Alle Welt spricht von der Globalisierung: die Wirtschaft, die Politik, die Medien, Wissenschaft und Kultur ebenso wie der Tourismus – und die digitalen Akteure ohnehin. Seit langem sind nationale Grenzen auf vielfältige Weise nicht nur durchlässiger, sondern auch gleichsam verflüssigt worden. Den globalen Finanz- und Warenströmen folgen Politik und Kultur auf dem Fuß, um diese, die vormals primär national strukturierten Staaten und Gesellschaften in beträchtlichem Maße sozusagen neuformatierenden Prozesse steuernd und prägend zu begleiten. Versteht man solche Prozesse einerseits als Entgrenzung und Entwurzelung nationaler Handlungsbedingungen, andererseits als Beschleunigung sowie Neuverdichtung und -verflechtung grenzüberschreitender Interaktionen, fragt sich, welche Folgen der meist vor allem aus ökonomischer und politischer Sicht wahrgenommene Globalisierungsschub der letzten Jahrzehnte im Feld von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik hatte. Gibt es im strengen Sine das Handlungsfeld globaler Erinnerungskultur?
Die Begriffe Geschichtspolitik und Erinnerungskultur entstammen der Beobachtung und Analyse nationalen Umgangs mit unterschiedlichen Vergangenheiten. Als identifikatorisch relevant wahrgenommene nationale Epochen, Ereignisse und Akteure stehen dabei im Fokus von Politik, Kultur und Wissenschaft: Je nachdem, ob es dabei um traditionsbildend-zustimmungsfähige oder um kontroverse, politisch-ethisch herausfordernde Vergangenheiten geht, unterscheiden sich die Umgangsweisen. Erst im Laufe der Zeit wurden sie auch für Analysen und Deutungen grenzüberschreitender oder zwischenstaatlicher Prozesse benutzt.
Doch bereits auf der nationalen Ebene waren und sind die Geschichtserzählungen und -bilder ebenso wie die weitgefächerten Praxen des politisch-kulturellen und auch justiziellen Umgangs mit Vergangenheit vielfältig in internationale, mithin transnationale Bezüge verwoben. Das Jahrbuch für Politik und Geschichte hat dieses Feld schon mehrfach thematisiert. Etwa die Kolonialgeschichte, der Erste oder Zweite Weltkrieg, der Kalte Krieg oder die Europäische Gemeinschaft überschritten genuin Nationalgrenzen und das Denken in diesen Rahmen, da sie in das Nationale eine zweite Wahrnehmungs- und Deutungsebene einschreiben. Diese Weiterung ist immer schon mehr gewesen als bloß transzendierend oder ergänzend. Sie ist vielmehr eine die nationalen Erzählungen auch transformierende Entwicklung. So tangieren grenzüberschreitende Erinnerungsprozesse nationale Selbstbilder und Identitäten, nationale Geschichtserzählungen und Akteursbedingungen.
Aus der Debatte um politisch-ökonomische und sozio-kulturelle Wirkungen der Globalisierung ist hinlänglich bekannt: Nationale Traditionen und Strukturen sind zumindest partiell von bemerkenswerter Beharrungskraft, auch unter dem Druck beschleunigter ökonomischer globaler Prozesse. Zudem ist evident, dass die Tragfähigkeit neuer globaler Strukturen oft fragil ist. Gleichwohl, die transformierten Arten des Vergangenheitsbezugs bezeichnen eine wirkmächtige Dimension politisch-kultureller Realität, sodass auch zu fragen ist, in welchem Maße Normen, Rituale, Orte, Akteure und Ressourcen geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Handelns zur Globalisierung der Einen Welt beitragen.
Die sechste Ausgabe des Jahrbuchs für Politik und Geschichte widmet sich im Schwerpunkt dem Thema „Geschichtspolitiken und Erinnerungskulturen global“. Sind wir auf dem Weg vom partikular-abgrenzenden Gedächtnis zum global integrierenden Weltgedächtnis? Was macht Erinnern, Gedenken, Politik mit der Geschichte zu einem globalen Prozess – wie im Feld der allgemeinen Globalisierung der Wechsel vom Bezugssystem Nation zur ganzen Welt respektive größere Weltregionen mit übergreifenden Institutionen? Wo sind dann die geschichtspolitischen Arenen, wer sind die erinnerungskulturellen Akteure, wie werden die entsprechenden Normen transformiert und wo verlaufen Konfliktlinien globalen Vergangenheitsmanagements? Welche Relevanz haben etwa globale Geschichtspolitiken für die Verbreitung normativer Leitbilder wie der liberalen Demokratie und universeller Menschenrechte? Welche normativ-kognitive Reichweite haben diese Diskurse? Wie verändern sich dabei die Vergangenheitsbezüge, wie die Geschichtsbilder der Nationen und jene der „Vereinten Nationen“? Mit welchen Projekten, mit welchen Zielen werden die Nationen auch im Feld von Geschichte und Erinnerung gewissermaßen globalisiert – und wie wirken diese Diskurse zurück auf das Selbstverständnis nationaler Gesellschaften? Wie lassen sich dabei die benachbarten Begriffe internationale, transnationale und globale Erinnerung voneinander unterscheiden – und aufeinander beziehen? Gilt auch hier der Leitspruch der politischen Globalisierung: global denken, lokal handeln – oder verstellt diese Sicht eher den Blick auf die globale Verflechtung respektive Durchringung aller Ebenen? Kurzum: Wie sehen Geschichtspolitiken und Erinnerungskulturen jenseits nationaler Grenzen in charakteristischer globaler Vernetzung aus?