Geschrieben am 23. August 2014 von für Bücher, Crimemag

Orkun Ertener: Lebt

Orkun_Ertener_LebtTrügerisches Puzzle

Orkun Ertener gehört zu einer Reihe von Fernsehautoren, die in der jüngsten Zeit ihr Herz für den Roman entdecken. Logisch: glatte, routinierte Schreiber sind in den auf Arbeitsvermeidung und geringes Risiko erpichten Verlagen gern gesehen. Wer im TV-Geschäft funktioniert, macht auch auf dem literarischen Feld keinen Ärger. Nicht, dass dabei zwangsläufig schlechte Prosa rauskommen müsste. Von Erteners „Lebt“ jedenfalls ist Joachim Feldmann sehr angetan.

Der Teufel in Menschengestalt ist ein sympathischer Typ. Kein Pferdefuß, kein Schwefelgeruch, stattdessen „leuchtend blaue, fröhliche Augen“ hinter einer „zarten goldfarbenen Nickelbrille“, die schulterlangen Haare zurückgekämmt, legere Kleidung: Ein bisschen erinnert der erheblich jünger wirkende 63-Jährige „an diesen Philosophen aus dem Fernsehen“. Als dem Ghostwriter Can Evinman diese Ähnlichkeit auffällt, ist es für ihn schon fast zu spät. Einen Menschen hat er bereits umgebracht, ein weiterer wird folgen. Was er für sein Leben hielt, existiert nur noch in Bruchstücken, seine Biografie ist das Ergebnis einer diabolischen Manipulation. Dass dies ausgerechnet jemandem passiert, der sein Geld damit verdient, die ungeordneten Erinnerungen Prominenter in eine überzeugende Geschichte zu überführen, ist nicht die einzige bitter ironische Note in „Lebt“, dem Debütroman des bislang für seine Fernseharbeit („Kriminaldauerdienst“) bekannten Autors Orkun Ertener.

Ghostwriter & Nazi

Die Geschichte beginnt mit einem ganz normalen Auftrag. Evinman soll der bekannten Schauspielerin Anna Roth beim Verfassen ihrer Autobiografie zur Hand gehen. Es ist der richtige Zeitpunkt. Die studierte Ärztin, deren vierzigster Geburtstag bevorsteht, ist nicht nur ein beliebter Fernsehstar, sondern hat sich auch durch ihren engagierten Einsatz für eine international tätige humanitäre Organisation einen Namen gemacht. Dass sie mit einem der reichsten Männer des Landes verheiratet ist, spielt dabei keine geringe Rolle.

Doch die Arbeit gerät ins Stocken. Offenbar hat eine Indiskretion seiner Klientin verletzt, denn sie sagt bereits verabredete Interviewtermin unter einem Vorwand ab. Stattdessen meldet sich eine Assistentin ihres Mannes bei ihm und bietet einen neuen, ziemlich privaten Auftrag an. Evinman soll die Erinnerungen ihres 100-jährigen Großvaters, eines ehemaligen SS-Offiziers und Kriegsverbrechers, aufschreiben. An eine Veröffentlichung sei nicht gedacht. Der Ghostwriter wird neugierig und lässt sich auf ein erstes Gespräch ein. Von da an ist nichts mehr so, wie es war. Der greise Ex-Nazi mit einem ungebrochen positiven Verhältnis zu seiner Vergangenheit war während des Krieges in Thessaloniki stationiert. Und die grausame Geschichte, die er ohne irgendeine Gefühlsregung erzählt, berührt Evinman, dessen Eltern ums Leben kamen, als er acht Jahre alt war, zutiefst, verspricht sie doch Aufschluss über die Herkunft seines Vaters.

Geschichte & Spannung

Offenbar stammte er aus einer Familie von Dönme, so werden die Mitglieder einer Religionsgemeinschaft von zum Islam konvertierten Juden genannt, deren Ursprünge im osmanischen Saloniki des 17 Jahrhunderts liegen. 1923 mussten sie im Zuge des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches ihre Heimat verlassen, wurden aber in der Türkei nie wirklich akzeptiert, im Gegenteil. Viele gingen ins Ausland, einige auch nach Deutschland, was 1942, als die türkische Regierung ihnen die Staatsbürgerschaft entzog, ihr Verhängnis wurde.

Ohne dass es aufdringlich didaktisch wirken würde, gelingt es Orkun Ertener, den historischen Hintergrund seiner Romanhandlung auszuleuchten. Gleichzeitig erweist er sich als Meister im Aufbau von Spannung. Wie Can Evinman, der als Profi für gute Geschichten einen großartigen Ich-Erzähler abgibt, fügt der Leser Puzzleteil um Puzzleteil zusammen, um dann verblüfft festzustellen, dass ein so entstandenes Bild auch trügerisch sein kann. Am Ende sieht er sich mit der absoluten Amoralität konfrontiert, nimmt aber erleichtert zur Kenntnis, dass der Held deren Hybris durchschaut und weiß, was er zu tun hat.

Joachim Feldmann

Orkun Ertener: Lebt. Roman. Frankfurt am Main: Scherz 2014. 640 Seiten. 19,99. Verlagsinformationen zu Buch und Autor.  Joachim Feldmann bei Am Erker und zu seiner Kolumne Mord und Totschlag 55.

Tags :