W. Faulstich (Hg.): Die Kultur der 70er Jahre

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Titel
Die Kultur der 70er Jahre.


Herausgeber
Faulstich, Werner
Erschienen
Paderborn 2004: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
274 S. mit Abb.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maria Stehle, College of Humanities & Fine Arts, University of Massachusetts, Amherst

Nachdem in den letzten Jahren zahlreiche Publikationen die kulturellen und politischen Entwicklungen der 1960er-Jahre neu bewertet und theoretisiert haben, rücken nun die 1970er-Jahre zunehmend ins Blickfeld kulturwissenschaftlicher und kulturgeschichtlicher Forschung. Der von Werner Faulstich herausgegebene Band „Die Kultur der 70er Jahre“ kann in diesem Zusammenhang als ein wichtiger Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen gesehen werden.

Die 17 Beiträge des Bandes werden dem Ziel, jeweils „prägnante Konturen eines gesellschaftlichen Teilsystems und seiner Veränderungsprozesse“ in den 1970er-Jahren sichtbar zu machen (Klappentext), in ihrer Gesamtheit durchaus gerecht. Einzelne Artikel weisen allerdings gerade wegen des Versuchs, sich auf einen dieser Teilbereiche zu beschränken, beachtliche Lücken auf. Der Anspruch, das Jahrzehnt in seiner oft widersprüchlichen Komplexität darzustellen und innerdeutsche Entwicklungen in einem globaleren Kontext zu verstehen, bleibt dabei leider etwas auf der Strecke. Um dem Band insgesamt gerecht zu werden, ist es aufgrund der unterschiedlichen Qualität der Beiträge notwendig, auf einzelne Artikel und Themenbereiche exemplarisch näher einzugehen.

Die von Faulstich vorgeschlagene Methode, die 1970er-Jahre in Form einer kritischen Untersuchung von Schlüsselbegriffen zu beschreiben, wird leider nur von etwa der Hälfte der Autoren ernstgenommen. Oft begnügen sich die Abhandlungen damit, die Entwicklung eines bestimmten Teilbereiches zu skizzieren, ohne die Erkenntnisse kritisch zu analysieren oder in einen politischen Kontext einzubinden. Die Artikel von Jürgen Wilke zur Tagespresse, von Andrea Schormann zur Musikkultur, von Klaus Wernecke zum Freien Radio und von Ricarda Strobel zur Frauenbewegung bieten zwar jeweils einen guten Überblick, liefern aber eine rein deskriptive Darstellung, deren Perspektive nicht weiter begründet wird.

Während die frühen 1970er-Jahre durchaus als Folge der sozialen Bewegungen der 1960er-Jahre verstanden werden können, veränderte sich das politische und kulturelle Klima gegen Ende des Jahrzehnts gravierend – vor allem in der Folge des „Deutschen Herbstes“ von 1977. Folglich wäre zu fragen, ob die Entwicklungen der späten 1970er-Jahre nicht im Zusammenhang mit der Politik der frühen 1980er-Jahre zu analysieren wären. Die Tatsache, dass Entwicklungen in der DDR in keinem der Artikel eine Rolle spielen, ist ein weiteres Beispiel für diese fehlende Kontextualisierung. Gerade wenn die Absicht verfolgt wird, den Medien und technischen Entwicklungen eine besondere Rolle zuzusprechen, müssen die Kommunikation zwischen den beiden deutschen Staaten und die wachsende Bereitschaft zu wirtschaftlicher Zusammenarbeit auf der einen Seite sowie die zunehmende Abhängigkeit und Überwachung auf der anderen Seite berücksichtigt werden. In Gerhard Ringshausens Beitrag zur „Religion in den siebziger Jahren“ werden diese Lücken besonders deutlich. Während Ringshausen die Entwicklungen in der katholischen und evangelischen Kirche unter Berücksichtigung von Primärtexten der Zeit adäquat beschreibt, bleibt die Entwicklung insbesondere der evangelischen Kirche in der DDR unbeachtet, obwohl sie nicht ohne Einfluss auf die Bundesrepublik gewesen sein kann. Wenn Ringshausen im zweiten Teil seines Beitrages kurz auf andere Religionen eingeht, erwähnt er in keinem Satz die zunehmende Zahl von Muslimen in der Bundesrepublik, die für die westdeutsche Bevölkerung im Lauf der 1970er-Jahre immer sichtbarer und oft als bedrohlich beschrieben wurde. Immigration war ein Schlüsselthema der 1970er-Jahre, das im ganzen Band, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt wird.

Andere zentrale Fragen wie ein neues Körperbild und eine veränderte Wahrnehmung durch den Einfluss von neuen Medien lassen sich dagegen durch die unterschiedlichen Beiträge verfolgen und werden zweifellos zu weiteren Untersuchungen anregen. Obwohl das Thema Körperkultur in unterschiedlichen Beiträgen angesprochen wird (zum Beispiel von Jörg Türschmann, Jörn Glasenapp und Michael Schaffrath), und deutlich wird, wie unterschiedliche Lebens- und Wahrnehmungsbereiche davon beeinflusst wurden, fehlt eine kritische Betrachtung der Körperkultur im Kontext von nationaler und geschlechtlicher Identität. Dabei bleibt zu fragen, inwieweit in den 1970er-Jahren rassistische Konzepte und geschlechterspezifische Normen ein- und umgeschrieben wurden.

Jörn Glasenapp, Werner Faulstich und Walter Uka zeigen, wie sich „das Wesen der visuellen Kultur“ (S. 207) in Westdeutschland verändert hat, und bieten wichtige Ansatzpunkte für eine weitere Untersuchung und Theoretisierung der zunehmend medialisierten Wahrnehmung von ‚Wirklichkeiten’ oder ‚sozialen Realitäten’. Ukas Feststellung, dass Bilder noch stärker als früher zu einem prägenden Teil der Wirklichkeit geworden seien (S. 207), lässt die Frage nach einem politisch-kritischen Verständnis von postmodernen Wirklichkeitskonzepten im westdeutschen Film der 1970er-Jahre allerdings offen.

Im Kontrast dazu bieten einige Beiträge eine kritische und innovative Perspektive auf bisher wenig oder gar nicht analysierte Teilbereiche der Kultur. Reinhard Uhles Aufsatz zur „Pädagogik der siebziger Jahre“ gibt nicht nur einen ausgezeichneten Überblick zu diesem Thema, sondern stellt auch einen Versuch dar, die Entwicklungen in ihrer Komplexität und ihren möglichen Konsequenzen aufzuzeigen. Uhle analysiert pädagogische Texte aus den 1970er-Jahren, um zu belegen, dass das Selbstverständnis bürgerlicher Erziehung zwar in Frage gestellt worden sei, dass sich hinter einigen der neuen und oft als revolutionär verstandenen Bildungs- und Erziehungskonzepten aber auch utilitaristische und humanistisch-aufklärerische Prinzipien verborgen hätten. Die weitergehenden gesellschaftlichen und politischen Implikationen einer solchen Entwicklung bleiben genauer zu untersuchen.

Hans Dieter Küblers Beitrag „Die eigene Welt der Kinder. Zur Entstehung von Kinderkultur und Kindermedien“ ist zweifellos einer der besten des Bandes. Kübler zeigt detailliert die Zwiespältigkeit der Entwicklungen von Kindermedien, des Fernsehens sowie des Bücher- und Zeitschriftenmarkts, ihrer pädagogischen Ansprüche sowie ihrer Profitabilität als Teil eines Marktes, der in den 1970er-Jahren größtenteils erst entdeckt wurde. Kübler erläutert, wie Kinder aus zwei sich widersprechenden bzw. nicht offensichtlich in Einklang zu bringenden Gründen zu einer wichtigen Zielgruppe gesellschaftlichen Wandels wurden (S. 76): „Kinder wurden in eine nicht zuletzt ökonomisch bestimmte, aber reformerisch orientierte Bildungsoffensive eingespannt, die […] soziale Benachteiligungen und nötige Begabungsreserven ausschöpfen sollte.“ Kindererziehung wurde zwar politisch verstanden, wurde jedoch gleichzeitig zu einer „kalkulierenden Marktgröße“ (S. 77). Weitere Beispiele für den Versuch, die Beschreibungen in einen theoretischen Rahmen einzuordnen, sind Matthias Lorenz’ Beitrag zu Literatur und Literaturbetrieb, Karin Knops Untersuchung der Werbung sowie Karlheinz Wöhlers Beitrag zu Reisen und Wohnen.

In „Zwischen Glitter und Punk“ zeigt Faulstich einige widersprüchliche Entwicklungen der 1970er-Jahre am Beispiel der Musikindustrie auf. Ausdifferenzierung, Homogenisierung und Kommerzialisierung, auch von so genannter alternativer und politisch verstandener Musik, fanden oft zeitgleich statt. Daraus leitet Faulstich ab, dass sich das Verständnis von Musik als Gegenkultur im Kern selbst aufhebe und der Auflösung eines „Wertekonsenses“ den Weg bereite (S. 146). Abgesehen von ihrem nostalgischen Unterton ist diese Schlussfolgerung insofern problematisch, als sie die in der vorherigen Analyse gezeigte Komplexität der Entwicklung nicht berücksichtigt. Die Gleichzeitigkeit von politischem Anspruch, Provokation und Kommerzialisierung erfordert ein dynamischeres Verständnis von gesellschaftlichen Diskursen, das es uns erlaubt, die Implikationen der scheinbar widersprüchlichen und dennoch synchronen Entwicklungen zu erfassen.

Die These, dass Kultur im Laufe der 1970er-Jahre einerseits aufgrund eines zunehmenden Pragmatismus und andererseits wegen der wachsenden kulturellen Vielfalt ihre „gesellschaftsprägende Kraft“ verloren habe (S. 17), scheint aus der Schwierigkeit geboren, postmoderne Diskurse in ihrer Widersprüchlichkeit und Komplexität zu beschreiben. Wenn Kultur nicht als abgegrenzter Bereich, sondern als gesellschaftliches Phänomen betrachtet werden soll, welches uns erlaubt, komplexe soziale und politische Diskurse zu untersuchen, kann ihre gesellschaftsprägende Kraft nicht nachlassen; sie kann sich allenfalls verschieben. So bleibt die Frage, ob „Vielfalt“ logischerweise eine Verringerung an Einfluss bedeutet, in diesem Band unbeantwortet. Vor allem wenn neue technologische Entwicklungen wie Fernsehen, Telekommunikation und Computertechnologie für kulturelle Strömungen zentraler werden, muss die historische Analyse die Effekte von Machtstrukturen auf gesellschaftliche Identitätsprozesse als Teil dieser Entwicklung ernstnehmen. Wenn nicht die These von postmoderner Beliebigkeit unsere Analysen und Schlussfolgerungen bestimmen soll, sondern andere, vielfältigere, verstecktere Mechanismen beschreibbar gemacht werden sollen, müssen diese als Teil eines nationalen und zugleich globalen politischen Prozesses verstanden werden.

Gerade der Versuch, den 1970er-Jahren in Westdeutschland unter einer kulturwissenschaftlichen Perspektive gerecht zu werden, erfordert eine theoretischere Ausgangsposition. Innerhalb dieses Jahrzehnts entwickelte sich ein Diskurs über Postmoderne und das „Ende der Geschichte“. Zunehmend werden die Entwicklungen der 1970er-Jahre aus heutiger Perspektive auch als wichtiger Schritt im Prozess der kapitalistischen Globalisierung und der Überwindung des Kalten Krieges gelesen. Dem Band kommt das Verdienst zu, Lücken aufzudecken, die zu weiteren Forschungen und Fragen anregen.

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