Natur und Wissenschaft im Werk Georg Büchners

Von Walter Müller-SeidelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Müller-Seidel

Die Anerkennung des Eigenrechts der Literatur und ihrer Wissenschaft ist ein Fortschritt, der unter keinen Umständen preisgegeben werden darf. [1] Weder einer bestimmten Lehre noch einem bestimmten Glauben noch einer bestimmten Partei hat sie sich zu unterstellen. Aber das schließt nicht aus, daß sie mit anderen geistigen und gesellschaftlichen Bereichen in Wechselbeziehungen tritt – daß sich Literatur jederzeit mit noch anderem einläßt als nur mit Literatur. Es kommt auf bestimmte Umsetzungen an. Jeder Schriftsteller steht mit der Bewußtseinslage seiner Zeit im Kontakt, und im dichtenden Bewußtsein vollziehen sich die Umsetzungen vom Außerdichterischen zum Dichterischen hin. Auch im Verhältnis von Literatur und Naturwissenschaft haben wir es mit Umsetzungen solcher Art zu tun. Zwar scheinen beide weithin beziehungslos nebeneinander zu leben – in Form jener zwei Kulturen, über die in jüngster Zeit viel diskutiert worden ist.[2] In Wirklichkeit haben sie sehr viel mehr miteinander zu tun, als man gemeinhin glaubt. Die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft hat die neuere Literatur entscheidend mitbestimmt. Wir wollen keinen Einzelfall erläutern, wenn wir von Georg Büchner handeln. Es geht uns – wie es dem Literaturhistoriker zukommt – um die Dichtung und deren Eigenrecht, wenn wir uns zu ihrem Verständnis auf die Naturwissenschaft richten.

Es gibt sie im Leben Büchners nicht als etwas, das neben dem literarischen Werk eine lediglich biographische Bedeutung hat. Sie ist eine der Bedingungen seines Schaffens wie seiner künstlerischen Leistung. In seinem schmalen Werk zeichnet sich ein neuer Stil – wenn man will: des Realismus – auf überzeugende Weise ab, der sich vom Stil der klassisch-romantischen Dichtung deutlich unterscheidet. Über sie ist hier nur insoweit zu sprechen, als sich Büchner vielfach kritisch auf sie bezieht; und schon für die Dichtung der deutschen Klassik und Romantik trifft zu, was für Büchner erst recht zutreffen wird: daß die Naturwissenschaft der Zeit, neben den politisch-gesellschaftlichen Erschütterungen seit 1789, an der Entstehung ihrer Formensprache Anteil hat. Wir sind hinsichtlich dieser Epoche vorzüglich informiert über das Verhältnis von „Griechentum und Goethezeit“;[3] nicht minder über das „philosophierende Zeitalter“, von dem Schiller mit vollem Recht gefordert hat, daß es die Poeten zur Kenntnis nehmen.[4] Über den Zusammenhang von Französischer Revolution und deutscher Klassik wissen sie nicht gleichermaßen Bescheid; so wenig wie über den naturwissenschaftlichen Anteil an dieser auf die Dichtung so eingeschworenen Epoche. Denn es geht, was diesen Anteil betrifft, um Goethe nicht nur. An der Erarbeitung der naturwissenschaftlichen Grundlagen ist Herder entscheidend beteiligt.[5] Auch ist die folgenreiche Begegnung des Jahres 1794, die zum Freundschaftsbündnis der deutschen Klassik führte, im Zeichen der Naturwissenschaft erfolgt, woran erinnert werden darf. Doch sind es sehr zeitbedingte Vorstellungen von Natur und Naturwissenschaft, die das Denken der Epoche bestimmten. Sie sind mit Deutlichkeit dem Brief an Körner aus dem Jahre 1797 zu entnehmen. In ihm ist von dem jungen Alexander von Humboldt die Rede, mit dem sich die exakte Naturwissenschaft in Deutschland ankündigt. Schiller schreibt: „Es ist der nackte, schneidende Verstand, der die Natur, die immer unfaßlich und in allen ihren Punkten ehrwürdig und unergründlich ist, schamlos ausgemessen haben will und, mit einer Frechheit die ich nicht begreife, seine Formeln, die oft nur leere Worte und immer nur enge Begriffe sind, zu ihrem Maaßstabe macht. Kurz mir scheint er für seinen Gegenstand ein viel zu grobes Organ und dabey ein viel zu beschränkter Verstandesmensch zu seyn. Er hat keine Einbildungskraft und so fehlt ihm nach meinem Urtheil das notwendigste Vermögen zu seiner Wissenschaft – denn die Natur muß angeschaut und empfunden werden, in ihren einzelnen Erscheinungen, wie in ihren höchsten Gesetzen.“[6]




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Der Beitrag gehört zu
Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland (2018)