Fassbinders Filmkosmos in 1368 Bildern

Lothar Schirmer und Juliane Lorenz zeigen im Bildband „R.W. Fassbinder. Die Filme 1966-1982“ die einzigartige Bildsprache des Regisseurs

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rainer Werner Fassbinder hat ein Werk geradezu monumentalen Ausmaßes hinterlassen: 44 als Regisseur realisierte Filme, 37 Drehbücher, 25 Bühneninszenierungen, 21 Filmrollen in Filmen anderer Regisseure, 14 Theaterstücke, daneben Hörspiele, Liedtexte, Essays. Dieses unvorstellbare Arbeitspensum bewältigte er in gerade einmal 17 Jahren.

Fassbinder war ein Workaholic, unangepasst, provokant, kreativ, genial, mit einem intuitiven Gespür für ungewöhnliche Kameraeinstellungen, tabufreie Dialogszenen und atmosphärische Bildinszenierungen. Daneben hatte sein Charakter auch eine dunkle Seite. Sein in den letzten Lebensjahren fataler Drogenkonsum, seine zwischenzeitlichen Eskapaden in die Rotlichtszenen von Paris und New York, seine glücklosen Liebesbeziehungen zu Männern und Frauen zeugten von einer gescheiterten Suche nach einem Leben, einem Halt außerhalb des Films. Seine letzte Beziehung zu Juliane Lorenz, die seit Chinesisches Roulette (1976) seine Filme schnitt und mit der er seine letzten Lebensjahre in München verbrachte, endete mit seinem frühen Tod am 10. Juni 1982.

Es war Juliane Lorenz, die später die Nachlassstiftung „Rainer Werner Fassbinder Foundation“ übernahm und das filmische Erbe des Regisseurs seitdem unermüdlich durch Fassbinder-Retrospektiven, Buchpublikationen, vor allem aber aufwendige Filmrestaurationsprojekte in aller Welt wachhält. Dabei ist sie als Stiftungsvorsitzende durchaus nicht unumstritten. Die Auseinandersetzung mit einigen der engeren, noch lebenden Fassbinder-Mitarbeiter ist unter dem vom Feuilleton geprägten Stichwort „Witwenstreit“ gut im Internet zu recherchieren.

Den vorliegenden Band hat Juliane Lorenz gemeinsam mit Lothar Schirmer konzipiert und herausgegeben. Den Verlag Schirmer/Mosel, dessen Programm durch opulente Fotobände geprägt wird, verbindet eine lange Beziehung zu Fassbinder und seiner Welt. 2013 erschien dort die Autobiographie des Fassbinder-Stars Hanna Schygulla, und bereits 1981 publizierte Schirmer/Mosel einen Band über „die Schygulla“ mit Bildern aus den Filmen Fassbinders. Der Regisseur hatte einen kontrovers aufgenommenen Essay beigesteuert, in dem er über seine Arbeit mit Hanna Schygulla und deren vorgeblich schwierigen Charakter schrieb. Dieser Essay ist im vorliegenden Band noch einmal veröffentlicht.

Um das Anliegen von Juliane Lorenz und Lothar Schirmer, die eigentümliche und einzigartige Bildsprache des Regisseurs zu visualisieren, im Medium Buch umsetzen zu können, wurden aus jedem der 44 Filme charakteristische Bildszenen, sogenannte Stills, ausgewählt und angeordnet. Da der erste Kurzfilm This Night von 1966 nicht erhalten ist, wurde ausnahmsweise ein schwarzer Still als Platzhalter abgebildet. Ansonsten finden sich je Film zwischen zehn (Das kleine Chaos, 1967) und 108 Standbilder (Berlin Alexanderplatz, 1981), welche die Atmosphäre der Filme gut wiedergeben.

Die Bilder, teils schwarzweiß, teils farbig, besitzen unterschiedliche Qualität, was auf die erhaltenen Kopien zurückzuführen ist. Für die Stills aus Wildwechsel (1972) beispielsweise konnten die Herausgeber lediglich auf eine VHS-Videokassette zurückgreifen: Aufgrund der seinerzeit rechtlichen Auseinandersetzungen mit dem Autor des zugrundeliegenden Theaterstücks, Franz Xaver Kroetz, welche zu einem Aufführungsverbot des Films in Kinos führten, ist bis heute unklar, ob noch Filmoriginale existieren. Den Bildfolgen vorangestellt sind eine knappe Inhaltsangabe zum jeweiligen Film sowie kurze Informationen, die Auskunft über Hauptdarsteller, Kameramann, Produzent, Drehbuchautor usw. geben. Natürlich ist der Band auch eine Hommage an die engagierten Mitarbeiter um Fassbinder, ganz besonders an die drei Kameramänner Michael Ballhaus, Xaver Schwarzenberger und Dietrich Lohmann, die einen maßgeblichen Anteil an der Einzigartigkeit der Filme haben.

Die ausgewählten Bilder vermögen durchaus, die Filmwelt Fassbinders mit ihrer ganz eigenen Bildsprache sichtbar und die sonderbare Faszination der Filme nachvollziehbar zu machen. Zugleich wird auch deutlich, wie zeitgebunden, deshalb jedoch nicht weniger relevant, diese Filmsprache ist: merkwürdig fern scheinen Ausstattung, Anmutung oder Schauplätze bei gleichzeitiger Zeitlosigkeit der Themen rund um Liebe, emotionale Abhängigkeit und gesellschaftliche Konventionen.

Daneben zeigt sich ebenso, wie sehr die Filme von ihren charakterstarken Hauptdarstellern geprägt werden. Der Band bietet ein Wiedersehen (oder eine erstmalige Begegnung, je nachdem, aus welcher Generation man kommt) mit den Großen der Fassbinder’schen Filmwelt: Hanna Schygulla, Irm Hermann, Harry Baer, Margit Carstensen, Günther Kaufmann, Brigitte Mira, Karlheinz Böhm oder Fassbinders frühe Ehefrau Ingrid Caven. Überdies ist man überrascht, Darsteller zu entdecken, die später in der deutschen Fernsehunterhaltung reüssieren sollten und die man nicht unbedingt mit Fassbinder in Verbindung gebracht hätte: etwa Elisabeth Volkmann, Walter Sedlmayr oder Ruth Drexel.

Was den Band über eine reines „Bilderbuch“ – wobei der Begriff durchaus positiv gemeint ist – hinaushebt, sind die beigegebenen Texte Rainer Werner Fassbinders. Zwar alle zuvor schon in verschiedenen Publikationen gedruckt, vermitteln diese Wesentliches über Fassbinders Ideenwelt und die intensive Auseinandersetzung mit sich und seinem Umfeld.

Die drei Lebensläufe, die Fassbinder zu unterschiedlichen Gelegenheiten verfasst hat, belegen, wie früh und kompromisslos Fassbinder das Filmemachen zu seinem einzigen Gravitationszentrum erklärt hat. In einem Essay setzt er sich mit der Romanvorlage Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin auseinander, beschreibt Schwierigkeiten des Textzugangs, aber auch die archetypische Rolle des Romans und seiner Hauptfigur Franz Biberkopf für sein gesamtes Filmschaffen. Und natürlich der Text über Hanna Schygulla: Er ist ein Manifest, aber zunächst einmal zu Fassbinder selbst. Auch wenn er über Schygulla schreibt, im Mittelpunkt des Texts steht er selbst, Fassbinder: narzisstisch, verstörend offen, sich selbst inszenierend als Bezwinger einer schwierigen, für egoistisch erklärten Schauspielerin, ohne ihr jedoch Zuneigung und Wohlwollen zu versagen. Fassbinders essayistische Texte zeigen eindrucksvoll, dass er, der im klassischen Sinne ohne Schulbildung war, mit Worten ebenso kunstvoll umgehen konnte wie mit Bildern. Zudem offenbaren sie viel über die Sicht des Filmemachers auf sich selbst und seine Umwelt, insofern bieten sie neben seinen Filmen einen weiteren Zugang zu seinem Schaffen insgesamt.

Der Band, der in 1368 Bildern das filmische Œuvre Fassbinders dokumentiert, ist in seiner Art sicherlich außergewöhnlich. Manchmal hätte man sich ein paar weitere Texte Fassbinders gewünscht oder detaillierte Informationen zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der einzelnen Filme. Dies jedoch hätte den Rahmen gesprengt und den Fokus womöglich auf ein reines Fachpublikum gelegt. Es bleibt ein gelungenes Buch über Fassbinders Filme, das man immer wieder gern zum Blättern und Stöbern in die Hand nimmt, weil es eindrucksvoll die Fülle und Reichhaltigkeit des Fassbinder’schen Filmkosmos‘ vor Augen führt. Zudem macht es Lust, sich das ein oder andere Werk (wieder) anzuschauen. Dies ist kein geringes Verdienst für ein Buch dieser Art – und sicherlich ganz im Sinne von Juliane Lorenz.

Titelbild

Lothar Schirmer / Juliane Lorenz (Hg.): R. W. Fassbinder. Die Filme. Ein illustriertes Werkverzeichnis aller 44 Kino- und Fernsehfilme 1966 bis 1982 mit 1368 Filmbildern und 46 Photographien.
Schirmer/Mosel Verlag, München 2016.
328 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783829606981

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