis.� (S. 46) Durch die Disponibilit�t der Vergangenheit werde erst eine �sthetische Aneignung m�glich und in der bewussten Auseinandersetzung �ber potentielle �sthetische Verfahren komme der Literatur des sp�ten 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle zu: �Die Krisenerfahrung [... setzt] neue k�nstlerische Strategien und Konzepte frei� (S.�18). In der Literatur werde eine Form k�nstlerischen Schaffens jenseits von autonomem Sch�pfertum und �sthetischer Originalit�t erprobt.

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Der Text als Museum:
Stifter, Keller und Raabe

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Gr�tz untersucht die literarischen Texte von Stifter, Keller und Raabe daraufhin, wie sie den f�r die Kultur des 19. Jahrhunderts zentralen kulturellen Umbruch im Umgang mit den materiellen Relikten und Gegenstandswelten der Vergangenheit, wie er sich in der zeitgen�ssischen Kunst, aber auch in Geschichtsvereinen, Kulturmuseen oder Denkm�lern beobachten l�sst, aufgreifen und reflektieren. Daher konzentriert sie sich gerade nicht auf historische Romane und Erz�hlungen im engeren Sinne, sondern auf Texte, die sich mit der Pr�senz des Historischen in der Gegenwart besch�ftigen und �deren fiktiver Realit�t eine bedeutungstragende Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit eingeschrieben ist.� (S. 46) Die zentrale Frage ist, wie die �epochentypische[n] Wahrnehmungsmuster und Denkstrukturen�, die kulturellen Praktiken und Strategien in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in den literarischen Texten aufgegriffen werden. Gr�tz �berzeugt mit ihrer These, dass die behandelten Autoren die ordnungsstiftende Kraft eines historisierenden Umgangs mit der Vergangenheit nicht einfach auf ihre Texte �bertragen, sondern durch ein komplexes Spannungsverh�ltnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit erst sichtbar machen und kritisch reflektieren. Die Autorin interessiert sich insbesondere f�r die literarische Inszenierung der materiellen Zeugnisse der Geschichte, die im Aufzeigen ihrer sinnlich-materiellen Pr�senz und gleichzeitig ihrer historischen Fremdheit die Mechanismen einer identit�tsstabilisierenden b�rgerlichen Traditionsbildung hinterfrage.

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Bei der Auswahl der drei Autoren, auf die sich die Textanalyse konzentriert, f�llt auf, dass konservative Unterhaltungsschriftsteller wie etwa Wilhelm Heinrich Riehl fehlen. Auch Theodor Fontane, der durchaus in die Auswahl gepasst h�tte, wird ohne explizite Begr�ndung f�r die Beschr�nkung des Untersuchungskorpus nur kurz in den Einleitungskapiteln erw�hnt, das gleiche gilt f�r Riehl und Gustav Freytag. Warum sich die Untersuchung von literarischen Bearbeitungen der Erfahrung historischer Diskontinuit�t auf diese drei Autoren beschr�nkt, die zwar unbestritten sehr gute Beispiele sind, aber doch nur einen nicht notwendig repr�sentativen Ausschnitt darstellen, wird nicht explizit begr�ndet. Die Tatsache, dass die Kapitel nach Autoren und innerhalb dieser wiederum nach Werken geordnet sind, vermittelt den Eindruck, dass es mehr um das Werk einzelner Autoren als um die Beleuchtung eines Themenkomplexes geht. So ist die Widerlegung des in der Forschung in Bezug auf die behandelten Autoren immer wieder ge�u�erten Vorwurfs der �Unzeitgem��heit� ein zentrales Anliegen der Untersuchung (S.�179�f.).

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Gr�tz kann mit festgefahrenen Urteilen und Kontroversen in der Stifter-Forschung aufr�umen, indem sie sehr �berzeugend nachweist, dass Stifters Narrenburg und Nachsommer keine blo�en Symptome der Historisierung und Musealisierung sind, sondern im Entwurf einer musealen Lebenswelt eine kritische und kreative Auseinandersetzung damit, teilweise gar eine Subversion darstellen. Damit ersch�pfen sie sich nicht im blo� restaurativen Bem�hen. Im Vergleich der verschiedenen Fassungen der Mappe meines Urgro�vaters wird vor Augen gef�hrt, dass Stifter zwar zun�chst die Entwicklung in der Kulturgeschichtsschreibung und im Museumswesen aufgreift, indem er auch unbedeutende Alltagsgegenst�nde der Beachtung und Konservierung wert erachtet, dabei aber zunehmend zwischen der allgemeinen Aufmerksamkeit auf unwerten Tr�del, der nur pers�nlichen Wert innerhalb der Familiengeschichte hat, und �sthetisch wertvolle Gegenst�nde von normativer und kontinuit�tsstiftender Bedeutung unterscheidet.

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Sowohl Keller als auch Raabe verabschieden sich endg�ltig von dieser normativen und allgemeinen Verbindlichkeit der Tradition: Beide entlarven den Historismus als ideologisches Instrument sowohl im Dienste des (Klein-)B�rgertums als auch der herrschenden Monarchie. In Gestalt der �Kuriosit�t� l�sst sich eine radikale �Subjektivierung des �berlieferten� verfolgen, welche von den literarischen Protagonisten, mit unterschiedlichem Erfolg, zur exzentrischen Selbstdefinition und -inszenierung genutzt wird (S.�516).

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Welcher Historismus?

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Nach eigener Aussage m�chte Gr�tz in ihrer explizit als kulturwissenschaftlich ausgewiesenen Fragestellung die literarischen Texte eben nicht als eines der vielen kulturellen Ph�nomenen untersuchen, die im Anschluss an Clifford Geertz als Texte interpretiert werden k�nnen. Vielmehr m�chte sie den spezifischen �sthetischen Beitrag, den die Literatur zum kulturellen Ged�chtnis zu leisten vermag, herausarbeiten. Das w�re allerdings noch besser gelungen, wenn die durchaus erhellenden Einzelanalysen, die vor allem zu neuen Einsichten hinsichtlich der behandelten Autoren beitragen, st�rker in �bergreifende Fragen zu literaturspezifischen Pr�sentationsformen und -strategien sowie deren medialen Unterschieden zu anderen Pr�sentationsformen eingebettet w�ren. An einer Stelle wird ein Vergleich zu Ren� Magrittes Gem�lde Le mus�e d’une nuit (1927) und damit zur Bildenden Kunst angestellt, ohne jedoch den Medienvergleich explizit zu machen. Auf diese Weise steht dieser Vergleich etwas isoliert in der Untersuchung.

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Gr�tz’ Untersuchung beleuchtet eine Reihe von Musealisierungsph�nomenen, die als komplement�re Entwicklung von sich beschleunigenden Modernisierungsprozessen verstanden werden m�ssen. Zudem macht sie unmissverst�ndlich deutlich, dass der Historismus nicht nur inhaltlich in der Literatur der Zeit reflektiert wird, sondern auch auf der formalen Ebene seine Spuren hinterlassen hat. Was unter �literarisch konstruierte[n] museale[n] Arrangements� (S. 53) zu verstehen ist und wie das literarische �quivalent zum Museum aussehen kann, wird immer wieder beispielhaft an einzelnen literarischen Werken herausgearbeitet, die Untersuchung verzichtet jedoch auf eine ausf�hrliche Synthese der an den einzelnen literarischen Werken gewonnenen Ergebnisse. Die Untersuchung gibt stattdessen einen kurzen Ausblick auf den Beginn des 20. Jahrhunderts, worin Gr�tz der These folgt, dass die Moderne keinen Bruch mit dem Historismus vollzieht, sondern mit ihrer Lust an der Verf�gbarkeit von Traditionen, der F�lle von Bez�gen auf verschiedene Epochen und Stile eine Fortf�hrung des Historismus in ver�nderter Form darstellt, die sich dann in der Postmoderne fortsetzt. Damit schlie�t Gr�tz an die Leitthese eines von Gotthart Wunberg geleiteten Forschungsprojekts an, das im Forschungs�berblick allerdings durchaus kritisch diskutiert wird (S.�55�f.).

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Der im Titel so prominent gesetzte Begriff des �musealen Historismus� signalisiert eine f�r die Analyse der Texte zentrale Spielart des Historismus, wobei die Autorin sich dagegen ausspricht, die fachinterne Diskussion innerhalb der Geschichtswissenschaft fortsetzen zu wollen. Sie ist vielmehr am Entwurf eines f�r die Literaturwissenschaft praktikablen Konzepts und daher an einer kulturwissenschaftlichen Ausweitung des Begriffs interessiert (S.�60). Die Untersuchung skizziert in der theoretischen Hinf�hrung zu den Textanalysen die Entwicklungsgeschichte des Begriffs �Historismus� und betont dabei die dabei aufkommenden Spannungen zwischen dem hermeneutischen Verst�ndnis einzelner individueller Geschichten und deren Einordnung in einen �bergeordneten historischen Prozess, der gleichzeitig als ein Prozess der Ver�nderung und Entwicklung gesehen werde. Eine Vorstellung von historischer Kontinuit�t m�sse angesichts der Z�suren und Br�che, die das sp�te 18. Jahrhundert gekennzeichnet h�tten, also erst durch den Historiker geschaffen werden, um orientierungs- und identit�tsstiftend wirken zu k�nnen. Diese Entwicklung erfasse auch alle Bereiche der Kunst und Architektur, allerdings keineswegs als blo�er Widerhall. Gr�tz zufolge entsprechen die dort zur Anwendung kommenden Verfahren der symbolischen und �sthetischen Verdichtung dem �kollektiven Bed�rfnis nach Geschichte als dem unver�nderlich Gleichbleibendem, dem verl��lichen Fixpunkt in einer ver�nderungsunterworfenen Welt� (S.�31). Jedes einzelne Denkmal, Bauwerk oder Gem�lde trage damit das dem Historismus innewohnende Spannungsverh�ltnis zwischen Verzeitlichung und Stillstellung immer wieder neu aus.

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Der weitaus gr��te Teil der Untersuchung besch�ftigt sich daher mit der Reflexion dieses Spannungsverh�ltnisses in konkreten literarischen Texten. Dabei arbeitet Gr�tz auf anschauliche Weise das kreative Potenzial eines bislang h�ufig nur als epigonal gedeuteten musealen Vergangenheitsbezugs heraus:

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Musealisierung muss also nicht notwendigerweise zur mortifizierenden Reduktion einer komplexen und lebendigen Wirklichkeit f�hren. Im Gegenteil vermag der Prozess der Musealisierung den Dingen zu einem neuen und, zumindest dem Schein nach, komplexeren Dasein zu verhelfen. (S.�246)
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Eine explizite Definition des �musealen Historismus� sowie eine Differenzierung der Ph�nomene �Historisierung� und �Musealisierung� bleibt die Untersuchung, trotz vieler St�rken, leider schuldig. In ihrer Besch�ftigung mit Musealisierungsprozessen betritt Gr�tz ein in der Literaturwissenschaft bislang noch wenig bearbeitetes Untersuchungsfeld und gibt damit wichtige Anst��e f�r weitere Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet.