Am 15. Juli 1964 schreibt der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer an den Verleger und Leiter des Frankfurter Suhrkamp-Verlags Siegfried Unseld, der für seinen Autor Peter Weiss um Material aus dem Auschwitz-Prozess gebeten hat: „Es soll an nichts fehlen. Ich werde jetzt dafür sorgen, dass die in Ihrem Brief genannten Dokumente, Abbildungen usw. so schnell als möglich Ihnen zugehen. Sie und Peter Weiss ‚belästigen’ mich in keiner Weise; die Staatsanwaltschaft kennt ihre vorrangige Verpflichtung gegenüber Dichtern und Denkern!“ Fritz Bauer, der jüdische Remigrant und „Jurist aus Freiheitssinn“ (Gustav Radbruch), war eine Ausnahmegestalt in den Reihen der deutschen Justiz. Und während in diesen Tagen der Suhrkamp-Verlag nach Berlin aufbricht, legt Irmtrud Wojak in ihrer umfassenden Biographie Bauers überzeugend dar, dass zu seiner Zeit Frankfurt das intellektuelle Zentrum der alten Bundesrepublik gewesen sein dürfte.
Am 16. Juli 1903 wird Fritz Bauer in einer deutsch-jüdischen Familie in Stuttgart geboren. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft in München und Tübingen promoviert er 1927 in Heidelberg bei Karl Geiler, dem späteren hessischen Ministerpräsidenten, der ihm in seinem Gutachten eine „über das Fachwissenschaftliche hinausgehende allgemeine Geistesbildung“ bescheinigt (S. 104). Politisch fühlt sich Bauer bereits in diesen Jahren der Sozialdemokratie verpflichtet – eine Entscheidung, die seine Biographin besonders auf die persönliche Begegnung mit dem damaligen Vorsitzenden der SPD in Stuttgart, Kurt Schumacher, zurückführt (S. 89).
Seit 1930 am Stuttgarter Amtsgericht tätig, wird Bauer im März 1933 in „Schutzhaft“ genommen und für einige Monate im Konzentrationslager inhaftiert. Aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ im April 1933 aus dem Justizdienst entlassen, emigriert Bauer Ende 1935 nach Dänemark; nach dem deutschen Angriff auf Dänemark, im Oktober 1943, gelingt ihm die Flucht nach Schweden.
Trotz des „Glauben[s] an ein anderes Deutschland“ (S. 123) und einer „brennende[n] Neugier für die deutschen Dinge“ (S. 225) ist die Remigration nach 1945 für Bauer keine Selbstverständlichkeit, sondern eine schwierige persönliche Entscheidung. Detailliert rekonstruiert die Biographin die Zumutungen, welchen er im Exil auch über das Jahr 1945 hinaus ausgesetzt ist – insbesondere mangelnde berufliche Perspektiven und massive Ressentiments gegenüber den Emigranten im Nachkriegsdeutschland. Neun Jahre dauert es, bevor Bauers Anträgen auf Wiedergutmachung wegen der Ausfälle im Diensteinkommen und auf Haftentschädigung stattgegeben wird.
Erst 1949 gelingt es ihm mit Unterstützung Kurt Schumachers, dem „Schwebezustand“ ein Ende zu setzen. In Braunschweig wird ihm das Amt des Landgerichtsdirektors übertragen, ein Jahr später wird er dort zum Generalstaatsanwalt am Oberlandesgericht ernannt. „Ich bin zurückgekehrt“, bekennt er später, „weil ich glaubte, etwas von dem Optimismus und der Gläubigkeit der jungen Demokraten in der Weimarer Republik, etwas vom Widerstandsgeist und Widerstandswillen der Emigration im Kampf gegen staatliches Unrecht mitbringen zu können.“ (S. 232)
Vor diesem Hintergrund analysiert Wojak den Prozess gegen Otto Ernst Remer vor dem Braunschweiger Landgericht im März 1952. Remer, der als Kommandeur eines Berliner Wachbataillons für die Niederschlagung des 20. Juli 1944 maßgeblich Verantwortung trägt, beteiligt sich nach dem Krieg als führendes Mitglied der rechtsextremen Sozialistischen Reichspartei (SRP) an der gezielten Diffamierung des Widerstandes als Landesverrat. Bauer übernimmt die Anklagevertretung und macht die Legitimation des Widerstandes zum Gegenstand des Strafverfahrens. Er ist es auch, der eine Reihe von Historikern als Sachverständige einbezieht, „was ein Novum [ist] und künftig zu seiner Konzeption in NS-Verfahren gehören sollte“ (S. 270). Aus dieser Zeit weiß Wojak von zahllosen Drohbriefen an Bauer zu berichten, welche die verbreitete Ablehnung seiner Auffassung vom Widerstandsrecht dokumentieren. Heute dagegen wird der Remer-Prozess vielfach als „Meilenstein der juristischen Zeitgeschichte“ gewürdigt (S. 24).
1956 holt ihn der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn (SPD) als Generalstaatsanwalt ans Frankfurter Oberlandesgericht. Dass Zinn auch in den kommenden Jahren Bauer seine Unterstützung nie versagt, ist eine wichtige politische Voraussetzung für die Möglichkeit einer Anklageerhebung im Auschwitz-Prozess, der von 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main stattfindet. Vom Urteil zeigt sich Bauer schließlich enttäuscht. Dass die Angeklagten sich auf geltendes positives Recht auch im Unrechtsstaat berufen können, ist für ihn eine nachträgliche Legitimation willkürlicher Staatsgewalt. „Die Bedeutung des Auschwitz- Prozesses“, konstatiert Wojak hingegen nüchtern, „lag und liegt zunächst einmal darin, dass er überhaupt zustande kam.“ (S. 319)
1965 eröffnet Bauer die Voruntersuchung für einen weiteren exemplarischen Prozess gegen die in die Verbrechen verstrickte NS-Justiz. Dass er sich mit der Entscheidung, Ermittlungsverfahren gegen mehrere Dutzend Richter und Staatsanwälte im hessischen Justizdienst einzuleiten, viele Feinde gemacht hat, ist evident. Und dass die Zusammenarbeit mit den Behörden kommunistischer Staaten, in deren Archiven zahlreiche Beweisdokumente liegen, für ihn kein Tabu ist, isoliert ihn im Kreis der Kollegen. In den 1960er-Jahren ist Bauers Aufklärungsarbeit zunehmend von der Einsicht begleitet, als Remigrant in der Bundesrepublik ein Fremder zu bleiben. „In der Justiz lebe ich wie im Exil“, gesteht er dem Sozialdemokraten und späteren Braunschweiger Oberlandesgerichtspräsidenten Rudolf Wassermann (S. 363).
In der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1968 stirbt Bauer in seiner Frankfurter Wohnung. Die näheren Umstände – „im Badezimmer, im Wasser, tot“ – haben schon damals zahllosen Spekulationen Vorschub geleistet. „Man hat einen Herzschlag diagnostiziert, aber offenbar war auch Seelisches im Spiel: eine gewisse Ratlosigkeit, fast Angst vor dem Augenblick der Pensionierung“, resümiert der Schriftsteller und Freund Horst Krüger (S. 456). Wojak analysiert das ungelöste Rätsel seines Todes sachlich und unter Rückgriff auf die wenigen überlieferten Quellen. Weder Fremdeinwirkung noch Selbsttötung, sondern Einsamkeit und Erschöpfung stehen deshalb im Mittelpunkt ihrer Darstellung der letzten Jahre.
Die „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei) der Bonner Republik ist in den letzten Jahren detailgenau und überzeugend analysiert worden. Immer wieder übertönt worden ist dies jedoch von Stimmen, welche die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik erzählt haben. Demgegenüber erweist sich die Stärke des biographischen Zugriffs, denn wie ist es bestellt um eine Demokratie, die ihre leidenschaftlichsten Verteidiger vor Anfeindungen nicht schützen kann? Die strafrechtliche Bewältigung der NS-Vergangenheit hat Bauer so nachdrücklich eingefordert wie kaum ein anderer in den Reihen der bundesdeutschen Justiz. „Dann kam der Auschwitz-Prozess und mit ihm die Drohungen, anonyme Telefonanrufe, Beschimpfungen“, berichten Vertraute nach seinem Tod.
Auch nach der Lektüre dieser umfangreichen biographischen Würdigung bleiben Fragen offen, denn ein persönlicher Nachlass ist nicht überliefert (S. 27). Netzwerke und Freundschaften, zumal durch Flucht und Emigration vielfach unterbrochen, sind unter diesen Umständen nur schwer zu erschließen gewesen. Deutlich wird dennoch: Ein Privatleben scheint es für Bauer nicht gegeben zu haben. Sein Arbeitspensum muss unvorstellbar groß gewesen sein.
Irmtrud Wojak hat ein zentrales Kapitel deutscher Zeitgeschichte sorgfältig und umfassend rekonstruiert – „das Exemplarische seines von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, von Verfolgung und Widerstand geprägten Lebens, und zugleich das streitbare historisch-politische Erbe, das er hinterlassen hat“ (S. 26). Ihr gelingt das Portrait eines überzeugten Demokraten und zunehmend einsamen Einzelkämpfers. Das Lebenswerk, aber auch den seelischen Schmerz der Remigranten in diesem Land hat die Biographin Fritz Bauers eindrucksvoll und einfühlsam gewürdigt.