Wie viele Biographien braucht es, um eine historische Person angemessen zu würdigen? Bei vielschichtigen, rätselhaften Charakteren, bei solchen mit langen, wechselhaften Karrieren, bei populären Figuren macht sich jede Historiker- und Lesergeneration ihr eigenes Bild, ob von Madame de Staël, T. S. Eliot oder Margaret Thatcher. Im Falle Adolf Hitlers dürfen es ohnehin gerne mehrere Darstellungen gleichzeitig sein. Bei Albert Speer drängt sich die Häufung biographischer Arbeiten zumindest nicht unmittelbar auf, und in den 2010er-Jahren mit einer neuen Gesamtdarstellung aufzuwarten, ist daher kein dankbares Unterfangen. Eine ganze Reihe von Teilaspekten der Karriere Speers ist in den vergangenen 35 Jahren untersucht worden und nahezu ein halbes Dutzend breit rezipierter Lebensgeschichten seit 1995 erschienen.1
Daher bedarf es für einen weiteren Anlauf entweder neuer Quellen oder eines innovativen Zuganges, in jedem Fall aber großer Souveränität im Umgang damit, nicht der erste Biograph zu sein. Dass insbesondere letzteres nicht immer leicht fällt, zeigte bereits vor zwei Jahren die Arbeit des kanadischen Historikers Martin Kitchen, der nicht eben zimperlich mit früheren Autoren umsprang.2 Auch Magnus Brechtken, der nun das neueste Portrait Speers vorgelegt hat, tut sich mitunter schwer damit, seinen Vorgängern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Scharf geht er mit älteren Arbeiten ins Gericht, von Gitta Serenys „Schmonzettenton“ (S. 21) über Joachim Fests Verfälschungen bis zu Kitchens vermeintlicher Verharmlosung Speer als bloßer Architekt (S. 215, 588): das klingt ein wenig nach der Enttäuschung der späten Geburt.
Dabei hätte Brechtken (der, gut versteckt in Randbemerkungen und Endnoten, auch anerkennende Worte etwa für Sereny und Dan van der Vat findet [z.B. S. 767, Anm. 335]) zu Gelassenheit allen Grund gehabt, hat er doch nicht nur die neueste, am besten recherchierte, sondern auch die rundeste Arbeit verfasst. Dass nicht alles unbekannt ist, sondern zentrale Teile seines Buchs die teils früher, teils parallel entstandenen Studien Angela Schönbergers und Sebastian Teschs (zum Stadtplaner und Architekten Speer), Matthias Schmidts und Susanne Willems (über Speers Rolle bei Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden), Jonas Scherners, Jochen Strebs und Adam Toozes (zur Dekonstruktion des Rüstungswunder-Mythos) sowie Heinrich Schwendemanns und zuletzt Isabell Trommers (über Speers mediale Inszenierung und die Zusammenarbeit mit Fest) eher bestätigen und ergänzen als korrigieren, ist dabei kein Manko: dafür gibt es Gesamtdarstellungen.3 Und dass Brechtken dennoch einen Großteil seiner Informationen selbst aus den Akten geschöpft hat, macht das Buch umso verdienstvoller.
Das weitgehend chronologisch vorgehende Narrativ wird unter – angesichts des Umstandes, dass der Forschungsstand im Mittelpunkt der zweiten Buchhälfte steht, nachvollziehbarem – Verzicht auf eine Einleitung durch Pro- und Epiloge gerahmt. Beide sind ganz klassisch als Vor- und Nachrede zu verstehen, mit klaren, scharfen Wertungen, die schon nicht mehr Anklageschrift, sondern bereits Urteil sind: Speer betrieb Diktatur, Krieg, Versklavung und Vernichtung „freiwillig, zielstrebig und eifrig“ (S. 11); er log und betrog, wo er konnte; und in seinen wenigen ehrlichen Momenten legte er eine moralisch „bodenlos[e]“ Haltung an den Tag, die Brechtken im Zitat Speers einfängt, „er würde alles noch einmal genauso tun“, das eines Rudolf-Hess-Gedächtnis-Preises würdig wäre (S. 12). Schlimmer noch: die deutsche und internationale (Fach)Öffentlichkeit ging Speer über Jahrzehnte auf den Leim und ließ ihn eher verehrt als verachtet ins Grab gehen. Der Prolog gerät hier zum Katastrophenbericht. Methodisch orientiert sich Brechtken derweil, der vehementen Diktion quasi zum Trotz, am besten Gutachtenstil des Münchner Instituts für Zeitgeschichte. Die Sprache ist über weite Teile konsequent konjunktivisch, wenn Speers eigene Erzählungen immer wieder mit der Quellenlage abgeglichen werden. Ein wenig liest sich dies wie die „Mein Kampf“ Ausgabe aus demselben Hause, nur mit Verve.
Die biographischen Daten selbst sind geläufig und werden von Brechtken gekonnt rekapituliert, präzisiert und ergänzt. Knapp wird die privilegierte Jugend im reichen Elternhaus dargestellt, konzise das Architekturstudium beschrieben, in dem wenig auf eine herausragende Karriere hindeutete. Wert legt Brechtken darauf, dass der junge Speer sich früh für den Nationalsozialismus entschied, sehr wohl über dessen gewaltsame Prämissen und Ziele informiert war und keineswegs irrtümlich in die höchste Riege des Regimes aufstieg, um erst dort und auch nur unvollständig zu realisieren, mit wem er es zu tun hatte. Im Gegenteil dokumentiert das Buch detailreich, wie zielstrebig Speer seine Karriere verfolgte, wie sehr er auf nationalsozialistische Netzwerke und zunehmend auf die Nähe zu Hitler setzte und dass er keineswegs am Rande der Diktatur blieb, sondern in enger Zusammenarbeit mit Überzeugungstätern wie Karl Hanke, Joseph Goebbels und Heinrich Himmler agierte. Das verbreitete Bild des Technokraten und ambivalenten Hitler-Verehrers verwirft Brechtken fast komplett. Der Architekt und Rüstungsminister war von Anfang bis zum Ende ein Hundertprozentiger, der mit „Durchhalteparolen“ noch für den Endsieg warb und den Krieg verlängerte, als dieser längst verloren war (S. 272f.). Mit Härte, Kälte und, wie es im NS-Jargon hieß, ideologisch gefestigt, zählte Speer demnach zu jener „Generation des Unbedingten“ (S. 45), die Michael Wildt als auf furchtbare Weise leistungsfähige Trägerschicht der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ausgemacht hat.
Die Ironie liegt gewissermaßen darin, dass Speer den Nachweis seiner Leistungsfähigkeit mehr als einmal schuldig blieb – oder vielmehr, dass die von ihm in erschlagender Zahl vorgebrachten Leistungsnachweise im Spektrum zwischen intransparent, bewusst missverständlich und grob verfälschend einzuordnen sind. Seine architektonischen und gestalterischen Arbeiten – das haben kürzlich erst Kitchen und Tesch betont – waren weder originell noch besonders effizient oder gar günstig, im Gegenteil. Die Entwürfe, für die Speer Bekanntheit erlangte, wurden entweder spät oder gar nicht fertiggestellt und gerieten phantastisch teuer: wenn es um Kosten und mehr noch um deren Berechnung und Einhaltung ging, war Speers Werk ein Desaster, selbst nach den dehnbaren Maßstäben der Baubranche. Und auch die tatsächlichen und vermeintlichen Leistungssteigerungen, mit denen Speer ab 1942 selbst ausgebuffte Propagandisten wie Goebbels zu verblüffen wusste, gingen entweder auf Reformen und Lerneffekte vor seiner Amtsübernahme bzw. anderer Behörden zurück oder waren statistische Augenwischereien. Streng genommen gab es kein Rüstungswunder, und für das vermeintliche Mirakel konnten andere die Autorenschaft mit größerem Recht reklamieren.
Die Fähigkeit, Erfolge für sich zu beanspruchen, zählte jedoch zu Speers hervorragenden Talenten, und so wurde er auch nach 1945 bzw. nach seiner Haftentlassung 1966 nicht müde anzudeuten, dass mit seiner Expertise auch ein anderer, sprich: siegreicher Kriegsausgang möglich gewesen wäre. Überhaupt erreichte Speer den Höhepunkt seiner Karriere gewissermaßen erst retrospektiv. Noch vor Beginn des ersten Nürnberger Prozesses begann der Minister a.D., sich als Zeitzeuge, Experte und schließlich höchste Deutungsinstanz für das untergangene Dritte Reich zu profilieren. Die Gestalt des bürgerlichen, unpolitischen, verführten, effizienten Technokraten nahm im Nürnberger Gerichtssaal und in der Spandauer Haft Gestalt an und wurde glaubhaft gemacht durch die Sühnesimulation, die Speer bis an sein Lebensende fortsetzen sollte. Mit der Anerkennung bloß indirekter Schuld – und selbst diese eher für nicht gestellte Fragen als für Mitwissen, geschweige denn Mittäterschaft – camouflierte Speer seine sehr greifbare direkte Verantwortung. Das selektive Schuldbekenntnis war die brillanteste Erfindung Speers.
Die Spurenverwischung eines Täters wäre weniger verhängnisvoll gewesen, hätte Speer nicht enormen Einfluss auf die populäre Wahrnehmung wie auch die wissenschaftliche Forschung zum Dritten Reich genommen. Brechtken verfolgt, wie früh schon – und teils gar ohne dessen Zutun – Speer als Identifikationsfigur für Deutungen des Nationalsozialismus gecastet wurde, die es weiten Teilen der westdeutschen Bevölkerung erlaubte, sich moralisch zu exkulpieren, und darüber hinaus auch den neuen Alliierten im Kalten Krieg ein Angebot machte, den bürgerlichen Kern der Bundesrepublik als letztlich integer in die westliche Gemeinschaft zu reintegrieren. Deutsche wie anglo-amerikanische Historiker kommen hier – trotz Ausnahmen wie des auch sonst zu oft übersehenen Geoffrey Barraclough – nicht gut weg, und Brechtken stellt der Zunft ein denkbar schlechtes Zeugnis aus (das Institut für Zeitgeschichte indes taucht in diesen Passagen überraschenderweise kaum auf).
Die Hauptverantwortung für Speers fatalen Einfluss weist Brechtken vor allem dem Tandem aus Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler zu. In Übereinstimmung mit Trommers im vergangenen Jahr erschienener Studie zeigt er, wie entscheidend deren Kompetenzen waren: Siedlers biographisches und verlegerisches Prestige (insofern ist der Umstand, dass das von ihm begründete Haus nun Brechtkens Buch verlegt, wohl auch eine Art Wiedergutmachung); das Vermarktungspotential Propyläens; sowie Fests stilistische Brillanz und das Crossmarketing mit seiner eigenen Hitler-Biographie. Dafür dass Siedler so erkennbar wenig Interesse an der Wahrheit hatte wie sich Fest um Quellenkritik scherte, wenn es denn nur authentisch klang, hat Brechtken verständliche Empörung übrig. Sein Ziel ist die finale Diskreditierung sowohl von Speers Zeitzeugen- als auch von Fests Deutungsautorität. Entsprechend geraten seine langen Detailanalysen der „Erinnerungen“, der „Spandauer Tagebücher“ und des „Sklavenstaat“ sowie deren unkritischer Rezeption gewissermaßen zu Obduktionen am Quellenkadaver. Dass Brechtken von seinem Verdikt nicht nur die Recherchen des Filmemachers Heinrich Breloer, sondern auch das bekannte „Playboy“-Interview Speers positiv abhebt, ist dabei eine hübsche Pointe. Dass er zudem zeigt, dass Fests eigene Publikationen ähnlich unzuverlässig, wenn nicht gar fiktionalisiert sind, gibt zu denken.4
Am Ende bleibt von Speer als historischer Quelle im Grunde nichts, von seinem Leben nur Unerfreuliches übrig: ein Karrierist und Verbrecher, Hochstapler und Lügner, der selbst im privaten konsequent schäbig agierte, finanziell wie emotional noch stets auf seinen Vorteil bedacht. Vielleicht ist dies auch das einzige Problem, das Brechtkens wuchtige Schrift, deren Wahrheit ganz aus den Akten ersteht, nicht auflösen kann. Sein Speer gerät beinahe zu eindeutig; alles scheint Berechnung und Beherrschung. Wo Serenys Protagonist eine ambivalente, psychologisch nur schwer zu deutende Gestalt war, ist bei Brechtken im Grunde alles klar. Das mag so sein, macht Speer aber nicht interessanter. Im Dunkeln von Brechtkens maßgeblicher Darstellung bleibt, wie erfolgreich Speers Autosuggestion war – aber vielleicht ist das auch etwas, das noch so viele Biographien nicht zu erhellen vermögen.
Anmerkungen:
1 Gitta Sereny, Albert Speer. His Battle with Truth, London 1995; Dan van der Vat, The Good Nazi. The Life and Lies of Albert Speer, London 1997; Joachim Fest, Speer. Eine Biographie, Berlin 1999; Heinrich Breloer, Unterwegs zur Familie Speer. Begegnungen, Gespräche, Interviews, Berlin 2005; ders. und Rainer Zimmer, Die Akte Speer. Spuren eines Kriegsverbrechers, Berlin 2006; Martin Kitchen, Speer. Hitler’s Architect, New Haven 2015.
2 Kitchen, Speer; Kim Christian Priemel: Rezension zu: Kitchen, Martin: Speer. Hitler's Architect. New Haven 2015 , in: H-Soz-Kult, 18.05.2016, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25222 (24.11.2017).
3 Angela Schönberger, Die neue Reichskanzlei von Albert Speer, Berlin 1981; Matthias Schmidt, Albert Speer. Das Ende eines Mythos. Aufdeckung einer Geschichtsverfälschung, München 1983; Susanne Willems, Der entsiedelte Jude. Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau, Berlin 2002; Adam Tooze, The Wages of Destruction. The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006, S. 554–579; Jonas Scherner / Jochen Streb, Das Ende eines Mythos? Albert Speer und das so genannte Rüstungswunder, in: VSWG 93 (2006), S. 172–196; Heinrich Schwendemann, Zwischen Abscheu und Faszination. Joachim C. Fests Hitler-Biographie als populäre Vergangenheitsbewältigung, in: Jürgen Danyel / Jan-Holger Kirsch / Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 127–131; Isabell Trommer, Rechtfertigung und Entlastung. Albert Speer in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main 2016, rezensiert von Heinrich Schwendemann in: H-Soz-Kult, 30.11.2016, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25978 (24.11.2017); Sebastian Tesch, Albert Speer (1905–1981), Wien 2016.
4 Das gilt auch für das vom Rezensenten an anderer Stelle unhinterfragt übernommene Zitat aus Joachim Fest, Die unbeantwortbaren Fragen. Notizen über Gespräche mit Albert Speer zwischen Ende 1966 und 1981, Hamburg 2015: Priemel, Rezension zu: Kitchen, Martin: Speer. Hitler's Architect. New Haven 2015, in: H-Soz-Kult, 18.05.2016, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25222 (24.11.2017).