Die Frage danach, was der Mensch heutzutage essen darf, verstanden als Frage nach den ethischen Grundlagen der Lebensmittelerzeugung und Nahrungskultur, gewinnt zunehmend gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Dieses aktuelle Thema auf breiter disziplinärer und thematischer Grundlage zu diskutieren, ist das Verdienst des hier zu besprechenden Sammelbandes. Er geht zurück auf das 2012 an der Universität Regensburg abgehaltene siebte Symposium des Internationalen Arbeitskreises für Kulturforschung des Essens im Zusammenhang der Dr. Rainer Wild-Stiftung für gesunde Ernährung. Für die Publikation hat das vierköpfige interdisziplinäre Herausgeber/innenteam weitere Beiträge eingeworben, die sich ebenso die theoretische Durchdringung wie eine anwendungsbezogene Reflexion aktueller Fragen der Ernährungsethik zum Ziel gesetzt haben. Zu Wort kommen Vertreter/innen von sehr unterschiedlichen Disziplinen und Arbeitsfeldern, darunter Agrarwissenschaften, Ernährungswissenschaften, Europäische Ethnologie/Vergleichende Kulturwissenschaften, Medizingeschichte, Pädagogik, Philosophie, Physik, Soziologie, Sprachwissenschaft, Umweltforschung und Volkswirtschaftslehre. Mitgeschrieben haben zudem verschiedene Vertreter/innen aus Journalismus sowie von Nichtregierungsorganisationen (Evangelisches Bauernwerk, Evangelischer Entwicklungsdienst, World Wildlife Found).
Ein zentrales Thema vieler Beiträge ist der Fleischkonsum. Er ist in Zeiten wachsenden Veganismus und Vegetarismus, wie Jana Rückert-John und Barbara Wittmann in ihrer Zusammenschau unterstreichen, „ein genuines und zentrales Thema ernährungsethischer Debatten“ (S. 393). Die thematische Bündelung dieser Beiträge unter dem Fokus des Huhns erweist sich als eine geschickte Strategie der Herausgeber/innen, lassen sich doch unter diesem Fokus internationale Verflechtungen der Lebensmittelproduktion im Zeitalter beschleunigter Globalisierung ebenso aufzeigen wie einige damit zusammenhängende Entwicklungen des Konsumverhaltens. Die insgesamt 24, von einer Einleitung und Zusammenschau gerahmten Beiträge sind in fünf thematische Gruppen gegliedert. Im ersten Teil „Zur Theorie einer ethischen Ernährung“ (S. 19–79) werden einige Grundlagen des Themenfeldes abgesteckt. Dabei wird Wissen als zentraler Faktor für die Etablierung einer „sinnvollen Ernährungsethik“ (S. 23) ausgemacht, dessen soziale Verfasstheit vielen Konsument/innen im Alltag die Entscheidungsfindung erschwere (Lars Winterberg). Die von Niklas Luhmann als „Reflexionstheorie der (Subjektivität der) Moral“ (S. 42) verstandene Ethik erlaubt Daniel Kofahl zufolge eine „Ernährungskommunikation jenseits von gut und böse“ (S. 45). Harald Lemke stellt eine Gastroethik vor, die der Frage „Fleisch oder Gemüse“ eine Philosophie des maßvollen Konsums von artgerecht gehaltenen Pflanzen und Tieren entgegensetzt. In der Bewusstmachung der kulturellen Konstituierung von Fleisch als einem vermeintlich unverzichtbaren hochwertigen Lebensmittel, das in vielfältige soziale Zusammenhänge eingebunden ist, sieht Manuel Trummer eine wesentliche Voraussetzung für eine „neue Kultur des Fleischkonsums“ (S. 76). Die in diesem eher theoretisch angelegten Teil vertretene aufklärerische Haltung, die auf die Vermittlung von Ernährungswissen und die Verbindung von Ernährungsethik mit alltäglicher Lebenswelt setzt, gibt den Ton des Bandes vor. Barbara Methfessel setzt diese Perspektive im zweiten Teil („Ernährungsethische Fragestellungen aus unterschiedlichen Perspektiven“, S. 83–155) mit ihrem Plädoyer einer Verbindung von Wissen und Genuss fort, und Christoph Klotter diskutiert als Negativfolie Aspekte normativen Zwangs am Beispiel der gesellschaftlichen Stigmatisierung von Übergewicht beispielhaft in Gestalt der Beratungspraxis einer fiktiven Ernährungsberatung. Die Anerkennung der Verbindung von Ernährung und Ressourcenschutz auch im politischen Handeln der Regierenden sieht Raimund Bleischwitz als Desiderat, vergleichbar stellt Franz-Theo Gottwald Defizite zur Gewährleistung des Tierwohls in die Verantwortung nicht nur von Konsument/innen, sondern auch von Gesetzgebung. Ethik auf Ebene des Molekularen bedeutet gemäß Thomas A. Vilgis umfassenderen Genuss, weil es etwa auf den Verzehr des ganzen Huhns und nicht lediglich seiner Brust setzt.
Die Überschrift des dritten Teils „Das Huhn im Fokus“ (S. 159–228) ist insofern leicht irreführend als auch Beiträge der anderen Sektionen am Beispiel des Huhns argumentieren. Hier geht es um Ökobilanzen als ethische Entscheidungshilfe (Maria Müller-Lindenlauf), um (freilaufende) Großstadthühner als Ausdruck erneut angeeigneter urbaner Ernährungssouveränität (Peter Hörz) und um den Einfluss moderner Verpackung auf die Ernährungskultur (Eva Kristin Stein). Mit der Entwicklung des Tierarztberufes wird die Berufsethik einer in der Lebensmittelindustrie tätigen Berufsgruppe beleuchtet (Ulrike Thoms). Lose Rose fokussiert in ihrem Beitrag über die Tabuisierung von Tierschlachtung für Kinder im vierten Teil des Buches („Vom gesellschaftlichen Umgang mit dem Fleischkonsum“, S. 231–305) auf das u. a. in den Beiträgen von Gottwald und Stein bereits zuvor angesprochene Verdrängen der Tiertötung als zwingende Voraussetzung für Fleischkonsum. Gesellschaftliche Verdrängungen, Ausblendungen und Positionierungen werden dabei wesentlich durch Mediendiskurse mitgestaltet. Während Nicole M. Wilk den medialen Diskurs pro Verzehr von Hähnchenfleisch als „Ausdruck gouvernementaler Subjekt- und Körperbilder“ (S. 249) deutet, zeigt Markus Schreckhaas, wie soziale Netzwerke als Verstärker medialer Skandalisierungen wirken. Sebastan Vinzenz Gefäller skizziert die Entwicklung der Bio-Branche aus den Erfahrungen von Lebensmittelskandalen wie BSE heraus und zeigt, wie diese neuen Inwertsetzungen medial gestützt wurden. Sebastian Gietl nimmt die Überlegungen einer kulturellen Verankerung von Fleischkonsum am Beispiel der Entwicklung des Fleischkonsums in Istanbul auf. Der fünfte Teil „Von der Theorie zu Praxis“ (S. 309–387) führt die Impulse für Veränderungen der Ernährungsethik aus den vorherigen Teilen fort. Unterschiedliche Praktiker/innen berichten über ihre Erfahrungen, sei es im Selbstversuch als ethisch bewusste Verbraucherin (Annabel Wahba), reflektieren die vielfältigen Konfliktlinien im Bereich der Ernährungsethik (Clemens Dirscherl), fassen die Probleme globalisierten Handels mit Hühnerfleisch zusammen (Stig Tanzmann), erörtern die ungleiche Verteilung landwirtschaftlicher Nutzflächen aufgrund des immensen Flächenverbrauchs industrieller westlicher Landwirtschaft (Tanja Dräger de Teran) oder zeigen die Problematik medialer Narrationen, die das Bild der Landwirtschaft in der Öffentlichkeit verzerrten (Jan Gossarth, Johannes J. Arens im Gespräch mit Angela Werner).
Die hier nur rudimentär referierte Vielfältigkeit und Vielstimmigkeit der Beiträge sowie ihre Querverbindungen untereinander sprengen immer wieder die gewählte Sektionseinteilung des Bandes. So liest die abschließende Zusammenschau sich auch als Versuch, die gewählte Ordnung zumal angesichts möglicher verschiedener disziplinärer Deutungen nochmals zu begründen. Unterschiedlich ausgeführt wirken die im Untertitel genannten Schwerpunkte des Bandes. Versteht man diese als Blickrichtungen, so bleibt etwa der Aspekt des ökonomischen Zwangs unterbeleuchtet. Überhaupt bleiben aus Sicht einer empirisch arbeitenden Kulturwissenschaft die Verbraucher/innen seltsam gesichtslos, werden eher als abstrakter Gegenstand der Überlegungen denn als handelnde Subjekte sichtbar. Der Sitz des Konsums und der Ethik in verschiedenen Sozialmilieus bleibt unbestimmt – gut möglich, dass diejenigen, die im Discounter oder im türkischen Markt um die Ecke Würstchen und Fleisch kaufen, die hier behandelten Fragen für akademisch und von ihrem Alltag weit entfernt halten. Der angestrebte Praxisbezug und der Erfolg der von den Autor/innen des Bandes mehrheitlich als notwendig erachteten Änderungen der Ernährungskultur angesichts einer auf vielfältige Krisen und Herausforderungen antwortenden Ernährungsethik mag auch davon abhängen, ob und wie diese Akteur/innen ihren Sitz in der Forschung und ihre Teilhabe am Diskurs darüber, was man heute essen darf, haben.
Solcher offenen Fragen ungeachtet ist die Lektüre des Bandes aufgrund der angesprochenen Vielfalt an Perspektiven und Themen überaus anregend und gewinnbringend. Die Differenzierung der Ernährungsethik in verschiedene Bereiche wie Umwelt-, Tier- oder Berufsethik und der Blick auf verschiedene Akteur/innen und Felder bieten ebenso der Nahrungskulturforschung im weitesten Sinne wie einer interessierten Öffentlichkeit wichtige Impulse.