Bedeutung und Ambivalenzen der Arbeiterbildungsvereine im sozialen und kulturellen Emanzipationsprozess der Arbeiter im 19. Jahrhundert sind in der historischen Forschung zur Arbeiterbewegung vielfach herausgearbeitet und belegt. Weniger Beachtung fanden bislang, so zeigt Elke Brünle im Quellen- und Literaturbericht (Kapitel 1) ihrer umfassenden Studie, die Bibliotheken der Arbeiterbildungsvereine, vor allem die jener Vereine, die nicht in der Sozialdemokratie aufgegangen sind. Einen Grund für diese ungleichgewichtige Rezeption sieht sie in der unterschiedlich dichten Quellenlage. Während die polizeiliche Überwachung politisch ausgerichteter Arbeiterbildungsvereine in den Behördenarchiven einen umfangreichen Quellenfundus hinterließ, sind Quellen aus der Geschichte der eher unpolitisch eingestellten lokalen Bildungsvereine in weit geringerem Maße überliefert. Diese weniger erforschten Linien der Arbeiterbildungsvereine in den Blick genommen, mit reichhaltigem Quellenmaterial belegt und somit Einblicke in die bibliothekspraktische Realität der Vereine ermöglicht zu haben, ist ohne Zweifel eine beachtenswerte Leistung der vorliegenden Studie, die 2009 vom Fachbereich Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommen wurde. Mit der Fokussierung auf Bibliotheken württembergischer Arbeiterbildungsvereine leistet sie nicht nur einen Beitrag zur Bibliotheks- und Regionalgeschichte, sondern gleichermaßen zur Erweiterung des konkret-historischen Wissens über Kultur- und Bildungsansprüche sowie Bildungspraktiken der Arbeiterbildungsvereine. Räumlich auf das Königreich Württemberg konzentriert, erstreckt sich die Untersuchung auf den Zeitraum von der Gründung der ersten Arbeiterbildungsvereine im Kontext der Revolution von 1848 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges und somit sowohl auf die Konstituierungs- als auch auf die Etablierungsphase der Arbeiterbildungsvereine, die dann in der Weimarer Republik allmählich ihre ursprüngliche spezifische Bedeutung verloren und in einer breit gefächerten Erwachsenenbildung aufgingen.
Elke Brünle geht in ihrer Arbeit chronologisch vor. Nach einer „terminologischen und thematischen Annäherung“ an die Phänomene Arbeiter, Arbeiterbildung und Arbeiterbildungsvereine (Kapitel 2), die von einem weit gefassten, heterogenen Begriff des Arbeiters im 19. Jahrhundert ausgeht, folgt sie den Hauptentwicklungsphasen der württembergischen Arbeiterbildungsvereine: 1848 bis 1852/53 (Kapitel 3 und 4) und 1862 bis 1918 (Kapitel 5 und 6), dazwischen ausgespart ist die Zeit der Reaktion und Repression nach der Revolution von 1848, in der die Arbeiterbildungsvereine verboten bzw. zum Stillstand gezwungen waren. Beide Entwicklungsphasen sind, vermutlich auch im Interesse ihrer Vergleichbarkeit, nach einem einheitlichen Raster geordnet.
In einem ersten Schritt werden Entwicklungen, Strukturen und Bildungsbemühungen der württembergischen Arbeiterbildungsvereine beschrieben (Gründungen, quantitative Verbreitung, Bildungsinitiativen, Bildungsziele, Bildungsmittel). Dabei ist nahe liegend, dass dem Zeitraum 1862 bis 1918, in dem sich die Arbeiterbewegung als politische Kraft etablierte und in den ihre politische Spaltung fällt, größeres Gewicht zukommt. In der ab 1868/70 nunmehr auch gespaltenen Landschaft der württembergischen Arbeiterbildungsvereine legt Elke Brünle den Fokus ihrer Analyse auf liberale und unpolitische bzw. nichtsozialdemokratische Arbeiterbildungsvereine, unter anderem auf den „Deutschen Arbeiterbund“, die „Gesellschaft für Verbreitung der Volksbildung“ und den „Verband süddeutscher Arbeiter-Bildungs-Vereine“.
In einem zweiten Schritt werden dann die Bibliotheken und die Lektürepraxis in württembergischen Arbeiterbildungsvereinen untersucht. Für die Jahre zwischen 1848 und 1852/53 liegt der Schwerpunkt auf der Bibliothek der Arbeiterbildungsvereine in Stuttgart und Ulm, ergänzt durch einen Überblick über örtliche Vereine im Neckarkreis, im Donaukreis und im Schwarzwaldkreis, die über eine eigene Bibliothek bzw. über eigene Buchbestände verfügten.
Im nachfolgenden Zeitraum bis 1918, in dem sich nicht nur die Anzahl und die Bestände nachgewiesener Bibliotheken, sondern auch die von den Bibliotheken ausgehenden Bildungsaktivitäten erheblich erweiterten, wird diese Entwicklung wiederum an Stuttgart vorgeführt, darüber hinaus an den Bibliotheken der Arbeiterbildungsvereine Reutlingen und Rottweil. Der Leser erfährt nahezu alles über Entstehung, Unterbringung, Ausstattung, Nutzungsmodalitäten und Nutzung, Personal, Finanzierung und vor allem über die Bestandsverzeichnisse, an denen die volksbildnerischen und erzieherischen Intentionen der Vereine mehr oder weniger deutlich ablesbar sind. Das gilt auch für die wiederum in einer Gesamtschau dargestellten örtlichen Bibliotheken aus den oben genannten Kreisen, diesmal erweitert um den Jagstkreis. Allein die Aufzählung der hier in Erscheinung tretenden Ortsvereine würde den Rahmen einer Rezension sprengen. Für lokalgeschichtliche Recherchen indessen bietet sich gerade hier interessantes Material. Ob allerdings in jedem Fall, auch dort also, wo es sich nur um kleine Bestände handelte, von Bibliotheken gesprochen werden kann, wäre zu diskutieren.
In einem abschließenden Kapitel (7) fasst Elke Brünle den Ertrag ihrer Untersuchung zusammen: Die vereinsinternen Bibliotheken stellten ungeachtet ihrer Unterschiede „ein originäres Element aller württembergischen Arbeiterbildungsvereine dar“, erlebten jedoch im Laufe ihrer Entwicklung „einen sichtlichen Bedeutungsverlust vom primären zum nachgeordneten Bildungsmittel der Arbeiterbildungsvereine“ sowie einen gesellschaftlich, ökonomisch und kulturell beeinflussten „Funktions- und Wesenswandel“ (S. 545). Zwar blieb die „geistige und sittliche Hebung der Arbeiter“ im gesamten Untersuchungszeitraum übergeordnetes Ziel der Vereinsbibliotheken. Die Realisierung dieses Zieles jedoch war zeitbedingten, jeweils historisch-konkreten Modifizierungen unterworfen. So bildeten die Bibliotheken der Arbeiterbildungsvereine zwischen 1848 und 1852/53 eine „Basis der kollektiven geistigen Emanzipation der Arbeiter“, während der Reaktionszeit 1853 bis 1861 bewahrten sie vielerorts die „informelle Existenz“ und „Kontinuitätslinien der Arbeiterbewegung“, nach 1862 entwickelten sie sich „als Zentren individueller Selbstbildung und politischer Orientierung“, zwischen 1871 und 1900 galten sie vor allem „als universelle Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsquellen“, nach der Jahrhundertwende und bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wandelten sie sich dann zunehmend zu Stätten „familienorientierter Unterhaltungs- und Bildungsangebote“ (S. 545f.).
Im Unterschied zu den sozialdemokratisch orientierten und eingebundenen Bibliotheken, die nach dem Mannheimer Parteitag 1906 auf stärkere Zentralisierung drängten, verharrten die Bibliotheken der „unpolitischen Arbeiterbildungsvereine mangels einer starken Verbandsstruktur bis zuletzt in ihrer lokalen, vielfach ineffizienten und unprofessionellen Vereinzelung“ (S. 547). Ausgehend von diesem Befund folgt Elke Brünle dann der Auffassung, dass die Bibliotheken der Arbeiterbildungsvereine zwar zur Arbeiterbildung beigetragen hätten, aber „für die Entwicklung der Öffentlichen Bibliotheken fraglos nur wenig relevant“ gewesen seien (ebd.). Legt man ihre eigenen Forschungsergebnisse zugrunde, erscheint diese Schlussfolgerung nicht ganz einsichtig, erst recht nicht, wenn man an die Leistungen und Intentionen der Bibliotheken denkt (vgl. S. 548ff.). Ungeachtet der konkret erreichten Nutzerzahlen machten sie Arbeiterkreisen im 19. Jahrhundert (und damit objektiv einem großen Teil der Bevölkerung) erstmals außerschulische, allgemeinbildende, konfessionell ungebundene und nichtkommerzielle Lese- und Bildungsangebote, wirkten damit dem herrschenden Bildungsmonopol entgegen und eröffneten, wenngleich in sehr bescheidenem Maße, kulturelle und geistige Partizipationschancen. Sie halfen, Selbstbildungsprozesse in Gang zu setzen, die nicht nur der Bewusstseinsentwicklung der Arbeiter zugute kamen, sondern ein keineswegs unwichtiges Moment des gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsprozesses im 19. Jahrhundert darstellten. In diesem Zusammenhang lässt sich dann möglicherweise auch das Spannungsverhältnis zwischen emanzipierenden und assimilierenden Funktionen der Arbeiterbildungsvereine und ihrer Bibliothekskultur schlüssiger diskutieren. In jedem Fall ist Elke Brünle zuzustimmen, dass sich die Bibliotheksbestände „als präzise Indikatoren für die soziokulturelle Verortung der württembergischen Arbeiterbildungsvereine“ erweisen (S. 554). Schon deshalb wäre es wünschenswert, ähnliche Untersuchung nicht nur auf andere Territorien, sondern auch auf andere soziale Milieus auszuweiten.
Nicht unerwähnt bleiben darf der umfangreiche Anhang, der mit zahlreichen Übersichten, Tabellen, Abbildungen und Titellisten die imponierende Quellengrundlage der Studie zusätzlich dokumentiert. Wegen ihres Quellenwertes, aber auch wegen ihrer detaillierten Systematik geht die wissenschaftliche Bedeutung der Studie weit über ihren regionalen bibliotheksgeschichtlichen Kontext hinaus. Kultur-, Sozial- und Bildungsgeschichte können gleichermaßen von ihr profitieren.