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1 Einleitung

In diesem Beitrag soll anhand der Untersuchung einer Virtual Reality Umgebung aus dem Themenbereich der Physik – KATRIN VR (vr.nawik.de) – beispielhaft gezeigt werden, wie eine spezifische Methode aus dem Repertoire der Verfahren zur physiologischen Messung bei der Evaluation von Angeboten der Wissenschaftskommunikation eingesetzt werden kann: Die Methode der Blickaufzeichnung.

Blickdaten werden im Folgenden primär als Aufmerksamkeitsindikatoren herangezogen (siehe auch Niemann und Scheuermann in diesem Band). Ziel des Beitrags ist es, am konkreten Untersuchungsgegenstand einer VR-Umgebung (Abschn. 2) zunächst evaluative Forschungsfragen aufzuzeigen und zu diskutieren, die mithilfe von Blickdaten beantwortet werden können (Abschn. 3). Daran anschließend fokussiert sich der Beitrag auf die Aspekte, die in einer Studie des Forschungsprojekts “Science In Presentations” tatsächlich untersucht wurden, zeigt das methodische Gesamtsetting dieser Untersuchung auf (Abschn. 4) und präsentiert schließlich ausgewählte Auswertungen der erhobenen Daten (Abschn. 5). Neben der Zusammenfassung der Ergebnisse werden in Abschn. 6 auch die Limitationen der Methode der Blickaufzeichnung im konkreten Anwendungsfall sowie die forschungspraktischen Herausforderungen beim Einsatz des Verfahrens noch einmal expliziert. Damit kann eine sinnvolle Entscheidungsgrundlage für den Einsatz von Blickaufzeichnungen in der evaluatorischen Praxis bereitgestellt werden.

2 Die VR-Umgebung zum KATRIN-Experiment

Das KATRIN-Experiment ist ein groß angelegtes physikalisches Experiment mit dem Ziel, die absolute Masse von Neutrinos zu bestimmen. Die gesamte Versuchsanlage ist 70 m lang und befindet sich am Campus Nord des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) in der Nähe von Karlsruhe.

Als Teil des Forschungsprojekts “Science In Presentations”Footnote 1 wurde eine 360°- und VR-Umgebung des Experiments erstellt. In dieser multimodalen Umgebung können die Nutzer:innen das KATRIN-Experiment und seine Gerätschaften auf zwei verschiedene Arten erkunden: Zum einen können sie die Umgebung frei und ohne Führung explorieren. Zum anderen können die Nutzer:innen an einer geführten Tour teilnehmen, die sie in die Kernkonzepte des Experiments einführt. Die Tour dauert etwa 15 min. Der Guide ist ein Physiker, der zum KATRIN-Experiment promoviert hat.

Bei mehreren Gelegenheiten während dieser Führung kann man eine sogenannte Röntgenansicht einschalten und mit Gerätschaften aus dem Experiment interagieren (vgl. Abb. 1). So ist es beispielsweise möglich, Spannungen zu manipulieren und in einer Animation zu sehen, wie dies die Elementarteilchen im Experiment beeinflusst. Während der Tour werden zudem zwei animierte Erklärfilme abgespielt.

Abb. 1
figure 1

(Quelle: KATRIN VR)

Standfoto der Tour mit aktiviertem Röntgenblick.

3 Relevante evaluationsbezogene Forschungsfragen

Die vorgestellte VR-Umgebung eignet sich aufgrund ihrer modalen Komplexität gut, um eine Vielzahl von evaluativen Fragestellungen zu untersuchen, bei denen die Methode der Blickaufzeichnung grundsätzlich hilfreich sein kann (siehe auch Niemann und Scheuermann in diesem Band). Auswertungen der Selektionsstrategien können hier sowohl hinsichtlich der Relevanz wissenschaftlichen Wissens als auch der Relevanz von spezifischen Personen Auskunft geben: Werden zum Beispiel die einzelnen Elementarteilchen, von denen die Rede ist, überhaupt angesehen, oder befassen sich Nutzer:innen eher mit der großen Forschungsanlage oder anderen Elementen im Raum? Wie oft und wann erhält der Physiker im Raum visuelle Aufmerksamkeit? Die Untersuchung des Grades von Aufmerksamkeit und Interesse bietet sich ebenfalls besonders mit Blick auf die fachwissenschaftlichen Elemente der VR-Umgebung an: Wie lange werden diese im Vergleich zu anderen Elementen betrachtet (vgl. Abb. 2)?

Abb. 2
figure 2

(Quelle: eigene Darstellung)

ScanpathFootnote

Scanpath bezeichnet die visuelle Darstellung der Blickabfolge während einer bestimmten Zeitdauer. Einen detaillierten Einblick in Analyse- und Auswerteverfahren von Blickaufzeichnungen im Medienkontext bietet Geise (2011).

eines Teilnehmers (hellblau, Dauer: 10 s). Je größer der Kreis, desto länger die Fixation der Augen. Die angegebenen Zahlen zeigen die Reihenfolge der Betrachtung.

Bei neuartigen medialen Artefakten wie einer VR-Umgebung spielt immer auch die Frage nach der generellen Nutzbarkeit und der spezifischen Usability eine Rolle. In diesem Zusammenhang können die mittels Blickaufzeichnungen sichtbar werdenden Rezeptionssequenzen von Nutzer:innen herangezogen werden, geben sie doch zugleich Auskunft über angewandte Erschließungsstrategien: In welcher Reihenfolge werden die verschiedenen Elemente der VR-Umgebung betrachtet? Werden etwa im Anschluss an die visuelle Erschließung von Tasten auf dem virtuellen Tablet diese Tasten auch entsprechend ihrer intendierten Funktion genutzt (vgl. ebenfalls Abb. 2)?

Auch die Qualität bzw. die Art der Rezeption spielt im vorgestellten Beispiel eine Rolle, etwa wenn es darum geht, ob der Text in den virtuellen Infokästen von Nutzer:innen tatsächlich gelesen wird. Hier können Blickdaten unmittelbar Auskunft geben, da sich das Blickmuster, das beim Lesen eines Textes entsteht, deutlich von dem unterscheidet, das man beim Überfliegen des Textes erhält.

In der nachfolgend im Detail vorgestellten Studie werden einige der hier skizzierten Fragestellung mit der Methode der Blickaufzeichnung adressiert.

4 Methodisches Vorgehen in der Studie

Virtual Reality und 360°-Anwendungen sind relative neue Werkzeuge für die (Hochschul-) Bildung. In einem Literaturreview kommt Blaser (2019, S. 11) zu dem Schluss, dass sie zwar „einige Potenziale für den Bildungsbereich bereithalten. Jedoch deutet die Literatur auch an, dass ein Mehrwert auf den tatsächlichen Lernerfolg bislang nicht nachgewiesen werden konnte“.

Entsprechend dieser Ausgangslage sollte die hier vorgestellte Studie nicht nur Aufschluss über konkrete Rezeptionsmuster geben, sondern auch über die Wirkung der Rezeption – konkret über den stattfindenden Wissenserwerb. Da Wissenserwerb – anders als Rezeptionsmuster – nicht einfach per Blickaufzeichnung beobachtet werden kannFootnote 3, ist eine Kombination mit weiteren Methoden notwendig (siehe auch Niemann und Scheuermann in diesem Band). Entsprechend kam bei der Untersuchung von KATRIN VR ein klassisch zu nennender Methodenmix zum Einsatz, bei dem die Blickaufzeichnung mit einem Wissenstest und der Methode des Lauten DenkensFootnote 4 kombiniert wurde.

Was den Aspekt des Wissens betrifft, so spielt in der hier untersuchten VR-Umgebung nicht primär das vermittelte FaktenwissenFootnote 5 eine Rolle, sondern das Verständnis des physikalischen Experiments selbst, also das Strukturwissen. Um die Veränderung des Strukturwissens der Versuchspersonen durch die Nutzung der VR-Umgebung zu erfassen, wurde die Concept-Mapping-Methode eingesetzt. Dies ist „eine Methode zur grafischen Darstellung von Wissensstrukturen“ (Gehl 2013, S. 104), bei der Versuchspersonen gebeten werden, die wesentlichen Begriffe eines Themenbereichs zu nennen bzw. aus vorgegebenen Begriffen auszuwählen und diese miteinander in Beziehung zu setzen (Bsp.: A „gehört zu“ B). Wird die Methode mehrfach und zu unterschiedlichen Messzeitpunkten eingesetzt, lassen sich der Wissenszuwachs, die Veränderung der Wissensqualität oder auch Veränderungen der Struktur der Wissensnetzwerke von Proband:innengruppen bestimmen.

Mithilfe der Blickaufzeichnung und des Lauten Denkens wurden Daten zur Relevanz konkreter Umsetzungsmerkmale der VR-Umgebung beim Wissenserwerb erhoben. Die Aufzeichnung von Augenbewegungen während der Nutzung der VR-Umgebung ermöglicht es, die visuelle Aufmerksamkeitsverteilung der Lernenden direkt während des Rezeptionsprozesses zu erfassen und damit sehr konkret zu erkennen, in welcher Situation welche Merkmale der Umgebung im Fokus stehen. In Kombination mit der Methode des Lauten Denkens können Probleme bei der Nutzung, aber auch besonders positive Nutzungserlebnisse, gezielt einzelnen Merkmalen des jeweils rezipierten Produkts zugeordnet werden.

Aufgrund der Corona-Pandemie konnten die Proband:innen auf zwei Wegen teilnehmen: entweder vor Ort im Rezeptionslabor oder online. Bei Letzterem musste aus technischen Gründen auf die Blickaufzeichnung verzichtet werden (vgl. Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Ablauf der Untersuchung in den beiden Szenarien Labor und online.

4.1 Ablauf

Zu Beginn der Untersuchung wurden die Teilnehmer:innen gebeten, eine Concept Map zum KATRIN-Experiment zu erstellen. Dafür hatten sie maximal 15 min Zeit und konnten aus einem Set an vorgegebenen Begriffen und Beziehungen wählen.

Danach absolvierten sie die geführte Tour in der KATRIN VR-Umgebung über die normale Browseroberfläche, d. h. ohne Virtual-Reality-Brille, da dies das Szenario mit dem deutlich größeren Nutzungspotenzial unter Studierenden darstellt. Im Labor wurden währenddessen die Blicke der Proband:innen mithilfe eines Eye-Tracking-Geräts (SMI iView X) aufgezeichnet.

Nach Abschluss der Tour wurde den im Labor teilnehmenden Personen ein Video der gerade erfolgten Blickaufzeichnung vorgespielt. Während des Abspielens sollten sie laut darüber nachdenken, was sie getan haben und was ihnen dabei aufgefallen ist.

Danach folgte die zweite Concept Map, bei der aus dem gleichen Begriffs- und Beziehungsreportoire wie zuvor erneut das KATRIN-Experiment beschrieben werden sollte. Zum Abschluss wurde eine Reihe von Fragen zur Soziodemografie und zu vorherigen Kontakten mit dem KATRIN-Experiment gestellt.

Das Online-Verfahren unterschied sich aufgrund technischer Beschränkungen geringfügig vom Laborsetting. Die Teilnehmer:innen erstellten ebenfalls eine Concept Map vor und nach der Nutzung der VR-Umgebung und nahmen an der geführten Tour in der KATRIN-VR-Umgebung über die Software Zoom teil. Allerdings wurde keine Blickaufzeichnung durchgeführt und es wurde ihnen entsprechend im Anschluss keine Aufzeichnung der Tour vorgespielt. Stattdessen kam ein Leitfadeninterview zum Einsatz, um Erfahrungen und Eindrücke zu sammeln.

4.2 Daten

Insgesamt nahmen zehn Personen an der Studie teil, sieben in der Laborumgebung und drei online. Bei einer Person wurde das Laute Denken aufgrund eines technischen Defekts nicht aufgezeichnet. Bei drei Personen (eine im Online-Setting, zwei im Laborsetting) hatte die VR-Tour kurz vor Ende einen technischen Defekt und wurde daraufhin abgebrochen. Dennoch wurden in diesen Fällen die beiden Concept Maps sowie das Leitfadeninterview bzw. das Laute Denken durchgeführt.

Das Durchschnittsalter der Proband:innen lag bei 22 Jahren. Der jüngste Befragte war 20 Jahre alt, der älteste war 36 Jahre alt. Acht von ihnen studierten zum Zeitpunkt der Befragung in einem Bachelorstudiengang Physik, fünf befanden sich im sechsten Semester und die übrigen drei im zweiten, achten bzw. zehnten Semester. Ein Befragter studierte Meteorologie (B.A.) im sechsten Semester und ein weiterer hatte bereits vor sieben Jahren eine Promotion in Physik abgeschlossen. Acht Teilnehmer waren männlich, zwei Teilnehmerinnen weiblich.

Ihre Vorerfahrungen mit dem KATRIN-Experiment waren sehr unterschiedlich. Während einige das Experiment besucht bzw. in einem Fall dort gearbeitet hatten, hatten die meisten Teilnehmer:innen nur in einer Vorlesungssitzung davon gehört. Man kann die Proband:innen somit zwar nicht als Lai:innen bezeichnen, die Mehrheit jedoch auch nicht als Expert:innen bezüglich KATRIN. Stattdessen können sie als Semi-Expert:innen angesehen werden, die mit einem gewissen Hintergrundwissen, aber ohne Detailwissen, die Umgebung nutzten.

5 Auswertung der Forschungsdaten

5.1 Allgemeine Beurteilung durch Proband:innen

Alle Teilnehmer:innen äußerten sich zufrieden mit der virtuellen Umgebung des KATRIN-Experiments und hielten sie für eine wertvolle und zugleich unterhaltsame Erfahrung, die sich für den Einsatz im universitären Unterricht eigne.

Besonders gelobt wurden die Möglichkeit, sich in der 360°-Umgebung frei umzusehen, die animierten Erklärfilme sowie die interaktiven Teile mit dem Röntgenblick und die gute Orientierung innerhalb der Tour durch die eingeblendete Navigationsübersicht. Auch die humorvollen Elemente, wie z. B. die Darstellung einer Eistüte im Magen des Guides beim Einschalten des Röntgenblicks, wurden geschätzt.

Kritik äußerten nur einzelne Proband:innen. Ein Teilnehmer erwähnte, dass der Ablauf der Tour nicht mit dem realen KATRIN-Experiment übereinstimme. Ein anderer war sich über die Bedeutung eines bestimmten Begriffs unsicher, allerdings handelte es sich dabei um den Teilnehmer mit dem größten Fachwissen über KATRIN. Zwei Studierende erwarteten, dass es am Ende der Führung eine Art Datenanalyse des KATRIN-Experiments geben würde. Zwei weitere gaben an, dass sie die Interaktion mit dem Spektrometer nicht sofort verstanden hätten.

Häufiger beklagten sich die Teilnehmer:innen über technische Probleme, wie Verzögerungen bei den interaktiven Teilen – was es schwierig machte, die durch die Interaktion verursachten Unterschiede zu erkennen – oder Abbrüche während der Tour. Diese Probleme sind jedoch auf den spezifischen, technischen Aufbau der Studie statt auf die VR-Umgebung selbst zurückzuführen.

5.2 Wissenserwerb

Mit einer Ausnahme gaben alle Teilnehmenden an, dass sie während der Führung etwas gelernt hätten und das KATRIN-Experiment danach besser verstünden.

Diese Selbsteinschätzungen werden durch die Ergebnisse der vor und nach der Tour erstellten Concept Maps bestätigt. Um die Korrektheit zu bewerten, wurden die Maps mit einer Referenzkarte (vgl. Abb. 4) verglichen, die von dem Physiker erstellt wurde, der auch als virtueller Guide in der VR-Umgebung fungiert.

Abb. 4
figure 4

Referenzkarte, mit der die Concept Maps der Teilnehmer:innen verglichen wurden.

Die Zahl der richtigen Propositionen stieg von durchschnittlich 10 richtigen Propositionen vor der Tour auf 13,6 nach der Tour. Gleichzeitig sank die durchschnittliche Anzahl falscher Aussagen um 1,3, von 2,2 auf 0,9. Nur ein Teilnehmer hatte in der zweiten Map eine geringere Anzahl richtiger Aussagen und eine höhere Anzahl falscher Aussagen. Ein derartiger Anstieg der korrekten Aussagen wurde auch bei einem Laienpublikum für andere virtuelle Präsentationsformen zum KATRIN-Experiment beobachtet (Klein et al. 2021, S. 7).

Darüber hinaus gibt es weitere Indikatoren, die dabei helfen können, Veränderungen im Wissensstand zu bewerten, etwa die Netzwerkdichte oder die Zentralität von Begriffen in den Concept Maps. Wegen des Schwerpunkts dieses Artikels auf physiologischen Messungen werden die Studienergebnisse zum Aspekt Wissenserwerb an dieser Stelle aber nicht detaillierter ausgeführt.

5.3 Aufmerksamkeitsverteilung

Um den Grad der Aufmerksamkeit und des Interesses während der Rezeption zu analysieren, wurde zunächst erfasst, wie lange die Laborteilnehmer:innen zentrale Elemente der virtuellen Umgebung mit ihren Augen fixierten. Diese zentralen Elemente (sogenannte Areas of Interest, kurz AOI) waren der Guide, das Navigationspanel, die aktivierte Röntgenansicht und die dazugehörige Legende, die animierten Erklärvideos sowie die Bedienfelder für die eigenständige Interaktion mit dem Experiment (vgl. Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

(Quelle: eigene Darstellung)

Beispielhafte Areas of Interest (AOIs) in der VR-Umgebung.

Die meiste Zeit – im Schnitt drei Minuten und 41 s – war der Blick der Teilnehmer:innen auf den Guide gerichtet, er fungiert somit als zentraler Ankerpunkt der Tour. Etwas mehr als drei Minuten verbrachten die Proband:innen damit, sich „umzuschauen“, d. h. mit der Maus den Ausschnitt des Raumes zu bewegen und so die Möglichkeiten der 360°-Umgebung zu nutzen.

Die anderen kodierten Elemente fanden hinsichtlich ihrer absoluten Betrachtungszeit weniger Beachtung (vgl. Abb. 6). Da sie jedoch nicht während der gesamten Tour zu sehen sind, ist in diesem Fall der Anteil an der Betrachtungszeit während ihrer tatsächlichen Sichtbarkeit relevanter. Auf diesen wird im Folgenden eingegangen.

Abb. 6
figure 6

Durchschnittliche Dauer der summierten Fixationen.

Abb. 7 zeigt das Verhältnis aus zeitlicher Sichtbarkeit und Betrachtungszeit: Beispielsweise wurde der animierte Erklärfilm „Messprinzip II” während seiner Sichtbarkeit von den Teilnehmer:innen im Durchschnitt 81,3 % der Zeit fixiert. Eine ähnlich hohe Quote kann auch der erste animierte Erklärfilm der Tour aufweisen (72 %). Diese hohe Aufmerksamkeit, die beiden animierten Erklärfilmen zuteilwurde, zeigt deren Bedeutung während der Tour.

Abb. 7
figure 7

Anteil an Fixationen während der Sichtbarkeit.

Doch ist es nicht nur interessant zu analysieren, wie lange zentrale Elemente der VR-Umgebung angeschaut wurden, sondern auch in welcher Reihenfolge dies passierte (Stichworte Selektions- und Erschließungsstrategien).

Abb. 8 stellt die Betrachtungsreihenfolge der AOIs für jede Teilnehmer:in im Labor einzeln dar. Die dargestellten Muster der Sequence ChartsFootnote 6 sind insgesamt relativ ähnlichFootnote 7, was darauf hinweist, dass auch die Aufmerksamkeitsverteilung während des Rundgangs – gemessen über den Blick – ähnlich ist und damit auch die Rezeption der Tour selbst.

Abb. 8
figure 8

Sequence Charts aller Teilnehmer:innen im Labor. Die Abbildung zeigt die Abfolge, in der verschiedene AOIs während der Tour angeschaut wurden (AOI-Anordnung identisch bei allen Teilnehmer:innen). Ausgeschlossen ist die AOI des Tourguides, da dort die Blickdaten aus technischen Gründen mit einer anderen Software kodiert werden mussten.

6 Fazit

In der beschriebenen Studie wurde eine VR-Umgebung zu einem physikalischen Großexperiment, dem sogenannten Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment (KATRIN), mithilfe eines Methodenmixes aus Blickaufzeichnung, Concept Mapping und Befragung untersucht.

KATRIN VR gibt den Nutzer:innen die Möglichkeit, über eine geführte Tour das Experiment, seine Abläufe und Ziele interaktiv kennenzulernen. Diese relativ neue mediale Form kann im konkreten Fall beispielsweise eingesetzt werden, um Studierenden in physikalischen Studiengängen wissenschaftliches Wissen zum Experiment zu vermitteln. Die Evaluation dieses Einsatzzwecks – die Nutzung durch Studierende mit dem Ziel der Wissensvermittlung – stand hier im Fokus.

Die Ergebnisse zeigen, dass sich das Strukturwissen der Proband:innen nach der Nutzung der KATRIN VR Umgebung positiv verändert hat: Die Teilnehmer:innen erlangten ein besseres Wissen und Verständnis für das KATRIN-Experiment. Dies gaben die Befragten nicht nur in Selbstauskünften an, sondern auch die erstellten Concept Maps belegen dies durch einen deutlichen Zuwachs korrekter Aussagen über das Experiment im Vorher-Nachher-Vergleich.

Darüber hinaus zeigen die Daten der Blickaufzeichnung, dass die Aufmerksamkeit bei allen Teilnehmer:innen ähnlich verteilt war und sich auf die zentralen Elemente der Informationsverbreitung konzentrierte. Besondere intensiv wurden dabei die beiden während der Tour abgespielten animierten Erklärfilme sowie die interaktiven Elemente – mit denen Veränderungen im Experiment durchgeführt werden konnten – betrachtet. Aus einer produktanalytischen Perspektive liegt somit nahe, dass die intendierte Schwerpunktsetzung der Produzent:innen in der Praxis grundsätzlich funktioniert und sich der Wissenszuwachs der Proband:innen nicht zuletzt aus diesen Elementen ergibt.

Zudem bewerteten die Teilnehmer:innen während des Lauten Denkens bzw. während der Leitfadeninterviews die VR-Umgebung insgesamt positiv. Insbesondere die Verständlichkeit der Tour im Allgemeinen, die interaktiven Elemente und die animierten Erklärfilme wurden gelobt. Demgegenüber wurden nur wenige negative Punkte genannt, die sich zudem mehrheitlich auf technische, durch das Untersuchungssetting verursachte Probleme – etwa Performanceeinbrüche bei der Darstellung – bezogen.

Basierend auf diesen Ergebnissen scheinen VR-Umgebungen für den Einsatz in der universitären Ausbildung gut geeignet zu sein und könnten traditionelle Lehrformen – gerade vor dem Hintergrund gänzlich digitaler oder hybrider Lehre – ergänzen.

6.1 Einschränkungen und Methodenreflexion

Da es sich bei der hier dargestellten Studie um eine stark qualitativ ausgerichtete Untersuchung mit einer kleinen Teilnehmer:innenzahl und nur einer getesteten VR-Umgebung handelt, muss die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse zurückhaltend bewertet werden. Kontextfaktoren – z. B. Studienfach, Alter, Thema und konkrete Gestaltung der VR-Umgebung usw. – könnten das Ergebnis beeinflussen.

Dieses Problem stellt sich bei der Verwendung der Methode der Blickaufzeichnung zur Analyse von Rezeptionsprozesses realer Medienprodukte generell. Aufgrund der relativ aufwendigen Durchführung der Erhebungen und der ebenso zeitintensiven Auswertung, die sich bislang kaum automatisieren lässt, können in den meisten Fällen nur geringe Stichprobengrößen untersucht werden.

Ebenso ist es mit Blickaufzeichnungsstudien und den hier benutzten ergänzenden Methoden nur möglich, die Rezeption direkt sowie unmittelbare Wirkungen derselben zu erfassen. Aussagen über mittel- und langfristige Medienwirkungen hingegen lassen sich so nicht treffen.

Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass zwar die aufgezeichneten Blickbewegungen quasi unmittelbare Reaktionen auf einen Reiz – in diesem Fall die KATRIN VR Umgebung – sind, für deren Kontextualisierung (Warum wurde hier hin oder dahin geschaut?) aber Selbstaussagen der Proband:innen notwendig sind, deren Wahrheitsgehalt etwa durch Effekte der sozialen Erwünschtheit beeinträchtigt sein können.

Insgesamt macht das Beispiel für die Anwendung einer physiologischen Messung mit der Methode der Blickaufzeichnung deutlich, dass deren praxistaugliche Verwendung im wissenschaftskommunikativen Evaluationskontext nur in einem Methodenmix möglich ist. Wenn jedoch die fachlichen, zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, bietet diese Methode im Bereich der Medienrezeption eine Möglichkeit, die mit anderen Verfahren so nicht erreicht werden kann: Den direkten, kaum manipulierbaren Einblick in den Kommunikationsprozess zwischen Nutzer:innen und medialem Artefakt.