Nach etwa drei Jahren intensiver Arbeit von OECD und einer Gemeinschaft aus mittlerweile 141 Staaten, dem sog. “OECD/G20 Inclusive Framework on BEPS” („Inclusive Framework“, kurz „IF“)Footnote 1, sind die Regeln zur effektiven MindestbesteuerungFootnote 2 großer multinationaler Konzerne, der sog. Säule 2 („Pillar 2“),Footnote 3 in ihrem grundlegenden Design erarbeitet und am 8. Oktober 2021 Teil einer politischen Einigung von 137 Staaten geworden, die trotz noch ausstehender Feinarbeiten bereits die Umsetzungsphase für die teilnehmenden Staaten eingeläutet hat.Footnote 4 Die Hauptregeln der Mindeststeuer (sog. GloBE-RegelnFootnote 5) sehen allgemein gesprochen vor, dass ein Staat einen großen multinationalen Konzern nachbesteuern darf, wenn dieser in einem anderen Land einen effektiven Steuersatz von weniger als 15 % ausweist. Am 20. Dezember 2021 sind durch die OECD sog. ModellregelnFootnote 6 veröffentlicht worden, die den teilnehmenden Staaten als Vorlage für die Umsetzung der GloBE-Regeln ins nationale Recht dienen sollen.

Dass diese Einigung von 137 Staaten trotz der COVID-19-Pandemie, einer zeitweiligen Blockadehaltung der ehemaligen US-Regierung gegenüber dem Parallelprojekt, der sog. Säule 1 („Pillar 1“), und akuter geopolitscher Spannungen in so schneller Zeit gelingen konnte, ist bemerkenswert. Die zur Schau gestellte internationale Einigungsbereitschaft zeigt auf, dass das Thema der „gerechten“ Besteuerung großer multinationaler Konzerne einen Nerv der Zeit trifft und der politische Handlungsdruck beträchtlich ist.Footnote 7 Ebenso beachtlich ist das von der OECD erwartete zusätzliche globale Steueraufkommen durch die Mindeststeuer von ca. 150 Mrd. USD pro Jahr.Footnote 8 Berechnungen des EU Tax Observatory zufolge könnte dies für die EU-Mitgliedstaaten unter Zugrundelegung der Daten aus dem Country-by-Country Reporting (CbCR-Daten) für die Jahre 2016 und 2017 Mehreinnahmen in Höhe von 64 bis 71 Mrd. Euro pro Jahr bedeuten.Footnote 9 Deutschland könnte bei Umsetzung der GloBE-Regeln beispielsweise 13 Mrd. Euro an Steuern zusätzlich einnehmen und damit einen Betrag erwirtschaften, welcher etwa 18 % der derzeit bei Körperschaften erhobenen Unternehmensteuern (inkl. Gewerbesteuer) entspricht.Footnote 10 Unter Einbezug möglicher Verhaltensanpassungen der betroffenen Unternehmen und Niedrigsteuerländer kommen Fuest et al. speziell für Deutschland auf demgegenüber geringere Aufkommenseffekte in Höhe von 1,7 bis 6,9 Mrd. Euro.Footnote 11

1.1 Untersuchungsgegenstand und Stand der Forschung

Dass OECD und IF in bemerkenswert hohem Tempo eine so breite Einigung erzielen konnten, ist auf die Kompromissbereitschaft der vielen teilnehmenden Staaten zurückzuführen. Die neuen Regeln sind das Produkt eines politischen Konsenses von vielen verschiedenen Staaten mit diversen Steuersystemen und der technischen, auf pragmatische Lösungen fokussierten Unterstützung durch die OECD-Organe. Ein Kompromiss wie der nun gefundene kann allerdings zur Folge haben, dass Einzelinteressen der teilnehmenden Staaten nicht hinreichend berücksichtigt wurden bzw. Konflikte mit den nationalen Rechtssystemen nicht ausbleiben. Dies wiederum kann das gemeinsame Vorgehen gefährden, da der Wert des von OECD und IF erarbeiteten Regelungskonstrukts wesentlich davon abhängt, ob dieses in den einzelnen Staaten auch rechtlich umgesetzt werden kann.Footnote 12 Hieran setzt die vorliegende Arbeit an: Es soll untersucht werden, ob Deutschland als an der Einigung beteiligtes Mitglied des IF die neuen GloBE-Regeln, wie sie aus der Einigung vom 8. Oktober 2021 und den Modellregeln vom 20. Dezember 2021 hervorgehen, überhaupt implementieren kann und darf. Dazu werden diese auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben des Grundgesetzes, des EU-Rechts und der nach völkerrechtlichen Rechtssätzen verbindlichen Doppelbesteuerungsabkommen überprüft. Unter Berücksichtigung der bislang zu diesen Fragen erschienen Literaturstimmen setzt sich der Autor erstmals mit den konkreten Empfehlungen der Modellregeln auseinander und bringt seine eigenen Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Perspektive ein. Denn eine solche Untersuchung der Möglichkeiten Deutschlands zur Umsetzung der aktuellen GloBE-Regeln ist bislang noch nicht vorgenommen worden. Nicht untersucht werden demgegenüber die Ergebnisse der parallel erarbeiteten Säule 1, die ebenfalls Gegenstand der Einigung vom 8. Oktober 2021 war. Außen vor gelassen wird zudem die derzeit von der EU angestrebte Umsetzung der Regeln unter Säule 2 via Richtlinie. Die EU-Kommission hat hierzu zwar am 22. Dezember 2021 einen Richtlinienentwurf vorgelegt.Footnote 13 Deren tatsächliches Inkrafttreten ist angesichts des Einstimmigkeitserfordernisses des Art. 115 AEUV hingegen ungewiss. Denn die Erklärung vom 8. Oktober 2021 sieht nicht vor, dass jeder Staat des IF, der sich der Erklärung angeschlossen hat, die Regeln selbst umsetzen muss („common approach“). Zudem ist Zypern kein Mitglied des IF und hat sich der Erklärung daher auch nicht angeschlossen.Footnote 14

Hinsichtlich des soeben aufgezeigten Untersuchungsgegenstandes sind verfassungsrechtliche Fragen von der Literatur bislang nur zu den frühen Entwürfen der GloBE-Regeln und in überschaubarem Ausmaß beleuchtet worden.Footnote 15 Um einiges umfangreicher sind demgegenüber die unionsrechtlichen Beurteilungen der GloBE-Regeln in ihren unterschiedlichen Entwicklungsstadien durch die vorwiegend internationale Literatur gesät.Footnote 16 Dort ist vor allem die Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten thematisiert worden. Eine aktuelle, auf die Modellregeln bezogene und für Deutschland spezifizierte Untersuchung ist dagegen bislang nicht vorgenommen worden. Zur Vereinbarkeit mit Doppelbesteuerungsabkommen hat sowohl der im Oktober 2020 von der OECD veröffentlichte „Report on Pillar Two Blueprint“Footnote 17 wie auch die LiteraturFootnote 18 Stellung genommen, jedoch auch hier nur unter allgemeiner Würdigung der dem OECD-Musterabkommen entsprechenden Klauseln. Hinzugezogen wird in der folgenden Bearbeitung zudem die Beurteilung bereits bestehender deutscher Vorschriften, die in ihrer Wirkung gewisse Parallelen zu den neuen Regelungen aufweisen, z. B. die Hinzurechnungsbesteuerung nach den §§ 7 ff. AStG sowie die Lizenzschranke in § 4j EStG.

1.2 Gang der Untersuchung

Nach einer Darstellung der historischen Hintergründe der Mindeststeuerinitiative ( Kap. 2.) stellt die Arbeit im darauffolgenden Kap. 3 die drei wesentlichen Ziele des Inclusive Framework vor ( Abschn. 3.1) und untersucht, ob diese Ziele – auch unter Heranziehung der ökonomischen Wissenschaftsliteratur – berechtigterweise zur Legitimierung der Mindeststeuer herangezogen werden können ( Abschn. 3.2). Anschließend werden die unterschiedlichen Regeln der Säule 2 und ihre Mechanismen in Kap. 4 so dargestellt, wie sie sich nach der Einigung der IF-Staaten vom 8. Oktober 2021 und Veröffentlichung der Modellregeln am 20. Dezember 2021 präsentieren. Im Vordergrund stehen dabei die sog. GloBE-Regeln ( Abschn. 4.2), da nur diese in Deutschland umzusetzen sein werden. Es folgt sodann mit den Kap. 5 bis Kap. 7 der Hauptteil dieser Arbeit. Dort wird der Reihe nach die Vereinbarkeit der GloBE-Regeln mit dem deutschen Grundgesetz ( Kap. 5), dem Unionsrecht ( Kap. 6) und den deutschen Doppelbesteuerungsabkommen ( Kap. 7) untersucht. In der verfassungsrechtlichen Prüfung wird nach einer kurzen Darstellung des Prüfungsumfangs ( Abschn. 5.1) zunächst eine Einordnung in das verfassungsrechtliche Kompetenzgefüge des Grundgesetzes vorgenommen ( Abschn. 5.2). Sodann folgt die für die Arbeit wesentliche Beurteilung der Vereinbarkeit der GloBE-Regeln mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und den beiden darin normierten Leitlinien steuerlicher Gerechtigkeit ( Abschn. 5.3). Die verfassungsrechtliche Einordnung endet mit einem kurzen Exkurs zur Verfassungsmäßigkeit sog. Treaty Overrides ( Abschn. 5.4). In der unionsrechtlichen Untersuchung widmet sich die Arbeit sodann zunächst ausführlich der Frage, ob die von Deutschland umzusetzenden GloBE-Regeln mit den Grundfreiheiten des AEUV in Einklang zu bringen sind ( Abschn. 6.1). Hieran anschließend wird in gebotener Kürze auf das allgemeine Diskriminierungsverbot wie auch das allgemeine Freizügigkeitsrecht ( Abschn. 6.2) und auf die Grundrechte der EU-Grundrechte-Charta ( Abschn. 6.3) eingegangen. Wieder in ausführlicherer Form folgt dann die Prüfung möglicher Verstöße gegen das Beihilfeverbot ( Abschn. 6.4) und ausgewählte Richtlinien ( Abschn. 6.5). Die DBA-rechtliche Untersuchung setzt sich schließlich aus einem kürzeren Grundlagenteil ( Abschn. 7.1) und einer eingehenden Untersuchung einzelner GloBE-Regeln anhand ausgewählter DBA-Klauseln ( Abschn. 7.2) zusammen. In Kap. 8 werden die Ergebnisse dieser Arbeit noch einmal zusammengefasst.