Whalefall - Im Wal gefangen
- Festa
- Erschienen: Mai 2024
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Leibhaftiger Auslöser gewaltiger Bauchschmerzen
Im Alter von 17 Jahren kehrt Jay Gardiner nach Monastery Beach zurück. Dort an der Montery Bay und somit direkt an der kalifornischen Pazifikküste ist er geboren und aufgewachsen. Jay hasst den Ozean, weil er seinen verstorbenen Vater hasst. Mitt Gardiner liebte das Meer und verbrachte möglichst viel Zeit auf dem und unter Wasser. Seine Familie betrachtete er als Mühlstein, der ihm um den Hals hing und sein Leben als Freigeist beendete.
Daraus machte er besonders in Anwesenheit seines Sohnes keinen Hehl. Mitt hielt Jay für einen Schwächling, der seine Lektionen über das Leben bewusst ignorierte. Jay wiederum verachtete den Vater, der nie einen Job halten konnte und sozial wie ökonomisch immer tiefer ins Abseits geriet. Nach einem letzten Streit war Jay daheim ausgezogen und auch nicht mehr heimgekehrt, als Mitt von einer tödlichen Krankheit befallen wurde. Dies werfen ihm die Familie und Mitts Freunde so intensiv vor, dass Jay beschließt, sich sowohl zu rehabilitieren als auch endlich mit dem Vater abzuschließen. Im Angesicht seines Todes war Mitt auf die Montery Bucht hinausgefahren und hatte sich ertränkt. Jay will nach seinen Knochen tauchen.
Das Tauchen in der Montery Bucht ist aufgrund gefährlicher Strömungen verboten. Jay schleicht sich heimlich ins Wasser, weshalb niemand weiß, dass er sich dort aufhält. Das wird ihm zusätzlich zum Verhängnis, als er in eine bizarre Bredouille gerät: Unweit der Küste jagt ein gewaltiger Pottwal einen Riesenkalmar. Jay gerät zufällig dazwischen. Wal und Tintenfisch kämpfen miteinander, der Wal siegt, und als er den Kalmar schluckt, gerät auch Jay in den Sog und findet sich im Magen des Wals wieder. In seiner Sauerstoffflasche hat er Atemluft für eine Stunde. Tief in den Eingeweiden des Giganten muss er überlegen, wie er entkommen kann; die Zeit läuft, der Wal merkt, dass ihm sein letzter Bissen nicht bekommt, und der Magen beginnt mit seiner Verdauungsarbeit ...
Jede Idee taugt zur Ausführung
Viele Werke der Literatur sind aus einem Gedanken entstanden, der den oder die Autor/in nicht mehr losließ. Er wächst sich zur Idee aus, wird umgesetzt und sorgt für Unterhaltung und Erstaunen; dies vor allem, wenn dahinter ein wahrlich groteskes Szenario steht. Für Daniel Kraus kam der Aha-Moment, als er im Internet auf die Geschichte eines Trottels stieß: Der war beim Hummerfang dem Maul eines Buckelwals zu nahe gekommen und wurde versehentlich verschluckt, als besagter Wal eine Schwimmbadfüllung Wasser einsog, um die darin wimmelnden Kleinkrebse auszusieben. Angewidert spie der Wal umgehend den für ihn ungenießbaren Trottel aus, der dennoch zum Internet-Helden aufstieg.
In Kraus’ Gehirn begannen jene Zahnräder zu kreisen, die einen Schriftsteller ausmachen. Die Legende vom biblischen Jonas war ihm ebenso bekannt wie Pinocchios Aufenthalt im Bauch des Wals Monstro. Nun stellte sich Kraus die Frage, ob es tatsächlich möglich wäre, die Rutschpartie durch einen Walschlund zu überstehen. Er ließ dem Taten folgen und recherchierte, wobei er ohne Scheu renommierte Meereswissenschaftler und Spezialisten kontaktierte. Sie reagierten gern auf Kraus’ ungewöhnliche, aber intellektuell anregende Anfrage, weshalb der Autor u. a. erfuhr, dass nur ein Pottwal in der Lage ist, einen Menschen komplett = unzerkaut zu schlucken, wie es für die geplante Story erforderlich war.
Also vertiefte sich Kraus in die Anatomie dieses Tieres und kannte sich schließlich in dessen Eingeweiden so gut aus, dass er sie im Rahmen einer Erzählung lebensnah als Kulisse einsetzen konnte. Selbstverständlich gestattete er sich bzw. seinem unfreiwilligen Helden Jay Gardiner einige Freiheiten, wobei er von der Tatsache profitierte, dass niemand wirklich weiß, wie es einem im Magen eines Pottwals ergehen würde.
Die perfekte Todesfalle
Kraus kann sich rühmen, eine (beinahe) perfekte Todesfalle geschaffen zu haben. Literatur, Kino und Fernsehen leben von Geschichten, in denen Pechvögel in Situationen geraten, die eigentlich tödlich enden müssten. Dass es anders kommt, sorgt für einen Spannungsfaktor, der zusätzlich durch die ständige Schilderung der lebensfeindlichen Umgebungseinflüsse unterstrichen wird. In unserem Fall ist der Magen eines Pottwals ungeachtet der Gesamtgröße des Tiers eben keine geräumige Höhle, in der man sich bewegen kann. Jay liegt eingeklemmt in einem Sack, der mit brennenden Verdauungssäften gefüllt und mit gewaltigen Muskeln versehen ist, die ihn, den Fremdkörper, in die Zange nehmen und buchstäblich zerquetschen wollen.
Der Wal gedenkt nicht Jay auszuspucken, sodass der sich vor Ort eine Fluchtlösung ausdenken muss. Die Zeit ist begrenzt, denn da genannter Magen nicht mit Sauerstoff, sondern mit giftigem Methan gefüllt ist (was im Finale wichtig wird), kann Jay nur solange leben, wie die Luft in der umgeschnallten Stahlflasche reicht, die sich natürlich dramatisch schnell leert.
Kraus findet die richtigen Worte, um den Horror zu beschreiben, der Jay überfällt, als ihm seine Situation bewusst wird. Ungeachtet seines Lebenskummers will er leben. Der Mensch ist evolutionsbedingt ein überaus einfallsreiches Wesen. Nachdem Kraus seinen Protagonisten systematisch jeglicher Hilfsmittel beraubt und ihn mit den Gegebenheiten seines ungastlichen Aufenthaltsortes bekannt gemacht hat, beginnt eine Phase des Nachdenkens und Planens: Kraus hat Jay nicht gänzlich ‚nackt‘ unter Wasser gehen lassen. In diversen Taschen trägt er Ausrüstungsgegenstände mit sich, die ein Taucher benötigt. Die Auswahl ist karg und nicht dafür geschaffen, sich aus dem Bauch eines Wals zu befreien. Deshalb besteht die Herausforderung darin, diese wenigen Geräte und Objekte einfallsreich zweckzuentfremden.
Die Stimme seines Herrn
Bis Jay im Magen des Wals landet, lernen wir ihn als unglücklichen, aus der Bahn geworfenen Jugendlichen kennen. Ihn zeichnet ein klassischer Vater-Sohn-Komplex, denn solange er lebte, stand Mitt Gardiner hoch, übermächtig und stetig unzufrieden über ihm. Irgendwann kam es zum finalen Konflikt, der Vater und Sohn trennte. Nun ist Mitt tot, und obwohl Jay es sich nicht eingestehen mag, vermisst er ihn.
Aber jede Münze hat zwei Seiten. Dass Mitt ihn auf seine Weise erziehen wollte und sogar liebte, hat Jay in seiner Verbitterung nie begriffen. Erst in seiner Notlage wird ihm klar, wie viel er vom Vater gelernt hat und jetzt anwenden kann. Uns Lesern hat Autor Kraus schon früher angedeutet, dass Mitt Gardiner als Versorger, Gatte und Vater überfordert bis unfähig, seine Liebe zum Meer jedoch ehrlich und ungetrübt war. Mitt sorgte sich um die Umweltverschmutzung und ihre Folgen, viele seiner Attacken richteten sich jene, die in dieser Hinsicht sündigten. Jay konnte dies nicht nachvollziehen oder gar erkennen, wieso Mitt sein Ende im Ozean gesucht hat.
Kraus bemüht sich, seinem Garn eine ‚menschliche‘ Komponente zu geben. Leider gehört er zu jenen Erzählern, die dem Plot nicht wirklich trauen: Jays Überlebenskampf im Walmagen ist spannend genug. Zwar bemüht sich Kraus, die Vorgeschichte zu dramatisieren, aber faktisch bleibt es bei einer Kette einschlägiger Klischees. Mitt kann nicht wirklich mit dem Wal konkurrieren - dies erst recht, als er Jay wie ein (übellauniger) Obi-Wan Kenobi aus dem Off geisterhaft Ratschläge zuzuflüstern beginnt. Abgesehen davon mag „Whalefall“ eine Schnapsidee umsetzen und mit Klischees arbeiten, doch daraus entsteht eine spannende Geschichte.
Fazit:
Eine absurde Idee wird kenntnisreich mit Leben gefüllt (sowie mit einer Hintergrundgeschichte verbrämt, die dem gegenüber abfällt) und sorgt für eine spannende Handlung, deren grundsätzlicher Plot irgendwie klassisch, aber auch bewährt ist und auf unerwartete Weise umgesetzt/erzählt wird.
Daniel Kraus, Festa
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