Das Seegespenst

  • Edition Dornbrunnen
  • Erschienen: November 2023
  • 1
Das Seegespenst
Das Seegespenst
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Michael Drewniok
85°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJul 2024

17 Überraschungen von hüben & drüben

17 weitere Phantastik-Kurzklassiker, dieses Mal aus den Jahren 1885 bis 1939:

- Lars Dangel: Vorwort, S. 7-9

- Gustav Schwarzkopf: Der Magier (1900), S. 10-20: Er ist es müde, sich vor reichen Dummköpfen als Gaukler zu produzieren, und gewährt einem entsetzten Publikum einen Blick auf seine wahren Fähigkeiten.

- Graf Nikolaus Bethlen: Lasst die Toten ruhen! (1888), S. 20-27: Man könnte das verstorbene Familienoberhaupt ins Leben zurückrufen, doch den Nachkommen (und Erben) kommen Bedenken.

- Fritz Schumacher: Die Stadt (1939), S. 28-31: Die Wächter an den Toren von Himmel und Hölle langweilen sich und beginnen ein folgenschweres Spiel mit und um die Menschheit.

- Hans Watzlik: Die Fische rufen (1937), S. 32-36: Am Ufer des verwunschenen Sees lernt der raue Wilderer die Natur von ihrer unheimlich-fantastischen Seite kennen.

- Georg von der Gabelentz: Das Seegespenst (1910 [4]), S. 37-57: Die Unsterblichkeit erweist sich als zunehmend schreckliche Bürde.

- Karl Christian Reh: Pilibi (1920 [3]), S. 58-64: Er lernt es, den eigenen Körper als Geist zu verlassen, ahnt aber nicht, dass es eine Zeitvorgabe für die Rückkehr gibt.

- Karl Brand: Die Rückverwandlung des Gregor Samsa (1916), S. 65-69: Gregor verwandelte sich in eine gigantische Wanze und starb, kehrt aber nun ins Leben zurück.

- Ernst Hammer: Der Buhle (1914), S. 70-74: Sie stieg aus dem Meer und kehrte dorthin zurück; seither treibt ihn die Suche nach der verschwundenen Liebe um.

- Friedrich Otto: Die Sirene (1919 [2]), S. 75-94: Der Matrose strandet auf einer einsamen Insel, die von seltsamen Geschöpfen der See be- und heimgesucht wird.

- Leo am Bruhl: Die Traumsendegesellschaft (1931), S. 95-111: Der einsame Mann kann wenigstens im Schlaf ein ‚Leben‘ führen, das ihn die traurige Realität vergessen lässt.

- Joachim Ringelnatz: Der arme Pilmartine (1924), S. 112-118: Die drängende Frage, wo er die drei Jahre verbrachte, nachdem er auf einem Fahrrad davongeflogen war, will der junge Mann nicht beantworten.

- Beat von Müller: Die Heimkehr der Ellen Haig (1920 [2]), S. 119-128: Der einzige Überlebende dieser Seefahrt erzählt eine düstere Geschichte von Unmenschlichkeit und Totenspuk.

- A. C. Krug: Die Tote aus der Arawali-Höhle [1], S. 129-138: Man findet eine tadellos erhaltene Mumie und kann ihre tragische Geschichte ansatzweise rekonstruieren.

- Anonym: Die Heirat der Klapperschlange (1830), S. 139-145: Er heiratet eine Schlange - und vergisst in der Hochzeitsnacht, was der ‚Schwiegervater‘ ihm geraten hat.

- Friedrich Blaul: Der gefallene Engel (1885), S. 146-154: Wirtshausschildfiguren, Wasserspeier u. a. Gebäudeverzierungen müssen feststellen, dass ihre Zeit vorbei ist.

- Walter Besant/James Rice: Ein fatales Missverständnis (The Mystery of Joe Morgan; 1876), S. 155-169: Ein wütendes Gespenst sitzt ihm buchstäblich im Nacken, bis sich ein peinlicher Irrtum aufklärt.

- Frank Heller: Die Drübere Seite (Den andran sedan; 1926), S. 170-180: Was der Verstorbene aus dem Jenseits meldet, bekümmert seine Witwe nur, bis sich der Gatte dort heftig zu amüsieren beginnt.

- Autoren, S. 182-195

- Bibliografische Anmerkungen, S. 196-198

Aus diesen Sammlungen stammen die abgedruckten Geschichten:

[1] „Hinter dem Quecksilber“ (2016)
[2] „Das sterbende Bild“ (2019)
[3] „Das Elixier des Lebens“ (2019)
[4] „Abseits der Geographie“ (2022)

Alle übrigen Erzählungen werden hier erstmals (wieder-) veröffentlicht.

Nicht der Tod ist das Problem

Zum zweiten Mal präsentiert der kleine, in seiner Nische überaus aktive Verlag Dornbrunnen eine Anthologie klassischer oder wenigstens alter bzw. vergessener Kurzgeschichten, die inhaltlich der Phantastik zuzuweisen sind. Abermals ist es Herausgeber Lars Dangel, der sich durch verstaubte Papierberge gearbeitet hat, die Bergung von Storys gelungen, die längst in Vergessenheit geraten waren, ohne dieses Schicksal zu verdienen. Schon in „Der Ring des Thoth“ hatte er uns in ein Reich vorwiegend deutscher Phantastik eingeladen, dessen Autoren es mit der Konkurrenz aus der angelsächsischen Geisterliteratur aufnehmen konnten; eine Überraschung, eben weil diese Werke höchstens einigen Sammlern und Experten bekannt sind - oder waren, denn Herausgeber Dangel kümmert sich um die Hebung dieser Schätze.

In Zeitungen, Zeitungsbeilagen, Monatsheften oder ähnlichen flüchtigen Publikationen sind die hier gesammelten Erzählungen erschienen. Nur wenige entsprechen dem Muster der ‚üblichen‘ Geistergeschichte, denn Dangel legt großen Wert auf die Tatsache, dass „Phantastik“ weit mehr ist als das typische Treiben spukhafter Phantome, deren Herkunft und Intentionen im Finale aufgeklärt werden. Dies erklärt u. a. die scheinbare Umständlichkeit, mit der Georg von der Gabelentz (1868-1940) sein Gespenstergarn spinnt: Hier gibt es einen Subtext, der über die eigentliche Erscheinung hinausgeht. Auch zwischen den Zeilen spielt sich ‚Unaussprechliches‘ (= sexuell Gefärbtes) ab; ein Horror, den Beat von Müller recht deutlich aufscheinen lässt, wodurch das Grauen überraschend ‚modern‘ wirkt.

Dennoch dürften die Freunde des ‚handfesten‘ Horrors eine ‚plausible‘ Auflösung vermissen. Sie entfällt nicht selten oder spielt für das Geschehen ohnehin keine Rolle. Im Vordergrund steht die Schilderung schwer oder gar nicht erklärbarer Ereignisse. Das übernatürlich Seltsame übersteigt das Verständnis des Menschen, der nur Zeuge (oder Opfer) bleiben kann, wenn es sich vor seinen Augen entfaltet: Hans Watzlik (1879-1948), Karl Christian Reh (1888-1926) oder Friedrich Blaul (1809-1869) beschreiben solche Begegnungen, die mythisch-erschreckend, aber auch grotesk-komisch ausfallen können, während A. C. Krug quasi dokumentarisch bleibt und seine Erzählung dadurch ihrer Wirkung beraubt.

Unfreiwillige Gäste in fremdartigen Gefilden

Der Tod ist in diesen Geschichten keineswegs selbstverständlich; er wird ersetzt durch alternative Schicksale, die sich den Naturgesetzen entziehen: Hier liegt die Wurzel des Schreckens oder besser: der Verunsicherung, die den Leser bannen soll. Karl Brand (1895-1917) versucht dem von ihm verehrten Schriftsteller Franz Kafka (1883-1924) seine Reverenz zu erweisen, indem er dessen 1915 veröffentlichte Erzählung „Die Verwandlung“ quasi ‚fortsetzt‘; ein interessantes, aber merkwürdiges bzw. sinnfreies und stilistisch holpriges Experiment, das in erster Linie von der Faszination kündet, die schon zu Kafkas Lebzeiten von seinem Werk ausgehen konnte.

Sowohl Ernst Hammer (1877-1949) als auch Friedrich Otto (1877-1924) stützen sich auf die Legende von der Meerjungfrau, die aus dem Ozean steigt, weil sie sich in einen Mann vom Festland verliebt: Zwei Welten begegnen sich, die unterschiedlicher nicht sein können, weshalb ein Happy-End ausfallen muss. Die Tragik siegt in Gestalt einer Liebe, die von der Realität zerstört wird bzw. sich in eine quälende Erinnerung an das Verlorene verwandelt. In diese Kerbe schlägt auch Leo am Bruhl, dessen Protagonist erfährt, dass ‚sein‘ sehnsuchtsvoller Traum von vielen ähnlich einsamen ‚Kunden‘ gebucht wird.

Die moderne, aufgeklärte Zeit hat die Phantome der Vergangenheit ausrangiert.  Friedrich Blaul lässt sie selbst zu Wort kommen und ihren Untergang kommentieren. Fritz Schumacher (1869-1947) ‚erklärt‘ die Verstädterung und Industrialisierung der Gegenwart als außer Kontrolle geratenes Spiel zwischen „Gut“ und „Böse“: Der Prozess lässt sich nicht mehr stoppen, denn der Mensch hat sich für den Fortschritt und gegen die Natur entschieden.

Widerhall des alltäglichen Wahnsinns

Dass sich Schrecken und Humor keineswegs ausschließen, beweisen mindestens fünf der hier gesammelten Storys. Gustav Schwarzkopf (1853-1939) lässt einen frustrierten Echt-Magier, der seine Kräfte für Geld zur Schau stellen muss, Dampf ablassen und sein Publikum in Angst & Schrecken versetzen (was im Epilog resignierend relativiert wird). Graf Nikolaus Bethlen (1831-1899) stellt uns satirisch (bzw. boshaft realistisch) eine Familie vor, die gute Gründe hat, von der Wiederkehr des plötzlich gar nicht mehr (scheinheilig) betrauerten, weil zu Lebzeiten recht knauserigen Oberhauptes Abstand zu nehmen.

Joachim Ringelnatz (1883-1934) erzählt eine buchstäblich sinnlose Geschichte. Das skurrile Geschehen sorgt für die Unterhaltung. Dem Text unterlegt ist eine Ironie, die sich gegen eine verknöcherte, von Gesetzen und Regeln beherrschten Gesellschaft richtet, die das Unbekannte als Quelle eines möglichen Machtverlustes fürchtet und deshalb nachdrücklich Aufklärung fordert. Das Autorenduo Walter Besant (1836-1901) und James Rice (1843-1882) konzentriert sich auf einen nur bedingt komischen Gag, der zudem recht schwerfällig ausgewalzt wird. Der schwedische Autor Frank Heller (d. i. Martin Gunnar Serner, 1886-1947) kreist wie Graf Bethlen um die Frage, ob eine Konfrontation mit dem Jenseits zwangsläufig erschreckend oder erquicklich sein muss: Hier stellt sich das Nachleben als Möglichkeit heraus, ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Normen auf die Pauke zu hauen.

Von einem anonymen Autor stammt der zeitliche ‚Ausreißer‘ dieser Sammlung. Die Geschichte vom ruchlosen „Indianer“ Cayenguirago erschien bereits 1830 und ist eine ‚Kunst-Allegorie‘, d. h. entstammt ganz sicher nicht der zitierten Kultur, sondern wurde vom heute unbekannten Verfasser so geschrieben, wie sich seine Leser ‚Indianer-Mythen‘ vorgestellt haben mochten; ein Akt kultureller Aneignung, die (nicht nur) zur Entstehungszeit selbstverständlich war und hier durch den (bedingt) ‚witzigen‘ Unterton und die (wohl schon damals) nicht gerade unerwartete Auflösung unterstrichen wird.

Wie „Der Ring des Thoth“ wird auch „Das Seegespenst“ zur Fundgrube für die Freunde einer gut abgehangenen Phantastik. Das Alter beeinträchtigt den Unterhaltungswert höchstens marginal; heutzutage würde man schneller zur gruseligen Sache kommen und auf manchmal gar zu ausführliche Einleitungen, Vorreden oder Abschweifungen verzichten. Man dankt dem Herausgeber und seinem Verleger abermals für die Existenz der Sammlung. Von einigen Autoren (Leo am Bruhl, Beat von Müller, A. C. Krug) konnte selbst der umtriebige Herausgeber keine biografischen Daten oder Hintergrundinformationen herausfinden; dabei schaffte es Bruhl mit einer seiner (übersetzen) Storys sogar in das US-Pulp-Magazin „Wonder Stories“ (Jg. 5, Heft 6 - Januar 1934).

Fazit:

17 Erzählungen aus den Jahrzehnten vor und nach 1900 decken das breite Spektrum der zeitgenössischen Phantastik ab: abwechslungsreich, überraschend und sorgfältig lektoriert, sorgt diese Sammlung für nostalgisches Lektürevergnügen.

Das Seegespenst

Lars Dangel (Herausgeber), Edition Dornbrunnen

Das Seegespenst

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