Geschrieben am 11. Januar 2012 von für Kunst, Litmag

Kunst: Die andere Seite des Mondes: Künstlerinnen der Avantgarde

Weit mehr als reine Werkbetrachtung

– Im vergangenen Jahr standen, kulturell betrachtet, die Frauen im Mittelpunkt. Diesen Eindruck konnte man jedenfalls bekommen: Der „Guardian“ stellte die These „Men can’t do Pop anymore“ auf, in der Kunsthalle Wien wurden in einer großen Schau die Werke von Pop Art-Künstlerinnen gezeigt (zur CM-Besprechung) und in Düsseldorf kann man noch bis zum 15.1.2012 die Ausstellung „Die andere Seite des Mondes. Künstlerinnen der Avantgarde“ besuchen. Die auffällige Konzentration auf Künstlerinnen zeigt aber auch, dass es heute noch immer nicht selbstverständlich ist, die Werke weiblicher und männlicher Maler, Bildhauer, Tänzer, etc. gleichberechtigt beziehungsweise ohne besondere Berücksichtigung des Geschlechts zu betrachten. Von Christina Mohr

Wie in der Pop Art und fast allen anderen Kunststilen denkt man auch bei der sogenannten Avantgarde zunächst an ihre männlichen Protagonisten: Ob Dada-, Futur-, Kub-, Expression-, Surreal-, Konstruktiv- oder Kubofuturismus – Namen wie Hugo Ball, Hans Arp, Pablo Picasso, Franz Marc und Salvador Dalí gehen leicht über die Lippen, weibliche Pendants zu finden, ist erst mal schwierig. Es scheint beinah müßig und dennoch ist es notwendig, der vermeintlichen männlichen Übermacht ein herzhaftes „natürlich gab es auch Anfang des 20. Jahrhunderts jede Menge wichtiger Künstlerinnen!“ entgegenzuschmettern.

In Florence Henris Wohnung in Paris Von links: Robert Delaunay, Florence Henri, Sophie Taeuber-Arp, Sonia Delaunay, Hans Arp, Paris, ca. 1931. Foto 1

Die Kuratorinnen der Düsseldorfer Ausstellung haben acht Frauen ausgewählt, deren Werke maßgeblich die ästhetische Entwicklung in Europa mitgestalteten: Claude Cahun (1894–1954), Sonia Delaunay (1885–1979), Germaine Dulac (1882–1942), Florence Henri (1893–1982), Hannah Höch (1889–1978), Katarzyna Kobro (1898–1951), Dora Maar (1907–1997), Sophie Taeuber-Arp (1889–1943). Die genannten Künstlerinnen arbeiteten als Filmemacherinnen, Fotografinnen, Designerinnen und Bildhauerinnen.

Sonia Delaunay und Sophie Taeuber-Arp, August 1929. Foto 2

Die bekannteste ist sicherlich Hannah Höch, deren mit spitzer Schere und noch spitzerer Beobachtungsgabe gefertigten Collagen die politische und gesellschaftliche Situation des Vor-Nazi-Deutschland aufs Korn nahmen und bis in heutige Kunstformen nachwirken. Auch die kühnen Stoffdesigns von Sonia Delaunay und Germaine Dulacs wegweisende Filmarbeiten lassen die heutige Museumsbesucherin über die wahrhaft futuristischen Entwürfe staunen.

Die Texte, Fotografien und Selbstporträts von Claude Cahun (eigentlich Lucy Schwob) sind neben ihrer künstlerischen Experimentierfreudigkeit vor allem als frühe feministische beziehungsweise genderkritische Statements interessant: Cahun wählte einen möglichst geschlechtsneutralen Künstlernamen und inszenierte sich auf ihren Fotografien bewusst unweiblich und „hässlich“. Sie lebte offen in einer lesbischen Beziehung und beklagte, dass es kein „drittes Geschlecht“ gäbe, denn ein solches würde sie am besten charakterisieren.

Claude Cahun, Selfportrait (reflected in mirror), ca. 1928. Foto 3

Ähnlich unerschrocken, aber in ihrer Gestaltung weitaus surrealer und rätselhafter sind die Arbeiten Dora Maars (gebürtig Henriette Theodora Markovitch), die – bedauerlicherweise – vor allem als Muse und Geliebte Pablo Picassos in die Geschichte einging: Er porträtierte sie in seinen berühmten Gemälden „Weinende Frau“ und „Dora Maar mit Katze“. Aber Maars Fotografien sind nicht minder spektakulär als Picassos Bilder: Sie löste nie das Rätsel um ihr „Bildnis von Ubu“, das mutmaßlich einen Gürteltier-Fötus zeigt und wie viele andere ihrer so gruseligen wie faszinierenden Werke einen deutlichen Einfluss auf David Lynchs Filme, etwa wie „Eraserhead“, hatte.

Dora Maar, Sans Titre (Main-coquillage), 1934, Silbergelatineabzug, Fotomontage, 37,5 x 27 cm. Foto 4

Das bei Dumont erschienene Begleitbuch zur Ausstellung präsentiert die wichtigsten Arbeiten der acht Künstlerinnen und stellt sie in ausführlichen, aber nie geschwätzigen Texten vor. Besonderes Augenmerk legten Kuratorinnen und Autorinnen auf die Verbindungen der Künstlerinnen untereinander – heute würde man von Netzwerken sprechen.

Sonia Delaunay, Chanteur Flamenco (dit Petit Flamenco), Flamencosänger (genannt Kleiner Flamenco), 1916. Foto 5

Die Kunstwelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts war klein und so lernte man sich beinah zwangsläufig kennen: Sophie Taeuber erfand im Zürcher Club „Voltaire“ den dadaistischen Tanz und heiratete Hans Arp, der gerne feierte und Leute um sich hatte, z. B. die Delaunays aus Paris. Robert Delaunay war damals ein gefeierter Maler, seine Gattin Sonia kämpfte sich mit ihren Textildesigns mühsam aus seinem Schatten. Sophie Taeuber-Arp und Sonia Delaunay teilten das Schicksal, „Anhängsel“ berühmter Männer zu sein, was zeitlebens die unvoreingenommene Rezeption ihrer Arbeit beeinträchtigte. „Freie“ Frauen, die wie Katarzyna Kobro, Hannah Höch, Germaine Dulac, Florence Henri oder Claude Cahun keine prominenten Gatten hatten, lesbisch lebten oder ihr Privatleben geheim hielten, hatten es nicht unbedingt leichter, wurden als „Mannweiber“, Karrieristinnen oder Rabenmütter verunglimpft.

Sophie Taeuber-Arp, Bar Aubette (Rekonstruktion), 1926-28/1998, Teil des Gesamtkomplexes Aubette in Strassburg, Entstehungszeit: 1926/28. Foto 6

Man sieht: Die Geschichte der Avantgarde-Künstlerinnen geht über die reine Werkbetrachtung weit hinaus. Wer es noch schafft, sollte unbedingt nach Düsseldorf reisen (oder ab Februar nach Dänemark); allen anderen sei die Lektüre des prächtig ausgestatteten Ausstellungskataloges heftig empfohlen.

Christina Mohr

Die andere Seite des Mondes. Künstlerinnen der Avantgarde. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K20 Grabbeplatz, Düsseldorf, 22. Oktober 2011 bis 15. Januar 2012 (anschließend Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, Dänemark, 10. Februar bis 28. Mai 2012). Mehr hier.

Susanne Meyer-Büser (Hg.): Die andere Seite des Mondes. Künstlerinnen der Avantgarde. Dumont Verlag 2011. 288 Seiten. 39,95 Euro.

Foto 1: In Florence Henris Wohnung in Paris Von links: Robert Delaunay, Florence Henri, Sophie Taeuber-Arp, Sonia Delaunay, Hans Arp, Paris, ca. 1931.  Foto: Galleria Martini & Ronchetti, Genua. © Kunstsammlung NRW
Foto 2: Sonia Delaunay und Sophie Taeuber-Arp wahrend der gemeinsamen Sommerferien in Carnac, posierend in der von Sonia Delaunay entworfenen Strandmode, August 1929. Foto: © Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber- Arp e.V., Remagen Rolandswerth. © Kunstsammlung NRW
Foto 3: Claude Cahun, Selfportrait (reflected in mirror), ca. 1928, Fotografie, 18 x 24 cm, Jersey Heritage Collections, © Jersey Heritage Trust. Foto: © Jersey Heritage Trust. © Kunstsammlung NRW
Foto 4: Dora Maar, Sans Titre (Main-coquillage), 1934, Silbergelatineabzug, Fotomontage, 37,5 x 27 cm (Foto), Centre Pompidou, Mnam/Cci, Paris, erworben 1991, © VG Bild-Kunst, Bonn 2011. Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2011. © Kunstsammlung NRW
Foto 5: Sonia Delaunay: Chanteur Flamenco (dit Petit Flamenco), Flamencosänger (genannt Kleiner Flamenco), 1916, Gouache, Öl und Enkaustik auf Papier, 36,1 x 46,1 cm, CAM – Calouste Gulbenkian Foundation Collection, Lissabon, © L&M Services B.V. The Hague 20110604. Foto: © L&M Services B.V. The Hague 20110604
Foto 6: Sophie Taeuber-Arp, Bar Aubette (Rekonstruktion), 1926-28/1998, Teil des Gesamtkomplexes Aubette in Strassburg, Entstehungszeit: 1926/28, Holz, MDF-Platten, Farbe Sammlung Haus Konstruktiv, Schenkung des Vereins „Swiss, made“, der Schweizerischen Stiftung Pro Helvetia und des Bundesamtes für Kultur, Foto: A. Burger. Foto: © Kunstsammlung NRW

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