Eine Familiengeschichte lehrt Europa verstehen
Über Josef Haslingers Roman „Jáchymov“
Von Helmut Sturm
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAm 21. Juli 1963 starb, keine siebenundvierzig Jahre alt, Bohumil Modrý, Eishockeytorwart jener tschechoslowakischen Nationalmannschaft, die 1947 und 1949 die Weltmeisterschaft und 1948 die Silbermedaille bei den Olympischen Spielen gewann. Seine Krankheit begann mit Schweißausbrüchen, Zittern und Zucken. Die Muskeln schrumpften. Die Hände wurden dünner. Er verfiel. „Am Ende war sein Körper ohne Muskeln, nur noch Haut und Sehnen.“
Grund für diesen Verfall ist ein Urteil vom 7. Oktober 1950, das es darauf anlegt, wie es in einem Bericht der tschechoslowakischen Staatspolizei heißt, „diesen eitrigen und schlammigen Kern von sogenannten Sportlern, die einige Jahre lang unsere demokratische Republik repräsentiert haben, zu vernichten“. Die ganze Nationalmannschaft war verhaftet worden. Man befürchtete, dass sich die Spieler nach dem Einsetzen der rücksichtslosen Stalinisierung in der CSSR ins Ausland absetzen würden und vielleicht auch, dass sie den großen Bruder UdSSR schlagen hätten können. Modrý hat die höchste Strafe bekommen, 15 Jahre. Den Großteil davon verbringt er im Lager Jáchymov. Nach fünf Jahren wird er amnestiert.
Jáchymov, die Stadt im Erzgebirge, die in der k. u. k. Monarchie Joachimsthal hieß, ist das älteste Radiumsol-Heilbad der Welt. Das von Marie Curie im Joachimsthaler Uranerz entdeckte Radium hat günstige Auswirkungen bei entzündlichen Erkrankungen des Bewegungsapparates und ist unentbehrlich für die Herstellung atomarer Technologie und Waffen. Das nationalsozialistische Deutschland trieb nach der Besetzung des Sudetenlandes Tschechen in die Stollen, die Tschechoslowakei zunächst Sudetendeutsche, dann die Opfer der Stalinisten. Ohne jeden Schutz waren die Häftlinge der letztlich tödlichen Strahlung ausgesetzt.
Der Roman Josef Haslingers erzählt von dem aus der DDR stammenden und in Wien lebenden Verleger Anselm Findeisen, der sich in Jáchymov Besserung seines Morbus Bechterew Syndroms erhofft. Dabei begegnet er der Tochter des Eishockey-Torwarts, einer Tänzerin. Während Findeisen den Kurort sucht, möchte Modrýs Tochter das Todeslager des Vaters besuchen. Sie laufen sich über den Weg und lernen sich kennen.
In einem Roman geht es ja meist um Liebe, so auch in diesem. Da ist die oberflächlich-episodische zwischen Findeisen und der Tänzerin und die tiefe, über den Tod hinausreichende Liebe der Tochter zum Vater. Wie Josef Haslinger diese beiden Erzählstränge kombiniert, ist großes Handwerk.
Anselm Findeisen möchte, dass die Tänzerin, was sie und ihre Familie erlebt haben, aufschreibt. Er meint, solche Geschichten müssten erzählt werden, damit „die Leute Europa verstehen lernen“. „Europa verstehen lernen? Haben Sie einen Bildungsverlag? Mir geht es nicht um Europa, mir geht es um meinen Vater.“ Tatsächlich gelingt es Josef Haslinger, Professor für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, zu zeigen, dass politische Geschichte immer auch die Geschichte von Einzelschicksalen ist. Was dabei Bohumil Modrý widerfährt, beruht auf Strukturen, die im vergangenen 20. Jahrhundert den ganzen Kontinent befallen haben und vor denen wir heute nur sicher sind, wenn es genügend Menschen gibt, die nicht vergessen, beziehungsweise an der Geschichte lernen. Bemerkenswert ist es bei Haslinger, wie deutlich wird, dass aus der Sicht des Einzelnen allein das Erzählen dem absurden Leid noch Bedeutung abringen kann. Die im Roman vorkommenden Alpträume und Geschichten der Tänzerin legen davon beredtes Zeugnis ab.
Josef Haslinger ist ein Autor, der genau recherchiert. Er hat von der Burgtheater-Schauspielerin Imra Modra, der Tochter Bohumil Modrýs, das biografische Material zur Verfügung gestellt bekommen und darüber hinaus ein genaues Quellenstudium betrieben. Dabei hat er sich auch intensiv mit der Geschichte des Eishockeys in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigt. So handelt es sich bei dem vorliegenden Buch ein wenig um einen Sportroman. Freilich wird selten so deutlich, wie sehr der Sport in Gefahr ist, politisch instrumentalisiert zu werden.
Spannend an diesem Buch ist zu sehen, wie nahe sich Fiktion und Realität kommen können. Sobald einer erzählt, verlässt er ja den Raum reiner Realität. Das bedeutet allerdings nicht, dass deshalb weniger Wahrheit erscheint. So hilft diese Geschichte tatsächlich, Europa besser zu verstehen.
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