Geschrieben am 4. November 2018 von für Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special UNO

Judith Schalansky: „Verzeichnis einiger Verluste“

schalansky cover 42824Das Vergehen unvermeidlich

Aus dem Vorwort von Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“

Allein schon das 16-seitige Vorwort wäre eines Sonderdruckes auf besonders säurebeständigem Papier wert. Judith Schalansky schlägt darin einen stupenden Bogen zwischen Verlieren und Verschwinden, Vergessen und Zerstören,  Erinnern und Bewahren, öffnet den Raum für ihr in langjähriger Arbeit entstandenes „Verzeichnis einiger Verluste“, für das sie sich einen Untertitel versagt. Einfach nur: Verzeichnis einiger Verluste, als wäre es ein Katalog, ein Register. Das aber ist es natürlich nicht. Vielmehr handelt es sich um eine bis an die Schmerzgrenze des Schönen reichhaltige und kundige Kulturgeschichtes des Verlierens. Mit freundlicher Erlaubnis von Autorin und Verlag präsentieren wir Ihnen einen Auszug aus dem Vorwort von „Verzeichnis einiger Verluste“.

Rezension von Alf Mayer nebenan in diesem Verlust-Special. Hier nun Judith Schalansky:

Schreibend wie lesend kann man sich seine Ahnen aussuchen und der herkömmlichen, biologischen Überlieferung eine zweite, geistige Vererbungslinie gegenüberstellen.

Wenn man das Menschengeschlecht selbst, wie bisweilen vorgeschlagen, als das die Welt archivierende Organ einer Gottheit verstehen will, welches das Bewusstsein des Universums bewahrt, dann erscheinen die Myriaden geschriebener und gedruckter Bücher – ausgenommen natürlich jener, die von Gott selbst oder seinen zahlreichen Emanationen verfasst wurden – als Versuche, dieser vergeblichen Pflicht nachzukommen und die Unendlichkeit aller Dinge in der Endlichkeit ihrer Körper aufzuheben.

Womöglich ist es nur meiner mangelnden Vorstellungskraft zuzuschreiben, dass mir nach wie vor das Buch als vollkommenstes aller Medien erscheint, auch wenn das seit einigen Jahrhunderten verwendete Papier nicht so haltbar wie Papyrus, Pergament, Stein, Keramik oder Quarz und nicht einmal die am häufigsten gedruckte und in die meisten Sprachen übersetzte Schriftsammlung der Bibel vollständig überliefert auf uns gekommen ist: ein Multipel, das die Chance auf seine Überlieferung für die Dauer einiger Menschengenerationen erhöht, eine offene Zeitkapsel, in der die Spuren der seit seiner Niederschrift und seiner Drucklegung vergangenen Zeit mit verzeichnet sind und in der jede Ausgabe eines Textes sich als ein der Ruine nicht unverwandter, utopischer Raum erweist, in dem die Toten gesprächig sind, die Vergangenheit lebendig, die Schrift wahr und die Zeit aufgehoben ist. Das Buch mag den neuen, scheinbar körperlosen, sein Erbe beanspruchenden, in überbordendem Maß Information zur Verfügung stellenden Medien in vielem unterlegen und ein im ureigenen Sinn des Wortes konservatives Medium sein, das gerade durch die Abgeschlossenheit seines Körpers, in dem Text, Bild und Gestaltung vollkommen ineinander aufgehen, wie kein anderes die Welt zu ordnen, manchmal sogar zu ersetzen verspricht. Die gedankliche Aufspaltung der Religionen in einen sterblichen und einen unsterblichen Teil – den Körper und die Seele – mag eine der tröstlichsten Strategien darstellen, Verlust zu verwinden. Die Untrennbarkeit von Träger und Inhalt jedoch ist für mich der Grund, warum ich Bücher nicht nur schreiben, sondern auch gestalten will.

schalansky_judith © Susanne Schleyer

Judith Schalansky (Foto © Susanne Schleyer)

Wie alle Bücher ist auch das vorliegende Buch von dem Begehren getrieben, etwas überleben zu lassen, Vergangenes zu vergegenwärtigen, Vergessenes zu beschwören, Verstummtes zu Wort kommen zu lassen und Versäumtes zu betrauern. Nichts kann im Schreiben zurückgeholt, aber alles erfahrbar werden. So handelt dieser Band gleichermaßen vom Suchen wie vom Finden, vom Verlieren wie vom Gewinnen und lässt erahnen, dass der Unterschied zwischen An- und Abwesenheit womöglich marginal ist, solange es die Erinnerung gibt.

Und für wenige kostbare Momente erschien mir während der langjährigen Arbeit an diesem Buch die Vorstellung, dass das Vergehen unvermeidlich ist, genauso tröstlich wie das Bild seiner in den Regalen verstaubenden Exemplare.

 


Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Ihr Werk, darunter der international erfolgreiche Bestseller Atlas der abgelegenen Inseln sowie der Roman Der Hals der Giraffe, ist in mehr als 20 Sprachen übersetzt und wurde vielfach ausgezeichnet. Sie ist Herausgeberin der Naturkunden und lebt als Gestalterin und freie Schriftstellerin in Berlin. Ihr erstes Buch war das über 700 Seiten starke typografische Kompendium Fraktur mon amour, eine Liebeserklärung an eine Schriftart, heute hoch gehandelt.

Textauszug aus: Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. Hardcover, Fadenheftung, Gestaltung: Judith Schalansky, mit 14 Abbildungen. 252 Seiten
, 24 Euro.  

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