Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland

  • Bertelsmann
  • Erschienen: Juli 2024
  • 1
Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
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Stefanie Eckmann-Schmechta
84°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJul 2024

Schicksalhafte Reise durch eine fremde Welt

Gehen wir zurück in das Ende des 19. Jahrhunderts. Der luxuriöse Transsibirien-Express ist der Einzige Zug, der das «Ödland» zwischen China und Russland überwinden kann. Viele Gefahren lauern auf die mutigen Reisenden. Zahlreiche Sicherheitsvorkehrungen sollen für eine möglichst sichere Überfahrt sorgen, insbesondere für die erste Klasse soll eine angenehme Durchquerung sichergestellt sein. Doch einige Passagiere haben – statt der puren Abenteuerlust - sehr gute Gründe, diesen Zug zu besteigen. Zum Beispiel eine junge Witwe in Schwarz, oder ein gedemütigter, vom Ehrgeiz getriebener Wissenschaftler. Mit einer tapferen Crew, zu der ein Kind gehört, das im Zug geboren und aufgewachsen ist, eine mutige Kapitänin, ein beherzter Steward sowie ein heimatloser Kartograf, lassen sie die Zivilisation hinter sich.

Eine Mischung aus Science-Fiction und historischer Fantasy

Sarah Brooks, die mit «Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland» ihr aussergewöhnliches Roman-Debüt vorlegt, hat in China, Japan und Italien gearbeitet und ist heute an der Universität von Leeds beschäftigt. Für ihr Debüt, das in 15 Ländern erscheint, erhielt sie den Lucy Cavendish Fiction Prize.

Die zivilisierte Welt fürchtet das Ödland, deren Außengrenzen mit hohen Mauern geschützt sind und in das kein Mensch seinen Fuß setzen kann, ohne Gefahr zu laufen, in der fremdartigen Atmosphäre mitsamt seinen wilden Kreaturen einen baldigen Tod zu finden.  Die Beschreibung, wie der Zug durch diese surreale und wilde Landschaft durchquert, erinnert mich an einen Science-Fiction Roman aus einer Zeit, da man sich vieles vorstellen konnte, aber nur wenig von dem, was unsere heutige Lebensweise ausmacht, erfunden wurde. Mir erschien der große, mächtige Zug – im Bahnhof ein wahrer Koloss auf Schienen – in der Weite des Ödlands wie ein kleines, zerbrechliches Raumschiff. Ohne die Möglichkeit umzukehren, dringt es in die Weiten eines unbekannten Universums vor – seiner ungewissen Zukunft entgegen.

Die nostalgische Szenerie versetzt uns ähnlich einem historischen Roman in längst vergangene Zeiten und erinnert fast an Agatha Christies «Mord im Orient-Express». Abteile, voller Eleganz und Komfort, die das Modernste zeigen, was die damals hoch entwickelte Eisenbahngesellschaft hervorbringen kann. Die Damen in luxuriösen Kleidern, die Herren im Frack, reich und von hohem Stand. Einige Gänge weiter, jene Menschen, die sich mit weitaus weniger Komfort zufriedengeben müssen und keinerlei Berührungspunkte zu den oberen Kreisen haben. Die Kluft zwischen der Holzklasse und der Ersten Klasse ist hier nur ein Waggon breit.

Die Reisenden und ihre ganz persönliche Mission

Mit der Hoffnung der Mitreisenden, ein absolutes High-Tech-Transportmittel (wie wir es heute bezeichnen würden) zu besteigen, begeben wir uns in ein atmosphärisches Abenteuer, das auf Anhieb fesselt. Sarah Brooks Sprache ist lebendig und voller innovativen Ideen. Ich war sofort neugierig auf die Protagonisten dieser aussergewöhnlichen Geschichte.

Wir lernen die junge Russin Maria Petrowna kennen, die sich für jemand anderes ausgibt und von der wir sofort wissen, dass sie eine Lügnerin ist. Mit dem berühmten «Handbuch für das Ödland» im Gepäck, wagt sie sich an eine ganz persönliche Ermittlung. Seit der letzten Überquerung ist etwas passiert, das die Eisenbahngesellschaft mit allen Mitteln unter Verschluss halten will. Es gehen Gerüchte umher, dass die Passagiere in diesem Zug nicht mehr sicher sind.

Das Wesen des Ödlands löst eine große Angst vor dem Unbekannten aus. Für den Wissenschaftler Grey ist es aber Gottes Garten Eden. Er verklärt seinen wissenschaftlichen Wissendurst mit der göttlichen Schöpfung. So manchem Mitreisenden ist sein Eifer einfach zu viel – und für den einzigen mitreisenden Geistlichen schlicht Gotteslästerung.

Aber es gibt ein Mädchen, das so eng mit dem Zug und jedem seiner Leitungen, Biegungen und Geheimverstecken verbunden ist wie keine andere, das nichts hinterfragt, sondern einfach nur erlebt und feststellt, dass diese Welt keine Bedrohung, sondern eine Offenbarung ist: Das «Zugkind» Zhang.

Viele persönliche Geschichten sind mit diesem Zug verbunden. Es gibt Begegnungen, kurze Einblicke, Gerüchte und natürlich Gerede. Wir erfahren aus unterschiedlichen Perspektiven, was sich auf dieser Fahrt ereignet. Was in den Menschen vor sich geht, als die so lange aufrecht erhaltene Ordnung zusammenbricht.

Und dennoch, musste ich feststellen, dass ich gerade im Mittelteil ein wenig Probleme hatte, durchzuhalten. Die Figuren bleiben, ähnlich wie das Ödland, verschwommen und fremd. Obwohl ihre Motive und Hintergründe doch weitestgehend erzählt werden, konnte ich nicht so sehr mit ihnen fiebern, wie es diese außergewöhnliche Geschichte verdient hätte. Es bleibt – ob gewollt oder ungewollt- eine gewisse Distanz.

Erst gegen Ende, als die andere, fremde Welt mehr und mehr in den Fokus gerät, nimmt die Reise buchstäblich wieder Fahrt auf. Und das ist für mich auch die Stärke des Debütromans: diese außergewöhnliche Vorstellungskraft, mit der Sarah Brooks dieses Universum mit einem ungewöhnlichen Setting, was (Zeit-) Rahmen, Schauplätzen und Atmosphäre angeht, inszeniert. Das ist überraschend, frisch und originell. Ich könnte mir gut vorstellen, dass die Geschichte um den Transsibirien-Express und das Ödland noch nicht zu Ende ist.

Fazit:

Ein wirklich starkes Romandebüt. Ein menschengemachtes Refugium auf Schienen, das vor der Weite, Wildheit und Unkalkulierbarkeit einer Natur schützen soll, die so feindselig erscheint wie ein unbewohnbarer Planet. Angefüllt mit vielen Einzelschicksalen fährt der Zug auch seinem eigenen entgegen, dessen Vorsehung voller Weisheit und fantastischer Ereignisse ist.

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland

Sarah Brooks, Bertelsmann

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland

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