Nachrichten vom Mars
- Edition Dornbrunnen
- Erschienen: März 2020
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Rotes Rätsel: lockend, aber frustrierend fern
17 Erzählungen (und ein Essay) thematisieren den Mars, der jenseits der Erde um die Sonne kreist, schon früh das Interesse des Menschen erregte und deshalb in die Trivialliteratur einzog. „Nachrichten vom Mars“ beweist, dass dies schon Jahrzehnte vor dem Siegeszug der US-amerikanischen „Pulp“-Magazine geschah, deren Autoren den vierten Planeten in einen Ort exotischer Abenteuer verwandelten: Sobald der Mensch seinen Blick in den Himmel richtete, dürfte ihm aufgefallen sein, dass eines der dort aufscheinenden Lichter von roter Farbe und deshalb etwas Besonderes war. Es dauerte mehr als eine Weile, bis man in der Lage war, wissenschaftlich Ordnung in besagten Himmel zu bringen, also beispielsweise zwischen Sternen und Planeten zu unterscheiden.
Irgendwann stand jedoch fest, dass der rote Punkt wie die Erde die Sonne umkreist und ebenfalls ein Planet ist. Er erhielt vermutlich viele Namen, doch durchgesetzt hat und geblieben ist „Mars“. So nah schien er zu sein und war doch so schwer zu betrachten. Die Sehnsucht gab der Fantasie die Sporen. Wer mochte dort oben leben? Dass dem so war, stand quasi fest, sobald man den Mars mit Hilfe aufwändiger Teleskope betrachten konnte - scheinbar, denn wie wir inzwischen wissen, waren Knick-Pupillen, Interpretationsfehler und Wunschdenken verantwortlich für Mars-Bilder, die der toten, durch UV-Strahlung sterilisierten Oberflächen-Realität nicht standhielten.
Allerdings sorgten jene Jahrzehnte, in denen der Mensch sich ‚seinen‘ Mars schuf, jenseits der Naturwissenschaften für kulturhistorische Relevanz. Der rote Planet wurde zum Spiegel, in den zahlreiche Autoren ihre Leser blicken ließen, weil sie ihn als ideale Arena erkannten: Was uns auf Erden beschäftigte = störte = irritierte, konnte als Problem ‚ausgegliedert‘ und auf den Mars projiziert werden. Der diente als Petrischale, in der sich exemplarisch entwickelte, was die Erdbewohner nachahmen oder vermeiden sollten.
Planet als Leinwand
Die hier gesammelten Texte stammen aus einer Zeit, als der Mars Neuland für die Forschung war. Die erwähnten Teleskope halfen nur ansatzweise, die Oberfläche zu untersuchen. Zu weit war der Planet entfernt, um von der zeitgenössischen Technik erfasst zu werden. Diesem Umstand verdanken wir einen der bekanntesten Irrtümer in der Geschichte der Mars-Forschung: die mutmaßliche Existenz eines ausgedehnten Kanalnetzes, das ebenso scheinbare Marsbewohner angelegt hatten, um trotz der Trockenheit ihrer Heimat zu überleben. Selbstverständlich schien das kühne Projekt auch in der Literatur auf; hier spielen vor allem John Munro (1849-1930) und Paul Combes (1856-1909) sowie Leo Brenner (1855-?) mit diesem Thema; letzterer lässt sogar den Kanal-‚Entdecker‘ Percival Lowell (1855-1916) persönlich auftreten, der die Marsianer auf diverse Fehler in ihren Landkarten hinweist.
So existierte der Mars als Ort, der sich der menschlichen Fantasie unterwarf und entsprechend geformt werden konnte. Die Autoren in diesem Buch geben sich oft nicht einmal den Anschein, ein realistisches Marsbild zu vermitteln. Sie profitieren von der Faszination dieses Ortes, der immer wieder in die Schlagzeilen geriet, sobald augenstarke Astronomen eine neue Sensation erspäht zu haben glaubten. Auf diese Weise entstand ein Publikum, das positiv auf das Reizwort „Mars“ reagierte.
Geschickte Schriftsteller wussten, wo sie anzusetzen hatten, um dieses Interesse in klingende Münze zu verwandeln. In erster Linie postulierten sie eine Marsbevölkerung, von der die Menschheit natürlich gern Näheres erfahren wollte. Übrigens lauerten diese Marsianer (noch) nicht unbedingt darauf, über die arglose Erde herzufallen; eine Sorge, die H. G. Wells 1898 im „Krieg der Welten“ in Romanform brachte. Er ging das Thema mit jener Mischung aus „Science“ und „Fiction“ an, der dem Genre bald darauf seinen Namen gab. In dieser Anthologie treffen wir stattdessen auf Marsianer, die den (kriegerischen) Menschen fürchten (Maurice Renard, 1875-1939), ihn als geistig unterlegen ignorieren (André Laurie, 1844-1909), sogar verspotten (Nicolas Tassin, 1874-1941) und insgesamt wenig Wert auf einen Kontakt legen. Den Mars als phantastischen Abenteuerspielplatz nutzen David Wright O’Brien (1918-1944) und der deutsch-österreichische Autor Max Vallet (1895-1930): Man fragt sich, welche Entwicklung eine deutschsprachige Science Fiction ohne den fantasielosen Terror des Nazi-Regimes genommen hätte.
Sie sind wie wir
Menschliche Schwächen ließ man quasi vom Rotlicht des Mars bescheinen, um sie auf diese Weise - gern auch als Glosse ironisch zugespitzt - herauszuarbeiten. „Was mögen sie uns zu sagen haben?“, fragt beispielsweise Tristan Bernard (1866-1947), um darauf in seinem „feuilletonischen Witz“ eine absichtlich banale Antwort zu geben. Richard Guttmann (1884-1923) schildert in Gedichtform den ‚Kontakt‘ zwischen Erde und Mars, der hier wie dort jenseits politischer oder wissenschaftlicher Feierlichkeit zwei eher bräsige Gesellschaften nebeneinander- und bloßstellt. Franz Bielka (?-1913) macht deutlich, dass der Mars auch im Rahmen mehr oder weniger ‚witziger‘ Schlüpfrigkeiten seinen Platz finden konnte: Marsianer sind auch nur Menschen (bzw. Männer).
Um 1900 wollte eine Unzahl texthungriger Zeitschriften u. a. Periodika mit Inhalten gefüttert werden. Die Leser griffen aufgrund der niedrigen Kaufpreise gern zu, das Geschäft florierte, die Honorare waren gut. Auch (heute) bekannte Autoren waren sich deshalb keineswegs zu schade, jenseits der hehren literarischen Kunst Geschichten zu produzieren, die sich rasch und lohnend verkaufen ließen. So finden wir in dieser Sammlung Guy de Maupassant (1850-1893), der gänzlich jenseits des ihm von der Literaturkritik verpassten Brandings eines pessimistisch-resignativen Zeitzeugen (der zudem dramatisch-tragisch im Syphilis-Wahn starb) von der Begegnung mit einem seltsamen, aber interessanten Männlein ‚berichtet‘, das ihm vor Augen führt, was aktuell über den Mars bekannt ist. Es gibt keine Handlung im klassischen Sinn und auch keine finale Auflösung. Das Ergebnis liest sich aber aufgrund der Eleganz der Erzählung und der zeitgenössischen Faktendarlegung sehr vergnüglich.
Ein Beitrag sticht heraus, denn hier wird kein Marsgarn gesponnen: Eine Spezialität des Dornbrunnen-Verlags ist die Präsentation hierzulande nur selten oder noch gar nicht erschienener Erzählungen des französischen Schriftstellers Jules Verne (1828-1905). Von diesem sind eben längst nicht alle Texte veröffentlicht. Vor allem in seinen frühen Jahren, d. h. bevor er mit seinen umfangreichen Reise- und Abenteuerromanen zum Bestsellerautor wurde, schrieb der noch unbekannte Verne zahlreiche Geschichten, die den späteren Profi immerhin erkennen lassen. Doch während Verne gleich in zwei Romanen über eine Fahrt zum Mond fabulierte, schien er den Mars zu ignorieren, obwohl er ansonsten die zeitgenössischen Medien auf der Suche nach neuen Ideen durchstöberte. Meiko Richert erläutert mögliche Gründe und zählt auf, wo Verne den Mars doch in seine Werke einfließen ließ.
Fazit:
Einmal mehr veröffentlicht der Verlag Dornbrunnen eine erstaunlich aufwändige, nach intensiven Nachforschungen in nur noch schwer fassbaren Druckwerken entstandene, sorgfältig edierte und durch Hintergrundinfos ergänzte Anthologie mit lange nicht mehr lesbaren Erzählungen und Novellen: eine Entdeckungsreise für Leser, die sich für die ‚Vorgeschichte‘ der Science Fiction interessieren.
Sven-Roger Schulz (Herausgeber), Edition Dornbrunnen
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