Titel
„Republik, das ist nicht viel“. Partei und Jugend in der Krise des Weimarer Sozialismus


Autor(en)
Walter, Franz
Reihe
Studien des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zur Geschichte politischer und gesellschaftlicher Kontroversen 2
Anzahl Seiten
454 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Matthias Busch, Arbeitsbereich Didaktik Sozialwissenschaften, Universität Hamburg Email:

Der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter geht mit seiner Studie „‚Republik, das ist nicht viel‘ – Partei und Jugend in der Krise des Weimarer Sozialismus“ thematisch zurück an seine eigenen forschungsbiographischen Wurzeln. Bereits in seiner Dissertation am Seminar für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen bei Peter Lösche hatte sich der Autor den sozialistischen Jugendorganisationen der Weimarer Republik gewidmet.1 Sich nun erneut mit den „vergilbten Kopien“, „schwer noch zu entziffernden Abschriften“ und bisher unveröffentlichten Funden der eigenen Promotionszeit auseinanderzusetzen, habe auf ihn „verstörend“ (S. 10) gewirkt. Dem Leser verspricht Walters Konfrontation mit dem eigenen Frühwerk indes neben neuen Erkenntnissen über den Weimarer Jungsozialismus aufschlussreiche Einblicke in ein Forscherleben.

Der Autor zeichnet in der Publikation die theoretischen Diskussionen und Auseinandersetzungen unterschiedlicher jungsozialistischer Strömungen nach. Er blickt dabei allerdings beständig auch auf das „geistig-kulturelle Klima“, die Lebensweisen, Kontexterfahrungen und „Zeitgeistprägungen“, in denen sich die Deutungsmuster der Parteijugend entwickelten. Kriegs- und Nachkriegserfahrungen bildeten den Ausgangspunkt für eine drastische Sinnkrise der jungen Generation. Der geschichtsoptimistische Glaube, dass sich der Sozialismus naturnotwendig entwickle, war nach den enttäuschenden Resultaten der Revolution und den anhaltenden sozialen Ungerechtigkeiten der Weimarer Republik tiefgreifend erschüttert. Traditionelle Freizeitangebote der Arbeiterschaft wie Arbeiter-Samariter- oder Sänger-Bund verloren an Zugkraft. Offizielle SPD-Veranstaltungen und routinierte Parteibürokratie wirkten abschreckend oder boten aus Sicht der Jugend nicht hinreichend Raum für grundlegende Kontroversen. Stattdessen ergründeten Jungsozialisten in unabhängigen Arbeitskreisen alternative Formen „sozialistischer Geisteskulturen“ (S. 26). In ihrer fundamentalen Kritik suchten sie nach neuen sozialistischen Perspektiven. Dabei adaptierten sie zunächst lebensreformerisch-expressionistische Lebens- und Denkweisen, um in Gemeinschaftserlebnissen ihr spezifisches Lebensgefühl und ihre politische Haltung ganzheitlich auszudrücken. Die Diskussionskreise der jungsozialistischen Bewegung verstanden sich in ihren intellektuellen Auseinandersetzungen durchaus als elitäre Zirkel eines „vorweggenommenen Sozialismus“. Sie beanspruchten, den „neuen Menschen“ und eine „spätere spirituelle Durchgestaltung der Massen“ (S. 42) erzielen zu können. Die Antworten, die sie fanden, erstreckten sich über ein breites Spektrum von national-romantischen über „mittlere“ bis hin zu marxistischen Positionen.

Ausführlich beschäftigt sich der Autor mit dem Richtungsstreit zwischen den in völkisch-vaterländischer Hingabe verharrenden Vertretern des „rechten“ Hofgeismarkreises und dem linkssozialistischen Hannoveranerkreis. Die sich wandelnden politischen Zielsetzungen und Ausdrucksformen des Weimarer Jungsozialismus werden dabei vor allem mit einem Generationswechsel erklärt. Nach Walters Lesart prägte ab Mitte der 1920er-Jahre eine neue Kohorte die politische Jugendbewegung. Die „Kinder der Republik“, die kaum noch über Erinnerungen an Kaiserreich und Krieg verfügten, zeichneten sich durch eine „neue Sachlichkeit“ und den Wunsch nach straffer Führung aus. „Man war des Problematisierens überdrüssig, fand keinen Geschmack mehr am Sich-und-alles-in-Frage-stellen der Lebensreformer“ (S. 157) und wandte sich in zunehmender Konfrontation mit den Erwachsenengremien der Partei gegen den als unzulänglich empfundenen Weimarer Staat. „Die Republik, das ist nicht viel, Sozialismus heißt das Ziel“ – im Leitspruch jener staatskritischen Radikalisierung, den Walter als Titel seiner Studie wählt, spiegelt sich die Krise des Weimarer Sozialismus. Dem verstärkten Drängen der linken Parteijugend auf politische Mitsprache in Tages- und Strategiefragen begegneten die älteren Generationen mit Misstrauen, Abwehr und schließlich Auflösung der Jungsozialisten.

Der Studie gelingt es, vielfältige methodische Zugänge zum Weimarer Jungsozialismus zu finden. Neben chronologischen Analysen des Kultur- und Diskurswandels in den Jugendorganisationen finden sich systematische Darstellungen ausgewählter Parteiorganisationen. Fallstudien und biographische Untersuchungen beleuchten jeweils einzelne regionale Diskussionen oder Akteure wie Max Adler, Ernst Rosendahl oder Ernst Niekisch. Dabei stützt sich der Autor auf Zeitzeugeninterviews, Verhandlungsprotokolle und Zeitschriftenartikel. Mit der Auswertung von Formen der Selbstinszenierung anhand von Liedtexten, Kleidungsstilen und Festgestaltungen gelingt ein facettenreicher Einblick in die sozialistischen Jugendkulturen.

Wünschenswert wäre es gewesen, wenn hinter Walters Einschätzungen die von ihm aufwendig recherchierten und erhobenen Quellenmaterialien und Zeitzeugen stärker zu Wort kommen würden. Wenn „[e]s kam, wie es kommen musste“ (S. 182), über unbekannte Innensichten einzelner Akteure spekuliert wird oder Diskursbeiträge als „unbeholfen und kraftlos“ (S. 170) klassifiziert werden, fehlen stellenweise Belege und eine konkrete Inhaltsanalyse für eine überprüfbare Argumentation. Die von Walter angekündigten bisher unveröffentlichten Materialien und Funde sucht man im Vergleich mit den Texten der früheren Publikation oft vergebens. Überhaupt führt die vom Autor beschriebene Kluft, „wie man vor Jahren gefiltert, formuliert, gedeutet hat“ und „wie man aktuell sortiert, schreibt, urteilt“ (S. 10), zu überraschend wenig Veränderungen. Ausgewählte neuere Forschungsergebnisse werden zwar aufgenommen.2 Der Text selbst ist jedoch – auch wenn das die durchgängig geänderten Kapiteltitel und Umstellungen nicht erwarten lassen – bis hin zum Fazit zu einem Großteil identisch mit der Dissertation von 1986. Neben einzelnen stilistischen Eingriffen und Kürzungen ergänzt Walter seine Promotion um Ausführungen zur Sozialistischen Arbeiterjugend und anderen Parteiorganisationen, wie er sie weitgehend textgleich bereits in früheren Arbeiten veröffentlicht hat, ohne die Entlehnungen hier allerdings transparent zu machen.3

Auch wenn sich neue Perspektiven und veränderte Bewertungen kaum finden lassen, ist das Verdienst des Autors darin zu sehen, mit der Publikation eine zusammenfassende, überarbeitete Neuauflage seiner älteren Studien zu bieten und sie damit erneut einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen.

Anmerkungen:
1 Franz Walter, Nationale Romantik und revolutionärer Mythos. Politik und Lebensweisen im frühen Weimarer Jungsozialismus, Berlin 1986 (Dissertation).
2 Lothar Wieland, „Wieder wie 1914!“ Heinrich Ströbel (1869-1944). Biographie eines vergessenen Sozialdemokraten, Bremen 2008. Stefan Vogt, Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie. Die sozialdemokratische Junge Rechte 1918 bis 1945, Bonn 2006.
3 Vgl. zum Kapitel VII: Franz Walter, Jugend in der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft. Eine organisationssoziologische Studie über die Sozialistische Arbeiterjugend Deutschlands (SAJ), in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK) 23 (1987), 3, S. 311-376.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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