Die Kreuzspinne
- Edition Dornbrunnen
- Erschienen: Mai 2024
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18 Begebenheiten der meist jenseitigen Art
18 alte, aber gut abgehangene Phantastik-Erzählungen aus den Jahren 1867 bis 1943:
- Lars Dangel: Vorwort, S. 7-9
- Werner Bernhardy: Das Grab an der Aisne (1919), S. 11-23: Merkwürdige Visionen führen ihn zu der Erkenntnis, dass er schon (zu) viele Leben gelebt hat.
- Hans Watzlik: Ich träume mich (1943), S. 24-30: Der Traum verschlägt ihn in ein erschreckendes Zerrbild der täglichen Wirklichkeit.
- Reginald Campbell: Der Geistertempel (The Temple of Ghosts; 1920), S. 31-41: Mit einer Spuksage will der Plantagenverwalter widerspenstige Arbeiter einschüchtern, doch da gibt es einen wahren Kern.
- (Eustace) Grenville Murray: Der bunte Hund (The Ugly Dog; 1873), S. 42-47: Ein unbedachter Wutanfall verwandelt den treuen Begleiter in eine strafende Plage.
- Hellmuth Unger: Der Schrei vom Reykar (1923), S. 48-67: Moderne Funktechnik ermöglicht es, das grausame Ende eines fern im All bewohnten Planeten mitzuerleben.
- Georg Hiltl: Der Vampyr (1867), S. 68-82: Der Besucher wird Zeuge eines seltsamen Geschehens, das eine übernatürliche Attacke oder ein vertuschtes Ehedrama sein mag.
- Roland Betsch: Die Kreuzspinne (1931), S. 83-91: Der Tod konnte die Tragödie nicht beenden, was dem ahnungslosen Hausgast ein unvergessliches Erlebnis beschert.
- Elisabeth Krickeberg: Das sterbende Bild (1914), S. 92-116 [2]: Seit es vor langer Zeit unter verdächtigen Umständen entstand, sorgt das Porträt für Verderben und Tod.
- Phil Robinson: Der Letzte der Vampire (The Last of the Vampires; 1893), S. 117-127: Hinter einem naturwissenschaftlichen Rätsel steckt eine banale, aber traurige Geschichte.
- Friedrich Meister: Montezuma. Ein technisches Problem (1891), S. 128-173: Ein Wunderwerk der Technik macht sich mit dramatischen Folgen selbstständig.
- Beat von Müller: Die Villa des Herrn Unselt (1920), S. 174-184 [1]: Der Onkel hinterlässt ihm nicht nur seine Villa, sondern auch deren geheimen Bewohner.
- Lászlo Rózsa: Der rote Adler (1925), S. 185-195 [3]: Was vor langer Zeit grausam bestraft wurde, spiegelt sich viel später nicht nur in schaurigen Träumen wider.
- Alfred Lemm: Der ausländische Professor (1918), S. 196-202 [1]: Er vollbringt ein medizinisches Wunder, das dann für Entsetzen sorgt.
- Leo am Bruhl: Heimgang in die Sonne (1928), S. 203-214: Der reale Unfall gipfelt in einem Fiebertraum, der das Geschehen jenseitig fortsetzt.
- Ernst Szép: Der armenische Gott. Ein Traum in Siebenbürgen (1916), S. 215-221: Er ist klein, aber mächtig, und er bläut dem Besucher seine Weisheiten buchstäblich ein.
- Paul Friedrich: Die eiserne Stadt. Eine Vision (1922), S. 222-230: Die Reise führt ihn an einen Ort, an dem Maschinen ein produktives, aber sinnloses ‚Leben‘ führen.
- Klara Herrmann: Das steinerne Herz (1931), S. 231-239: Der reiche Geizhals prellt den Künstler um seinen Lohn, aber letztlich lacht doch der Teufel.
- Kurt Münzer: Der Ring (um 1915), S. 240-249: Er raubte das kostbare Schmuckstück einem Toten, der ihn seither heimsucht.
- Autoren, S. 250-265
- Bibliografische Anmerkungen, S. 266-269
Aus diesen früheren Dangel-Sammlungen stammen die abgedruckten Geschichten:
[1] „Hinter dem Quecksilber“ (2016)
[2] „Das sterbende Bild“ (2019)
[3] „Montezuma“ (2022)
Alle übrigen Erzählungen werden hier erstmals (wieder-) veröffentlicht.
Den Silberfischen entronnen
Es scheint erfreulich gut zu laufen mit den Anthologien phantastischer, vor langer Zeit und oft nur einmal in längst vergessenen Zeitschriftenbeilagen o. ä. Wegwerfmedien erschienener Erzählungen, die Lars Dengel seit einigen Jahren sucht und neu veröffentlicht: Im Verlag Dornbrunnen erscheint mit „Die Kreuzspinne“ bereits die dritte Sammlung, wobei dieser Band abermals an Seitenstärke deutlich zugelegt hat. So wurden es 18 Geschichten, die einmal mehr die Breite des Spektrums unterstreichen, die das Genre eben nicht nur im angelsächsischen Sprachraum abdeckte. Auch hierzulande gab es Autoren, die unterhaltsam erschrecken konnten.
Natürlich schlägt sich das Alter in Stil und Wortwahl nieder. Erstaunlicherweise sorgt dies nur dort für Irritationen, wo ein Autor einst allzu ‚aktuell‘ sein wollte und zeitgenössischen Moden folgte, die sich ihren Weg in die (Unterhaltungs-) Literatur bahnten. Leo am Bruhl war keineswegs auf jene fiebrige Stakkato-Dramatik festgelegt, die man gern mit den 1920er Jahren verbindet. Der Expressionismus prägte diese Ära zwar nachhaltig, dominierte sie aber nicht. „Heimgang in die Sonne“ wirkt heute jedenfalls pathetisch und sogar schwülstig, was durch eine platte sowie unnötige ‚Erklärung‘ noch hervorgehoben wird.
Traum, Delirium und Wahnsinn werden in diesen Erzählungen oft bemüht. So muss das Geschehen nicht plausibel aufgelöst werden. Solche Verfasser scheinen das Risiko zu meiden, die Handlung offen enden zu lassen, obwohl gerade dies durch eine rätselhaft auf die Spitze getriebene Krise eine bleibende Wirkung bei den Lesern hinterlassen kann. Ausgerechnet die älteste Story dieser Sammlung demonstriert dieses Konzept: Georg Hiltl (1826-1878) lässt uns im Unklaren, was eigentlich geschehen ist. War es ein Spuk oder profaner Mord? Die Entscheidung bleibt beim Leser.
Spuken, wie es sich gehört
Auch in Deutschland wusste man eine gute Geistergeschichte zu würdigen. Klara Herrmann greift (recht hausbacken) die alte Mär vom Teufel auf, der über die Erde streift und willensschwache Menschen versucht, um sich ihre Seelen zu greifen. Beat von Müller gelingt eine bemerkenswerte, an Algernon Blackwood erinnernde Beschwörung sich verdichtenden Verderbens, das allerdings aufgrund des vordergründigen und nicht durch die Vorgeschichte vorbereiteten Finales abfällt.
Dagegen sorgt Roland Betsch (1888-1945) für jene Irritationen, die den Leser auch nach der Lektüre beschäftigen: Es geht um, aber der Spuk weist Merkwürdigkeiten auf, die nicht aufgeklärt werden. Auf vergleichbare Weise lässt Alfred Lemm (1889-1918) seine Story in einem echten Grusel-Knalleffekt münden! Elisabeth Krickeberg (1861-1944) legt eine Variante von Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ vor, ohne dabei den Plot zu imitieren. Das gemalte Porträt als in Zeit und Raum ‚gefangener‘ Moment bzw. seine Inhaltsbotschaft konservierende Projektionsfläche, dessen ‚Schutzschicht‘ sich mit fatalen Folgen auflöst, wird mit vergnüglicher Eindringlichkeit eingesetzt.
Für Werner Bernhardy (1884-1953), Lászlo Rózsa und Kurt Münzer (1879-1944) steht ebenfalls klassisch jenes Verderben im Vordergrund, das in einem übernatürlichen Vorleben wurzelt. Es sucht die Betroffenen heim, was normalerweise tragisch endet. Steigernd kann sich eigene Schuld auswirken, wenn man sich - siehe Münzer - im Augenblick charakterlicher Schwäche etwas aneignete, von dem man lieber die Finger hätte lassen sollen.
Nur grotesk oder mit Botschaft?
Viele der hier zusammengetragenen Geschichten haben nichts mit den „klassischen“ ghost stories englischen Vorbilds zu tun. Höchstens Reginald Campbell (1894-1950) bedient entsprechende Erwartungen, aber die ebenfalls aus England stammenden Autoren Grenville Murray (1824-1881) und Phil Robinson (1847-1902) unterlaufen das Konzept vom ‚normalen‘, durch Verdammnis oder Rache begründeten Gespenstertreiben. Murray, auf seiner Heimatinsel für eine spitze, schonungslos auch prominente Zeitgenossen aufspießende Feder berüchtigt, karikiert bekannte Muster, indem er sie ihrer Unheimlichkeit entkleidet - das Gespenst ist ein Hund - und den Aspekt der Strafe aus dem Jenseits einfallsreich ironisiert. Robinson durchbricht das Schema, indem er sein Alleinwissen als Erzähler ausnutzt, um bemerkenswert simpel jenes Rätsel aufzulösen, das er zuvor so kunstvoll entwickelt hat. So erteilt er uns eine Lektion: Nur zu leicht wird die Vergangenheit ohne stützende Beweise zum Spielplatz ‚wissender‘ Interpretatoren, die sich in erster Linie selbst profilieren wollen.
Nicht der Horror steht im Vordergrund, weil Autoren wie Hans Watzlik (1879-1948), Ernst Szép (1884-1953) oder Paul Friedrich (1877-1947) sich der Phantastik als Treibriemen zu bedienen. Watzlik stellt inhaltlich konventionell und stilistisch pseudo-intellektuell die Frage, ob sich hinter Schlaf und Traum womöglich eine Existenzebene verbirgt, die dem wachen Menschen (glücklicherweise) verborgen bleibt. Szép amüsiert mit einer Groteske, in der das Übernatürliche als Hintergrund dient, vor dem der Autor mit jenen abrechnet, die sich dem Leben entziehen, statt es aktiv zu leben und auszukosten. Friedrich betreibt Zivilisationskritik, wenn er die zeitgenössische Hochindustrialisierung in bzw. die Frage stellt, ob sich die allgegenwärtigen Maschinen womöglich selbstständig machen werden.
Friedrich Meister (1841-1918) scheint ebenfalls um dieses Motiv zu kreisen, wenn er eine Maschine beschreibt, die ohne menschlichen Meister existiert. Frankenstein würde im 20. Jahrhundert kein medizinisches Labor, sondern eine Werkstatt betreiben, so Meisters Deutung. Seine Geschichte ist unterhaltsam, allerdings viel zu lang und wird durch unnötige Nebenhandlungen unterbrochen. Auch Hellmuth Unger (1891-1953) übt Kritik: Science Fiction möchte man sein (vergilbtes) Garn eigentlich nicht nennen, weil es primär um die Moral von der Geschicht’ geht: Was auf dem nur scheinbar fernen Reykar geschehen ist, könnte auch den aufgrund ihre naturwissenschaftlich-technischen Errungenschaften allzu übermütig geworden Menschheit zustoßen!
Fazit:
Weitere Schätze einer in Vergessenheit geratenen Phantastik überwiegend deutschsprachiger Herkunft werden gehoben, wobei thematisch ein breites Themenspektrum abgedeckt ist. Mehrheitlich sorgen die ausgewählten Erzählungen für Unterhaltung auch dort, wo sich der ursprüngliche Entstehungsanlass erledigt hat: Eine gute Geschichte bewahrt ihren Wert.
Lars Dangel (Herausgeber), Edition Dornbrunnen
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