Vom Nachleben Napoleons in Europa

Thomas Schuler erkundet „Auf Napoleons Spuren“ Orte der Triumphe und Niederlagen

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 250. Wiederkehr von Napoleon Bonapartes Geburtstag lässt sich auf verschiedene Weise begehen: man kann aufwendige Veranstaltungen inszenieren oder diesen beiwohnen, man kann seiner still gedenken und sich in positiven oder negativen Emotionen verlieren, man kann Biographien schreiben oder solche lesen, man kann aber auch das tun, was der Historiker Thomas Schuler getan hat, nämlich auf Reisen gehen, quer durch Europa signifikante Plätze aufsuchen, napoleonische Erinnerungsorte gewissermaßen, in denen der General, Konsul und Imperator seinen Fußabdruck hinterlassen, Eroberungen gefeiert und Niederlagen erlitten hat. Vom Autor an die Hand genommen, brechen wir Leser auf, um „Napoleons Spuren“ in Augenschein zu nehmen, dabei geleitet von einer Prosa, die leichtfüßig Kontexte herstellt und immer wieder Bögen schlägt von der Vergangenheit in die Gegenwart. Nicht alles ist neu, manches Detail und manch überraschende Episode aber sind es schon. Schuler hat Archive und Bibliotheken, darüber hinaus orts- und geschichtskundige Führerinnen und Führer konsultiert, hat mit Nachfahren damaliger Akteure gesprochen, hat Museen besucht, Schlachtfelder bewandert und anschaulich beschrieben. Die Bilder, die auf diese Weise evoziert werden, sind farbig und wohlproportioniert, die Erläuterungen und Kommentare, die dazu gegeben werden, regen zu weiterem Nachdenken an, nicht zuletzt über die verschlungenen Wege der Rezeption einschneidender Ereignisse und historisch bedeutsamer Gestalten.

Neun Schauplätze sind es, die Schuler ausgewählt hat. Auf den einen, London nämlich, hat Napoleon nie einen Fuß gesetzt, aber die Stadt steckt voller Memorabilien. Das Skelett von Napoleons Schimmel Marengo zum Beispiel, erbeutet nach der verlorenen Schlacht von Waterloo, steht im National Army Museum; Plätze, Brücken und Straßen zieren die Namen der Kriegsheroen, allen voran der des Feldmarschalls Arthur Wellesley, des ersten Herzogs von Wellington, dem Befreier von Spanien und Sieger von Waterloo, und der des Admirals Horatio Nelson, dem Sieger in der Seeschlacht von Trafalgar, die den maritimen Ambitionen der Franzosen ein vorläufiges Ende bereitete. All dies zeigt, wie stark Napoleon als eine Art Antiheld, dem man erfolgreich Paroli geboten hat, in das historische Selbstbild der Briten eingegangen ist. Der Vorschlag, die Napoleonischen Kriege in „Englische Kriege“ umzutaufen und damit stillschweigend den auf kontinentale Hegemonie versessenen imperialen Aggressor in ein Opfer britischer Machinationen zu verwandeln, dürfte indes, wie der Autor immerhin einräumt, kaum Begeisterung wecken.

Neben London der zweite Ort, an dem Napoleon nicht zugegen war, ist Kaub, ein Städtchen am Mittelrhein, gelegen zwischen Koblenz und Mainz. Hier setzte nach der Völkerschlacht von Leipzig der preußische Feldmarschall Gerhard Leberecht von Blücher mit seinen Truppen am Jahreswechsel 1813/14 über den vielfach so besungenen deutschen „Schicksalsstrom“, um gemeinsam mit den übrigen Mitgliedern der antinapoleonischen Allianz die endgültige Entscheidung zu suchen. Ein Bild des Malers Wilhelm Camphausen und eine vier Meter hohe Blücher-Statue des Bildhauers Fritz Schaper erinnern an die Ereignisse von damals. 1913 wurde die Pontonbrücke nachgebaut, auf der bei der Einweihung als erster Kaiser Wilhelm II. hinüberschritt: eine Geste, die sich demonstrativ gegen den zum „Erbfeind“ erklärten Nachbarn im Westen des Reichs richtete.

Einhundert Jahre zuvor markierte die Rheinüberquerung den Beginn vom Ende der napoleonischen Herrschaft. Der finale Akt, die „Götterdämmerung“, fand dann im Sommer 1815 bei Waterloo, oder – wie die Preußen bevorzugten: bei Belle Alliance ungefähr 15 Kilometer südlich von Brüssel statt. Blücher erbeutete hier eine der Kutschen Napoleons. Bis 1973 im Privatbesitz der Familie, gehört sie heute zu den Ausstellungsstücken im Marstall des Museums von Malmaison, dem Schloss an der Seine, das Napoleons Geliebte und spätere Frau Joséphine 1799 als privaten Wohnsitz und Rückzugsort erworben hatte. Obwohl die Schlacht dort nicht entschieden worden ist, wurde Waterloo im 19. Jahrhundert ein beliebtes Reiseziel, das der britische Unternehmer Thomas Cook schon in den 1850er-Jahren in sein Programm aufnahm: eine frühe Erscheinungsform des „organisierten Tourismus“.

Mitte Dezember 1840 versammelte sich in Paris eine riesige Menschenmenge, um Zeuge der feierlichen, als Großereignis inszenierten Heimholung des 1821 in der Verbannung auf der fernen Atlantikinsel St. Helena gestorbenen Exkaisers zu sein. Der „Bürgerkönig“ Louis Philipp, der 1830 infolge der Julirevolution auf den Thron gelangt war, versuchte das Spektakel auf seine Mühlen zu lenken, nicht zuletzt um die Herrschaftsansprüche des Napoleonenkels und späteren Kaisers Napoleon III. abzuwehren. Der Wagen mit dem Sarkophag, der die Überreste des Imperators barg, wurde von sechszehn Pferden die Champs-Élysées in Richtung Invalidendom, der endgültigen Ruhestätte, gezogen. Die Menge intonierte „Vive l’Empereur“ und die Marseillaise, Veteranen und die Nationalgarde säumten den Boulevard. Heinrich Heine, der dem späten Triumphzug des Toten beiwohnte, berichtete nicht ohne Ergriffenheit an die Augsburger Allgemeine Zeitung, die „Erscheinung“ sei „so fabelhaft, so märchenartig, dass man kaum seinen Augen“ habe trauen wollen. „Denn dieser Napoleon Bonaparte, den man begraben sah, war für das heutige Geschlecht schon längst dahingeschwunden in das Reich der Sage, zu den Schatten Alexanders von Makedonien und Karls des Großen“. Nun aber sei er wieder da „auf einem goldenen Siegeswagen“ und rolle „geisterhaft“ dahin. Und doch: „Der Kaiser ist tot“, resümierte der Dichter: „Mit ihm starb der letzte Held nach altem Geschmack, und die neue Philisterwelt atmet auf, wie erlöst von einem glänzenden Alp.“

Titelbild

Thomas Schuler: Auf Napoleons Spuren. Eine Reise durch Europa.
Verlag C.H.Beck, München 2019.
408 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783406735295

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