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Mit notwendiger Sachlichkeit und Differenziertheit

Medien und Gewalt im Überblick

  • Michael Kunczik / Astrid Zipfel: Gewalt und Medien. Ein Studienbuch. 5., völlig überarbeitete Auflage. (UTB 2725) Köln, Weimar: Böhlau 2006. 474 S. 6 Tab., 10 Abb. Kartoniert. EUR (D) 24,90.
    ISBN: 978-3-8252-2725-8.
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Die Ausgangslage

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Seit 1998, dem Erscheinungsjahr der vierten Auflage des vorliegenden Bandes, sind nicht nur mehrere Jahre verstrichen, sondern in diesen Zeitraum fallen die Ereignisse von Erfurt 2002 und Emsdetten 2006 mit mehreren Toten und zahlreichen Verletzten. Zu verzeichnen ist auch die Zusammenführung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften mit dem Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit zu einem neuen Jugendschutzgesetz 2003. Diese Veränderungen des Jugendschutzes erfolgten nicht zuletzt unter dem Eindruck des Amoklaufes in Erfurt. Derzeit wird in Politik und Medien ein Verbot spezieller Computerspiele, so genannter ›Ego-shooter‹, heftig diskutiert. All diese Fakten und Sachverhalte zeigen die anhaltende Brisanz um mediale Gewaltdarstellungen. Umso wichtiger sind klärende und differenzierte wissenschaftliche Darstellungen, die der Komplexität der Problematik gerecht werden. Ein solcher Beitrag liegt mit dem Buch von Michael Kunczik und Astrid Zipfel vor.

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Michael Kunczik, Professor für Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, gilt seit Jahren als einer der ausgewiesensten Experten auf dem Gebiet von medialen Gewaltdarstellungen und deren Zusammenhängen. Zusammen mit Astrid Zipfel, Akademische Rätin an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf und ehemalige Mitarbeiterin am Institut für Publizistik der Universität Mainz, veröffentlichte Michael Kunczik eine ganze Reihe von Arbeiten, die sich nicht nur der medialen Gewaltproblematik widmen. Zu ihren Gemeinschaftspublikationen gehört zum Beispiel auch ein Studienhandbuch zur Publizistik (2001).

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Erschienen die ersten Auflagen von Gewalt und Medien allein unter dem Namen von Michael Kunczik, so verbindet sich die Erweiterung der Autorschaft mit einer völligen Überarbeitung. Die zweite und die dritte Auflage wurden gegenüber der Erstauflage von 1987 kaum verändert; die vierte ist etwas umfangreicher und aktualisiert. Anders die fünfte Auflage; hier sind neue Kapitel hinzugekommen, andere wurden verändert oder sind ganz weggefallen. So sind in der vierten Auflage das Kapitel 6 »Massenmedien und Gesellschaft: Funktionen der Gewaltdarstellung« und das Kapitel 8 »Zur Qualität der Diskussion um die Wirkung von Mediengewalt« noch vorhanden. In der fünften Auflage fehlen sie, was den Ausführungen nicht schadet, sondern im Gegenteil zu mehr Stringenz verhilft.

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Die zentrale These

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Die ersten vier Kapitel von Gewalt und Medien sind im Aufbau identisch mit den vorherigen Auflagen. Im Einleitungsteil wird rasch die zentrale These des Bandes formuliert:

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Es ist zu vermuten, dass ein Zusammenhang zwischen dem Konsum medialer Gewaltdarstellungen und realem Aggressionsverhalten bei einzelnen Problemgruppen besteht. Die hier vertretene These, dass Mediengewalt bei entsprechenden Randbedingungen einen Beitrag zur Herausbildung violenter Persönlichkeiten liefern kann, basiert auf der Annahme, dass die in vielen Feldstudien gefundenen sehr schwachen Beziehungen (Korrelationen), die für sich allein gesehen üblicherweise als Indikatoren für das Fehlen eines Zusammenhangs interpretiert werden, in ihrer Gesamtheit doch auf die Existenz eines Zusammenhangs hindeuten. Eine im Schnitt recht schwache Beziehung für alle Probanden eines Samples kann für einige Probanden bzw. bestimmte Subpopulationen eine durchaus starke Beziehung bedeuten. (S. 13 f.; Hervorhebung im Original)
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Diese recht vorsichtige Formulierung, mit der sich Kunczik auch von seiner Position von 1975 explizit distanziert, 1 ist kennzeichnend für den gesamten Umgang mit der Gewaltproblematik. Die beiden Verfasser plädieren für eine differenzierte Betrachtung und liefern verschiedene Erklärungen für die weite Verbreitung schlichter, aber umso populärerer Wirkungsthesen. Zu diesem umsichtigen Vorgehen gehört von der ersten Auflage an, dass der Einleitung ein Kapitel zur Begriffsklärung folgt. Denn schon mit dem Begriff der Gewalt ergeben sich zentrale Probleme: Wie wird Gewalt in Studien jeweils definiert? Wie ist mit der heterogenen Operationalisierung des Gewaltbegriffs in empirischen Studien umzugehen? Das dritte Kapitel »Zur historischen Dimension der Diskussion um Mediengewalt« zeigt in aller Kürze, aber dafür sehr deutlich, dass Diskussionen um Gewaltdarstellungen und deren Wirkungen eine lange Tradition besitzen und sich die Argumentationsmuster mit jedem historisch neuen Medium stets wiederholen. Der aufgestellten Faustregel »Je länger ein Autor tot ist, desto höher ist die Chance, dass Gewalt als Kunst interpretiert wird« (S. 29) ist nicht nur zuzustimmen. Sie könnte auch in Hinblick auf den Kanonisierungsaspekt nach dem Motto ergänzt werden: »Eine / einen … indiziert / verbietet man nicht«. 2

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Gewalt war nie nur ein Thema von Literatur und Kunst. Kunczik / Zipfel liefern zahlreiche Belege für die gesellschaftliche und mediale Präsenz dieser Debatte. Mit »Ergebnisse von Inhaltsanalysen« liegt das vierte, in der Gliederung unveränderte Kapitel vor. Es enthält eine Zusammenfassung der wichtigsten inhaltsanalytischen Befunde unter Einbezug neuerer Studien. Die beiden Autoren betonen immer wieder die Unzulässigkeit direkter Schlüsse von Inhalten auf Wirkungen; dies vollkommen zu Recht, da nicht nur die Interpretation inhaltsanalytischer Befunde umstritten ist, sondern Wirkungsannahmen immer wieder allein auf der Basis von Inhalten vorgenommen werden. Sie plädieren daher für eine Neuorientierung bei der Inhaltsanalyse, die sie beispielsweise in der funktionalen Inhaltsanalyse sehen, bei der die subjektiven Gewaltbegriffe der Nutzer mit einbezogen werden.

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Veränderungen
der fünften Auflage

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Neu aufgenommen in die aktuelle Auflage von Gewalt und Medien wurde das Kapitel 5 »Gründe für die Nutzung von Mediengewalt«, das sich nun vor dem jetzigen Kapitel 6 »Thesen und Studien zur Wirkung von Gewaltdarstellungen« positioniert. Die Darstellung der diversen Motivationserklärungen der Nutzung von Mediengewalt der Behandlung der diversen Wirkungstheorien vorzuziehen indiziert hier auch strukturell, dass von einem aktiven Menschenbild ausgegangen wird: ›Was machen die Nutzer mit den Medien?‹ und nicht ›Was machen die Medien mit den Nutzern?‹ steht im Vordergrund beziehungsweise kann als eine Grundtendenz des Buches gefasst werden. Beide Kapitel geben nicht nur das breite Spektrum an Forschungsrichtungen wieder, sondern zeigen eine tiefe und differenzierte Auseinandersetzung, die die jeweiligen theoretischen Vorannahmen, methodischen Zugänge, empirischen Befunde und Schlussfolgerungen kritisch prüft. Ein eigenständiges Kapitel haben nun »Besondere Forschungsmethoden« bekommen, die vorher Teil der Darstellung der diversen Wirkungsthesen bildeten. Zusammengefasst sind hier Langzeituntersuchungen, spezifische Feldstudien, Problemgruppenuntersuchungen sowie Meta-Analysen.

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Neu an der vorliegenden Auflage sind wiederum die drei folgenden Kapitel, bei denen es um »Einflussvariablen im Wirkungsprozess« (Kapitel 8), um »Wirkungen von Gewalt in Computerspielen« (Kapitel 9) und um »Wirkungen von Gewalt in weiteren Medien« (Kapitel 10) geht. Mit Inhaltsvariablen (Art der Gewaltdarstellung; Attraktivität des Täters; Konsequenzen für den Gewalttäter und für das Opfer; Waffen; Realismus etc.), Personenvariablen (z.B. Alter; Geschlecht; persönliche Eigenschaften) und mit dem sozialen Umfeld werden drei Dimensionen von Einflussvariablen benannt, die im Zusammenhang gesehen werden müssen und von denen dem sozialen Umfeld einer Person eine wichtige Moderatorfunktion bei der Ausbildung violenten Verhaltens zukommt.

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Das 9. Kapitel geht zunächst auf das Wirkungspotenzial von Computerspielen ein und verdeutlicht dabei die Schwierigkeiten des Untersuchungsdesigns interaktiver Medien, deren Gewaltgehalt auch vom Umgang durch den Nutzer abhängt. Mit den Abschnitten zu Wirkungen, Wirkungsthesen und zentralen Einflussvariablen werden einige der bereits vorgestellten Ansätze wiederholt. Allerdings werden hier medienspezifische Forschungsergebnisse präsentiert und bewertet. »Wirkungen von Gewalt in weiteren Medien« (Kapitel 10) setzt sich mit Wirkungen von Gewalt im Internet, in Musik und Musikvideos auseinander und bietet einen Exkurs zu »Gewalt und Werbung«.

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Diese beiden letztgenannten Kapitel unterbrechen die Darstellungssystematik insofern, als auf bereits vorgestellte Wirkungsthesen zurückgegriffen werden muss. Diese Doppelung hängt wohl damit zusammen, dass zunächst der Film und das Fernsehen im Mittelpunkt der Forschung und im Fokus der öffentlichen Kritik standen, und dass auf der Basis dieser Medien Wirkungsthesen formuliert wurden und sich mit der Einführung jedes neuen Mediums die entsprechenden Bedenken wiederholten. Für eine zukünftige Auflage, die möglicherweise weitere Medien mit einbeziehen kann, wäre eine Umstrukturierung wünschenswert, die die Wirkungsthesen und die diversen Medien näher zusammenrücken lässt.

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Das Kapitel 11 »Berichterstattung über reale Gewalt« wurde gegenüber der vierten Auflage (dort als siebtes Kapitel) ergänzt und umstrukturiert. Mit dem Unterkapitel »Gewaltberichterstattung und journalistische Ethik« (Kapitel11.3) wird das Problem der Mitverantwortung von Journalisten bei der Berichterstattung über Gewaltakte jetzt ganz deutlich benannt. Die Verantwortung geht sowohl in die Richtung des Schutzes der Opfer als auch in Richtung der Instrumentalisierung der Medien durch Gewalttäter. Neu an der aktuellen Auflage ist schließlich ein Kapitel zur »Wirksamkeit medienpädagogischer Maßnahmen« (Kapitel 12). Dies ist in doppelter Hinsicht angemessen. Denn aus der Medienpädagogik heraus sind immer wieder Anstöße zu Forschungen zur Mediengewalt angestoßen und auch realisiert worden. 3 Zweitens kann gerade ein Studienhandbuch zu einem gesellschaftlich so brennenden Thema nicht darauf verzichten, auf Strategien des Umgangs mit Gewaltdarstelllungen einzugehen und hier Eltern und Pädagogen wirksame Maßnahmen vorzustellen.

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Zentrale Befunde

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Die Schlussbemerkungen im letzten Kapitel bringen den derzeitigen Forschungsstand auf den Punkt:

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Auswirkungen von Mediengewalt auf Aggressionsverhalten sind am ehesten bei jüngeren, männlichen Vielsehern zu erwarten, die in Familien mit hohem Fernseh(gewalt)konsum aufwachsen und in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld (d.h. in Familie, Schule und Peer-Groups) viel Gewalt erleben (sodass sie hierin einen ›normalen‹ Problemlösungsmechanismus sehen), bereits eine violente Persönlichkeit besitzen und Medieninhalte konsumieren, in denen Gewalt auf realistische Weise und / oder in humorvollen Kontexten gezeigt wird, gerechtfertigt erscheint und von attraktiven, dem Rezipienten möglicherweise ähnlichen Protagonisten mit hohem Identifikationspotenzial ausgeht, die erfolgreich sind und für ihr Handeln belohnt bzw. zumindest nicht bestraft werden und dem Opfer keinen sichtbaren Schaden zufügen (›saubere Gewalt‹). Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass die genannten Faktoren nicht unabhängig voneinander sind, sondern interagieren können (indem z.B. Eigenschaften des Rezipienten sowie dessen Erfahrungen in seinem sozialen Umfeld die Wahrnehmung von Gewaltdarstellungen beeinflussen usw.). (S. 398)
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Dieses Fazit mag all diejenigen enttäuschen, die nach einem einfachen Ursache-Wirkungs-Schema Ausschau halten und / oder eine eindeutige Klärung der Mediengewaltproblematik erwarten. Alle anderen finden mit Gewalt und Medien eine Darstellung der Gewaltproblematik von ungewöhnlicher Breite, die kommunikationswissenschaftliche, psychologische, sozialwissenschaftliche Ansätze einbezieht bis hin zu den Ergebnissen der aktuellen Hirnforschung und die sich auch in einem Literaturverzeichnis von 50 Seiten dokumentiert. Die Ausführungen erfolgen mit der notwendigen Sachlichkeit, Differenziertheit und einem hohen Argumentationsniveau. Mit seiner systematischen und weitreichenden Darstellung ist dieses Studienhandbuch im Vorteil gegenüber Sammelbänden, die auf dem Markt sind. Dieser Band muss als Standardwerk in diesem Bereich bezeichnet werden und wird es für längere Zeit auch bleiben.



Anmerkungen

Gewalt im Fernsehen. Eine Analyse der potentiell kriminogenen Effekte. (Diss. Köln 1974) Köln, Weimar: Böhlau 1975.   zurück
An dieser Stelle sei ein kleiner Hinweis auf einen Fehler erlaubt, der sich eingeschlichen hat. Die Lebensdaten von Mary Shelly (1797–1851) wurden mit denen ihres Mannes Percy Bysshe Shelly (1792–1822) im Text gleichgesetzt.   zurück
Verwiesen sei hier nur auf Helga Theunert: Gewalt in den Medien – Gewalt in der Realität. 2., durchgesehene, mit einem Vorwort aktualisierte Auflage. München: KoPäd 1996.   zurück