P. TillichM. WeberR. Niebuhr | ||||
Das Heilige [1/2]
Nur die wirkliche Religion ist also der Gegenstand, - aber diese nun auch in ihrer ganzen, allumfassenden Wirklichkeit, mit der sie allen Sphären des Lebens angehört und sich doch zugleich als ein Eigenes und Neues darüber zu erheben scheint. Wenn sie sich zunächst als Innenleben, als seelischer Vorgang im Menschen darstellt, so umspannt sie die Gesamtheit der psychischen Funktionen: sie ist nicht nur ein Vorstellen, ein Erkennen und Wissen oder, kritischer gesagt, ein Meinen und Fürwahrhalten, sondern auch ein Wertbewußtsein, ein Fühlen, ein Ergriffen- und Hingegebensein und demgemäß auch ein Wollen und Vollbringen. Daraus aber folgt, daß sie zugleich ein Außenleben ist, nicht nur ein Handeln nach den einzelnen Werten des Fühlens und Wollens, sondern als äußere Gesamterscheinung jenes Innenlebens, als Kulthandlung und Gottesdienst. Und damit überschreitet sie auch den Lebenskreis des Individuums; sie erweist sich als Handlung der Gemeinde, als soziale Erscheinung, die sich, in jedem besonderen Fall historisch bedingt, auch als äußere Organisation in realen Institutionen darstellt. Immer aber will die Religion noch mehr sein als all das empirisch Gegebene: sie greift stets über die irdische Erfahrung hinaus, sie ist ein Verhältnis zu höheren Mächten, zum innersten Wesen und Grund aller Wirklichkeit, ein Leben mit Gott und in Gott - ein metaphysisches Leben. Alle diese Momente gehören zum begrifflichen Wesen der wirklichen Religion: aber in deren historisch mannigfachen Erscheinungsformen sind sie sehr verschieden betont und in ihrer Bedeutsamkeit gegen einander abgestuft: ja, es kann kommen, daß bei der einzelnen positiven Religion das eine oder das andere dieser Merkmale bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt oder zurückgedrängt ist, um vielleicht in einer anderen historischen Gestalt der Religion das hervorstechende und beherrschene zu sein. So verschwindet z. B. in den mystischen Formen der Religion fast vollständig das Moment der äußeren Organisation, das dafür in den "statuarischen" Kirchenbildungen eine Hauptrolle zu spielen geneigt ist. Die wissenschaftliche Untersuchung der Religion hat allen diesen Momenten gleichmäßig gerecht zu werden und die philosophische Betrachtung hat sie von ihrem einheitlichen Prinzip aus zu verstehen und zu würdigen. Daraus aber folgt, daß die Religionsphilosophie bei keiner von den drei philosophischen Grunddisziplinen allein untergebracht werden, daß sie nicht als Teil oder Anhang der Logik oder der Ethik oder der Ästhetik behandelt werden kann. Jene drei Grundwissenschaften entsprechen den Idealzwecken des Wahren, des Guten und des Schönen. Sie entspringen aus den Fundamentaltatsachen der Beurteilung, die mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit und normative Notwendigkeit wahr und falsch im Urteilen, gut und böse im Wollen und Handeln, schön und häßlich im künstlerischen Produzieren und Genießen unterscheidet. Sie enthalten die kritische Verständigung der Philosophie über die großen Kulturfunktionen der Menschheit: Wissenschaft, - Moral, Recht und Geschichte, - Kunst. Nun aber steht neben diesen noch eine andere Kulturmacht, vielleicht die größte, die Religion. Ihren Zweck, ihre Norm, ihr Ideal nennen wir das Heilige. Ist dieses, so müssen wir fragen, noch ein besonderes neben jenen drei anderen? Tatsächlich greift ja die Religion in alle drei hinein: sie selbst tritt uns als Wahrheit, als sittliche Organisation, als künstlerisches Gebilde entgegen; sie ist ein Erkennen, ein Leben, ein Gestalten. Aber sie ist daneben doch ein Mehr, das sich darin nicht erschöpft; es steckt in ihr ein Moment des Übergreifens, des Hinausragens über jene "weltlichen" Kulturfunktionen, die im geschichtlichen Verlauf ursprünglich von ihr umschlossen sind, aus ihr sich zu selbständigen Gebilden ablösen und dann doch wieder in sie zurückkehren. Zu deren Ergänzung verlangt die Religion einen übermenschlichen, überweltlichen Inhalt: das ist es, was sie das Heilige nennt und dieses muß aus dem inneren Wesen der Vernunft selbst, es kann nicht aus einer ihrer besonderen Funktionen allein begriffen werden. Die Geschichte der Religionsphilosophie bestätigt das. Sie ist lange vom Standpunkt der theoretischen Vernunft aus behandelt worden. Die anfänglich feindlich Berührung zwischen Religion und Philosophie, der Umstand, daß diese berufen schien, jene zu ersetzen und der geschichtliche Verlauf, welcher der Philosophie die wissenschaftliche Formung und Begründung des religiösen Bewußtseins auferlegte, - all das führte dazu, daß die Frage nach der "Wahrheit" der Religion in den Vordergrund trat und daß ihre philosophisch Behandlung wesentlich auf die wissenschaftliche Richtigkeit der religiösen Vorstellungen gerichtet war. Dies blieb trotz einzelner Anregungen, die sich in der mittelalterlichen Philosophie, namentlich bei den Arabern und Juden einstellten, doch der leitende Gesichtspunkt für die Religionsphilosophie, bis von SPINOZA an die Aufklärung mehr und mehr den ethischen Wert der Religion als das Wesentliche an ihr hervorhob und zuletzt KANT vollständig und mit begrifflicher Klarheit die "Umlegung des Standpunktes aus der theoretischen in die praktische Vernunft" vollzog. Unter KANTs Nachfolgern aber war es SCHLEIERMACHER, der die Religion nicht als Wissen noch als Wollen und Handeln, sondern ihrer eigensten Bedeutung nach als das "fromme Gefühl" betrachtete und sich damit auf den Standpunkt der ästhetischen Vernunft stellte, welcher seinem persönlichen Wesen ebenso entsprach wie der romantischen Zeitströmung, in die er mit seinen "Reden über die Religion" so mächtig eingriff. Allein keine dieser Behandlungsweisen der Religionsphilosohie, weder die theoretische nocht die ethische noch die ästhetische, hat sich dem Gegenstand völlig gewachsen gezeigt; es ist immer eine mehr oder minder einseitige Auffassung der Religion herausgekommen, indem, wie bei den historische Formen der positiven Religion, bald diese bald jene Seite ihres Gesamtwesens zu Ungunsten der anderen beleuchtet wurde. Danach bleibt nur übrig, die Religionsphilosophie ihrem Prinzip nach von der Bestimmung durch eine einzelne jener drei Grundwissenschaften unabhängig zu machen. Allerdings wird sie immer alle drei voraussetzen müssen, eben weil die besonderen Funktionen der Religion notwendig und der Natur der Sache nach in die Sphären des logischen, des ethischen und des ästhetischen Lebens gehören und in dieser Hinsicht wird eine ausgeführte Religionsphilosophie mannigfache Lehnsätze der Logik, der Ethik und der Ästhetik zu entnehmen haben: aber ihr sachliches Gesamtprinzip hat sie über oder hinter jenen Wissenschaften zu suchen und nur so wird sie bestimmen können, worin das Wesen des Heiligen neben dem Wahren, dem Guten und dem Schönen besteht. Da nun aber mit jener Dreizahl des Logischen, Ethischen und Ästhetischen der Umfang der psychischen Funktionen im Vorstellen, Wollen und Fühlen erschöpft ist, so kann das "Heilige" nicht inhaltlich in einer besonderen, ihm eigens zugeordneten Sphäre des Seelenlebens gesucht werden: vielmehr muß die Religionsphilosophie ihren Ausgang von demjenigen Grundverhältnis nehmen, welches dem logischen, dem ethischen und dem ästhetischen Bewußtsein gemeinsam ist und sie setzt also jene drei philosophischen Grunddisziplinen auch im allgemein un prinzipiellen Sinn voraus, daß sie dasjenige zum Problem macht, was jene in verschiedenen inhaltlich bestimmten Formen als Tatsache zu Grunde legen. Dies kann aber nichts anderes sein, als jene Antinomie des Bewußtseins, welche im Verhältnis zwischen Sollen und Müssen, zwischen Normen und den Naturgesetzen zutage tritt. Die drei philosophischen Grundwissenschaften zeigen auf den drei Gebieten des Seelenlebens überall den Gegensatz zwischen dem psychologisch Wirklichen und dem Normalen, zwischen dem Realen und dem Idealen, zwischen dem zeitlich Geschehenden und dem zeitlos Geltenden. Wir sehen unser Bewußtsein den beiden Gesetzgebungen unterstellt, die weder übereinstimmen noch vollständig differieren können und zwischen denen doch ein notwendiger, im Wesen der Sache begründeter und unvermeidlicher Antagonismus besteht. Er kommt uns zunächst als Schuldgefühl, als Gewissen - im weiteren Sinne des Wortes - zu Bewußtsein. Dieses Gewissen ist seiner Natur nach das "zwiespältige Bewußtsein". Denn es gehört wesentlich dazu, daß es dasselbe ist, dieselbe Person, dieselbe Vernunft, welche die Norm in sich träg und ihr zuwiderhandelt und zwar notwendig zuwiderhandelt. Und gerade darin besteht das Quälende des Gewissens, daß das Verfehlen nicht zufällig, sondern notwendig ist. Das gilt, wie es besonders KANT hervorgehoben hat, für die sittliche Selbsterkenntnis des Individuums, dessen Reue mit der Einsicht anhebt: "du hast so gehandelt, weil du so bist." Nur ein leichtfertiges Gewissen betäubt sich mit dem Gedanken: "der Fehler ist mir nur so passiert, er geht mein Wesen nichts an, ich werde es nicht wieder tun." Der Ernst des Gewissens zeigt der Norm gegenüber die naturgesetzmäßige Notwendigkeit ihrer Verletzung. Wir müssen uns klar machen, daß das Normwidrige ebenso notwendig unserem Wesen entspring wie das Normgerechte: wir dürfen weder sagen wie die Leichtferigen und die Optimisten, das Gute sei wesensnotwendig und das Schlechte nicht, noch wie die Verzweifelten und die Pessimisten, das Schlechte sei notwendig und das Gute nur ein Glücksfall. Sollen wir uns des Normgerechten als des unseren freuen und rühmen, so müssen wir uns auch des Normwidrigen als des unsrigen schämen: keines von beiden ist uns nur so "passiert". Aber diese Notwendigkeit der Antinomie von Sollen und Müssen reicht nun weit über das individuelle Schuldbewußtsein hinaus: Logik, Ethik und Ästhetik decken es im ganzen Umfang unserer Vernunftbetätigung auf. Unsere Sinnesempfindungen und ihre Apperzeptionen, den ganzen Assoziationsmechanismus finden wir in ihrer natürlich naiven Entfaltung weit eher auf Täuschung und Irrtum, als auf Wahrheit angelegt und die Erkenntnistheorie überzeugt uns, daß zwischen den Voraussetzungen, welche als "Kategorien" in der normativen Gesetzmäßigkeit des Intellekts angelegt sind und dem Tatsachenmaterial der Erfahrung, zu dessen Deutung und Bearbeitung sie berufen sind, eine niemals ganz auszufüllende Kluft besteht. (1) Ähnlich erweist sich, daß der natürliche Motivationsprozeß als solcher ethisch indifferent ist, daß er Gutes und Böses gleich notwendig hervortreibt und daß die Natur des Menschen in diesem Sinne "jenseits von gut und böse" ist. Drittens aber ermöglicht der naturnotwendige Entwicklungsgang der Gefühle mit der Verschlingung der Interessen nur selten den freien Zustand des ästhetischen Gestaltens und Genießens und gefährdet ihn stets wieder durch den Ernst des Lebens in seinem dauernden Bestand. Diese Naturnotwendigkeit des Normwidrigen in den empirischen Funktionen der Vernunft ist die allgemeine Fundamentaltatsache, von der die kritische Philosophie in allen ihren Disziplinen ausgeht; sie ist, in dieser Allgemeinheit gefaßt, das Problem aller Probleme und zugleich der Springpunkt der Religionsphilosophie. Diese antinomistische Koexistenz der Norm und des Normwidrigen in demselben Bewußtsein ist die Urtatsache, welche nur aufgewiesen, aber nie begriffen werden kann: aus ihr entwickeln sich vielmehr alle Probleme der kritischen Philosophie. Denn es ist nicht möglich, diesen Antinomismus durch eine psychologische Erklärung zu umgehen, welche das Gewissen auf ein Verhältnis zwischen dem individuellen Tun und dem sozialen Gesamtbewußtsein zu reduzieren versucht, das mit zugleich tatsächlicher und normativer Geltung in jedem einzelnen Bewußtsein als entwicklungsgeschichtliche Grundlage vorhanden ist. Dieses Verhältnis reicht für die psychogenetische Erklärung einer großen Anzahl von Tatsachen des Gewissens aus: durch die Gewöhnung des Hineinwachsens in eine bestehende Wertungsweise gewinnen wir zunächst die Maßstäbe für unsere Beurteilungen und hätte es dabei sein Bewenden, so müßte die gesamte Lehre von den Normen und den allgemeingültigen Werten im Rahmen der Sozialpsychologie und der Kulturgeschichte bleiben und die Probleme der kritischen Philosophie wären gegenstandslos. Aber gerade die historische Bewegung und Wandlung des Normbewußtseins macht die Unzulänglichkeit dieser sozialpsychologischen Erklärung des Gewissens deutlich: denn auch da, wo sich eine fortschreitende Veränderung der Wertprinzipien nicht ruckweise, sondern mit allmählichen Austausch vollzieht, setzt sich dieser Vorgang aus der Anhäufung individueller Abweichungen zusammen, von denen jede eine mehr oder minder bedeutsame Emanzipation der einzelnen Persönlichkeit von der vorher bestehenen allgemeinen Wertungsweise bedeutet. Den Mut aber zu einer solchen Abweichung findet das Individuum nicht in seinen persönlichen Neigungen oder Interessen, sondern vielmehr darin, daß es von den tatsächlich geltenden Maximen an ein höheres Prinzip, vom "menschlichen Recht" an das "göttliche", vom Zeitlichen an das Ewige, von der "Satzung" an die "Natur" appelliert, - oder wie die Wendungen dafür sonst lauten mögen. So unberechtigt unter Umständen im einzelnen geschichtlichen Fall dieser Appell sein mag, so sicher bleiben wir doch davon überzeugt, daß es ein solches Recht der absoluten Geltung gegenüber der historischen und relativen gibt. Nur unter dieser Voraussetzung reden wir von einem Kulturfortschritt in der Geschichte: jeder Schritt dabei, den der einzelne tut, ist dem zeitlich bestehenden Normbewußtsein gegenüber ein Sündenfall, ist eine Emanzipation des Individuums von einem unzulänglichen, beschränkten oder irrigen Gesamtbewußtsein seiner Umgebung. Solch ein "Sündenfall" ist jede neue Erkenntnis, die das Gefüge der geltenden Weltvorstellung sprengt, - jede sittlich soziale Reform, welche Werte umwertet und neue Ideale des Wollens schafft, - jede künstlerische Großtat des Genies, welche die Welt neu zu genießen und zu gestalten lehrt. Daraus versteht sich die Verwerfung und die Verfolgung des "Sünders" durch das von ihm durchbrochene Gesamtbewußtsein, - das Märtyrertum der ANTIGONE. Aber jeder diesen führenden Dulder macht sich seine Willkür und Laune gegen das Bestehende geltend, sondern ein Höheres und Ewiges: in ihnen greift das "Gewissen" über seine soziale Erscheinungsform hinaus zu seinem transzendenten, metaphysischen Wesen. Denn wie das Gewisen als soziale Erscheinung, als Kritik des individuellen Tuns durch das Gesamtbewußtsein, nur möglich ist durch die Realität des sozialen Zusammenlebens, so besteht das Gewissen als übergreifendes Normbewußtsein, wie es urch den Kulturfortschritt als Tatsache bewiesen wird, nur vermöge eines noch tieferen Lebenszusammenhanges: es enthüllt sich in ihm ein geistiger Lebensgrund, ein übererfahrungsmäßiger Zusammenhang der Persönlichkeiten, der sich zum sozialen Gesamtbewußtsein so verhält, wie das, was gelten soll, zu dem, was tatsächlich gilt. In diesem Sinne setzt das Gewissen die metaphysische Realität des Normalbewußtseins' voraus: sie ist, sobald wir uns auf die Geltung der absoluten Werte besinnen, das gewisseste unserer Erlebnisse und gerade in diesem Sinne ist das Normalbewußtsein das Heilige. Das war der Gedanke, aus dem AUGUSTIN von der menschlichen Unterscheidung des Wahren und des Falschen auf die Realität einer höchsten "Wahrheit" oder DESCARTES von den Graden der Vollkommenheit und Unvollkommenheit, mit denen wir uns selbst und andere beurteilen, auf die Wirklichkeit des ens perfectissimum [Gott, das perfekte Sein - wp] schloß. Das liegt im Grunde genommen schon in PLATONs Lehre von der anamnesis [Erinnerung - wp], daß alle Erkenntnis "Erinnerung sei, - der Glaube an die übermenschliche und überempirische Wirklichkeit der Norm und des Ideals, die Überzeugung daß die Norm der Vernunft nicht unsere Erfindung oder unsere Jllusion ist, sondern ein Wert, der in den letzten Tiefen der Weltwirklichkeit selbst begründet ist. So ist das Heilige inhaltlich nicht anders zu bestimmen, als durch den Inbegriff der Normen, die das logische, ethische und ästhetische Leben beherrschen. Diese Normen sind ja das Höchste und Letzte, was wir im gesamten Inhalt unseres Bewußtseins besitzen: über sie hinaus wissen wir nichts. Heilig aber sind sie uns deshalb, weil sie nicht Produkte des einzelnen Seelenlebens auch nicht Erzeugnisse des empirischen Gesellschaftsbewußtseins sind, sondern Wertinhalte einer höheren Vernunftwirklichkeit, an der uns teilzuhaben, die zu erleben uns vergönnt ist. Das Heilige ist also das Normalbewußtsein des Wahren, Guten und Schönen, erlebt als transzendente Wirklichkeit. Insofern sich der Mensch in seinem Gewissen so durch ein Übergreifendes, Transzendentes bestimmt weiß, ist er religiös. Er lebt in der Vernunft und sie in ihm. Religion ist transzendentes Leben; das Wesentliche an ihr ist das Hinausleben über die Erfahrung, das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer Welt geistiger Werte, das Sichnichtgenügenlassen am empirisch Wirklichen. In diesem Sinne ist als das Gegenteil zur Religiösität der Positivismus zu betrachten. Sein eigentlicher Nerv ist, daß er das Überempirische nicht gelten lassen will. Daher beschränkt er sich theoretisch auf die Vorstellung rein empirischer Zusammenhänge, auf die räumliche und zeitliche Anordnung von Sinnesdaten: daher erscheint er praktisch als Utilitarismus, als Beschränkung des sittlichen Wollens auf sinnlich bestimmbare Werte. Es spricht darin eine scheinbare Bescheidung, die in Wahrheit Übermut ist, - ein selbstgefälliges Einspinnen in den empirischen Lebensinhalt, das alle Abhängigkeit von einem Höheren, Übergreifenden leugnen und aufheben möchte. Demgegenüber beruth das transzendente Leben der Religion überall auf dem sehnsuchtsvollen Überschreiten jener vorgefundenen Grenze, auf dem Hinausstreben und das Hinausleben ins Überempirische. Möglich wird das durch eine Umformung und inhaltliche Umgestaltung der empirischen Funktionen und es ist die Aufgabe der Religionsphilosophie, systematisch darzulegen, welche Steigerungen die immanenten Funktionen des Seelenlebens dadurch erfahren, daß sie im transzendenten Leben der Religion auf das Überempirische bezogen werden. Wenn es dabei methodisch erforderlich ist, anhand des psychologischen Zusammenhangs vom Unbestimmten zum Bestimmteren fortzuschreiten, so wird mit dem transzendenten Fühlen begonnen werden müssen. Hier hat nun zweifellos SCHLEIERMACHER das Wesentliche getroffen, indem er als das religiöse Grundgefühl das der "schlechthinnigen Abhängigkeit" bezeichnete. Es ist zunächst eine Abhängigkeit von der unaussagbaren, unbestimmten Gesamtwirklichkeit der Dinge, vom Universum, von seiner unfaßbaren Totalität. Es ist ein ahnungsvolles Ergriffensein, das sich aus mannigfachen empirschen Anlässen ergibt. Wir erleben es der Natur gegenüber in der Einsamkeit, in der Mittagsstille bei brütender Sonnenglut, mit dem "panischen" Schrecken, im Anblick des Meeres, - stets als ein dunkles Gefühl unserer Kleinheit und Ohnmacht, als ein unaussagbares Gebundensein und Beschlossensein in einem geheimnisvollen Gesamtleben. Es packt uns beim Anblick des bestirnten Himmels und wenn diesen KANT mit dem Eindruck des Sittengesetzes vergleichen durfte, so lag das tertium comparationis im Abhängigsein von einem gewaltigen, alle unsere Erfahrung übersteigenden, unsausdenkbaren Lebenszusammenhang. So bringt denn auch das individuelle Leben in bewegten, feierlichen Momenten, "wo man dem Weltgeist näher ist als sonst", die Gefühle von unbegreiflichen Fügungen, ein Bewußtsein, willenlos bestimmt und an das Unfaßbare gebunden zu sein, eine Ahnung der höheren Mächte, die über allem Leben walten, alle Berechnungen kreuzen und bald im neckischen Spiel, bald im tragischen Ernst alle Absichten vereiteln. Hier wie der Natur gegenüber ist das Abhängigkeitsgefühl teils optimistisch, teils pessimistisch gefärbt; es erscheint als dankbares Vertrauen oder als zagende Furcht. Deutlicher gestalten sich diese persönlichen Gefühle der Abhängigkeit vom Transzendenten da, wo das Verhältnis zwischen dem Normbewußtsein und dem individuellen Leben in Betracht kommt. Die Erkenntnis unserer Unzulänglichkeit der Norm gegenüber erscheint als das Gefühl hilfloser Ohnmach, tiefster Erlösungsbedürftigkeit, als Zerknirschung, Reue und Buße: aber zugleich erleben wir in dieser Sinnesänderung, in diesem Brechen des selbstgenügsamen Stolzes das erste Wirken des Normalbewußtseins in uns. Es kommt wie eine Offenbarung, nicht als unsere Tat, als ein Lebendigwerden des Höheren in uns, wir fühlen es als Wunder und Gnade. Das Teilhaben am Transzendenten ist unbegreiflich als etwas, das wir erleben, ohne es aus eigener Kraft zu tun, - ein Geschenk, das höchste von allen. So ist die Kraft, welche als Gewissen richtet, auch die, welche hilft und erlöst. Jeder Genuß des Anschauens und Wissens, des Fühlens und des Arbeitens an hohen Zielen ist deshalb, da es wie eine Offenbarung über den Menschen kommt, mit dem erhebenden Dankgefühl für das Höhere verbunden, das uns darin zuteil wird. Die Normen werden in uns Motive, sie werden unser Besitz, unser besseres Selbst: das ist die Wiedergeburt und die Heiligung des empirischen Menschen, seine Erhebung in das Reich des Ewigen. Endlich verdanken wir jenes Gefühl der Abhängigkeit nicht weniger dem erschütternden Eindruck der großen Geschicke des Menschengeschlechts, - sei es, daß man sie handelnd und leidend unmittelbar miterlebt oder daß man sie nacherlebt in der Gesamterinnerung der Menschheit. Auch hier fühlen wir das Unberechenbare, das allen Menschenwitz gebunden zeigt durch unfaßbare Ereignisse und Offenbarungen: unter dem verworrenen Getriebe empirischer Leidenschaften leuchten höhere Lebensordnungen hindurch. So erwachsen aus dem dunklen Eindruch des "Dämonischen" in Natur und Menschenleben jene Gefühle der Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen, vor den unergründlich übergewaltigen Mächten der Wirklichkeit, - jener "Ehrfurcht", die GOETHE in den Wanderjahren als den Kern aller Kulturerziehung dargestellt hat. Wer sie nicht hat, wer es nicht kennt, dieses Sichbeugen und doch zugleich Sicherheben, der ist der wahrhaft Irreligiöse. Allein dieses "fromme Gefühl" ist nun seinem objektiven Inhalt nach, d. h. in Bezug auf seinen Gegenstand, für Vorstellung völlig unbestimmt: wir wissen dabei nicht, wovon wir abhängig sind. Es gehört, psychologisch betrachtet, zur großen Klasse der unbestimmten Gefühle, der Stimmungen und Allgemeingefühle und es läßt sich doch nicht, wie sonst die meisten davon, als eine ausgeglichene Summation einzelner Gefühle erklären. Es ist vielmehr geradezu das Bewußtsein der Abhängigkeit von einem unfaßbaren, unaussagbaren Etwas und es gehört zum Wesen des frommen Gefühls, daß dieses Geheimnisvolle, Unerforschliche immer darin bestehen bleibt. Indessen kann es uns dabei doch nicht sein Bewenden haben und gerade das Geheimnisvolle selbst enthält den Stachel zu seiner Aufhellung. Da jenes Gefühl den realen Lebenszusammenhang des Bewußtsein mit dem Unaussagbaren bedeutet, so muß notwendig das Bewußtsein versuchen, diesen an sich völlig unbestimmten Gegenstand des transzendenten Gefühls zu einem bestimmten Vorstellungsinhalt zu machen. D. h. aus dem transzendenten Fühlen entwickelt sich notwendig ein transzendentes Vorstellen. Das ist nun die entscheidende Antinomie des religiösen Lebens: denn damit stellt das fromme Gefühl dem Vorstellen eine unlösbare Aufgabe. Das Unbestimmte soll im Bewußtsein bestimmt, das Unaussagbare soll ausgesagt, das Unfaßbare soll begriffen werden. Dieser Widerspruch entspringt dem endlichen Charakter der menschlichen Vernunft und ist ihm wesentlich: er gilt in dem Maße, daß, wenn jene Bestimmung durch das transzendente Vorstellen je gelingen könnte, eben damit das fromme Gefühl selbst, die Abhängigkeit vom Unerforschlichen, aufgehoben würde. Deshalb ist allem religiösen Leben dieser Widerstreit wesentlich zwischen dem ursprünglichen Gefühl und der Unfaßbarkeit seines Gegenstandes durch das bestimmende Bewußtsein. Das Mysterium gehört zum Wesen der Religion. Wo man daher meint, irgendwie durch Mythos oder Dogma das Heilige vollständig für die Vorstellung bestimmt, d. h. es in seiner Wirklichkeit erkannt zu haben, da hat man bereits die Sphäre des religiösen Lebens wieder verlassen. Es ist das Interesse der Religion, daß Gott nicht völlig erkennbar ist: "ein Gott", sagte JACOBI, "der gewußt werden kann, ist kein Gott mehr." Deshalb muß das Bewußtsein der intellektuellen Unnahbarkeit des Heiligen aufrechterhalten bleiben, auch wenn das fromme Gefühl zum unausbleiblichen Versuch treibt, seinen Gegenstand für das erkennende Bewußtsein zu bestimmen. In dieser Antinomie wurzelt die Verschiedenheit der positiven Religionen: da jene Aufgabe an sich unlösbar ist, so eröffnet sich, je nach den historischen Bedingungen, eine unabschließbare Mannigfaltigkeit von Versuchen dazu. Wäre der Gegenstand des frommen Gefühls bestimmbar und erkennbar wie der pythagoreische Lehrsatz, so gäbe es nur eine Religion, - und das wäre keine Religion mehr, sondern Wissenschaft. Eben deshalb gehört zu jeder positiven Religion ein transzendentes Vorstellen, in diesem Sinne ein Glaube (pistis), der Wissen (gnosis) sein und werden möchte. Dieses religiöse Vorstellen stellt sich die doppelte Aufgabe, das Normalbewußtsein, das unserem Wissen nur zum Teil zugänglich ist, in seiner Totalität zu erfassen und außerdem über das Wesen seiner transzendenten "Geltung", d. h. über die Art seiner metaphyischen Realität, Auskunft zu geben. Und da dies als allgemeingültige wissenschaftliche Erkenntnis nicht zu leisten ist, so tritt in diese Lücke der Mythos und in den organisierten Formen des religiösen Lebens das Dogma. Gemeinsam ist beiden eine Steigerung der Erkenntnis vom Bestimmten zum Unbestimmten, vom Erfahrbaren zum Unerfahrbaren, vom Bedingten zu Unbedingten, vom Endlichen zum Unendlichen: Sie haben an sich den vollen Charakter der "Metaphysik" und das transzendente Vorstellen der Religionen fällt daher durchaus unter die Kritik, welche KANT am "transzendentalen Schein" geübt hat. Auch hier handelt es sich um Ideen, welche aufgegeben, aber nicht gegeben sind - um eine Aufgabe, welche für die Vernunft notwendig, aber unlösbar ist. Die Lehre vom transzendenten Vorstellen der Religion hat die Methode von KANTs transzendentaler Dialektik auf den Gegenstand von SCHLEIERMACHERs frommen Gefühl anzuwenden. Die metaphysische Steigerung der Erkenntnistätigkeit, um die es sich dabei handelt, ist nun der Natur der Sache nach in doppelter Richtung möglich, einerseits als Ausweitung des Endlichen zum Unendlichen, andererseits als Verengung des Unendlichen zum Endlichen, - beides so, daß eines immer das andere zugleich in gewisser Weise involviert, aber doch so, daß das eine der Momente überwiegt. Das erstere zeigt sich an den Formen der erkennenden Vorstellung, das zweit an deren Inhalt. Das erstere entwickelt sich hauptsächlich an den beiden konstitutiven Grundkategorien unserer Weltvorstellung: Substanz und Kausalität. In beiden Fällen nehmen die theoretischen Probleme, von denen die Logik zu handeln hat, eine metaphysische Tendenz, deren sich das transzendente Vorstellen der Religion bemächtigt.
1) Als Beispiel sei hier nur auf die Kategorie der Dinghaftigkeit hingewiesen: sie tritt als unwillkürlich wirksame Apperzeptionsform in allem Wahrnehmen, besonders beim optischen auf, indem sie die Mannigfaltigkeit der Eindrücke nach ihrer Zusammengehörigkeit zu Dingen gliedert; aber jedes Nachdenken findet schnell, daß diese sinnlichen "Dinge" alle nur vorläufige sind und der Voraussetzung einer begrifflich in sich bestimmten Identität nicht Genüge tun. So begründet sich das Suchen nach den "wahren" Dingen, den eigentlichen "Substanzen". Und mag nun die Metaphysik diese als Elemente, als Atome, als Ideen, als Entelechien, als Monaden, als Reale oder als Dinge-ansich bestimmen, - immer kommt die Unzulänglichkeit der Erfahrung gegenüber der Kategorie darin zutage, daß die metaphysischen "Dinge" nicht Gegenstände der Erfahrung, sondern begriffliche Konstruktionen sind, die aus der "Bearbeitung" der empirischen Dingvorstellung entstehen, ohne ihren Zweck je völlig zu erreichen. |