Deutschösterreich
Deutschösterreich (auch Deutsch-Österreich) war in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie eine inoffizielle Bezeichnung der mehrheitlich deutschen Sprachgebiete Cisleithaniens.
Mit der Niederlage und dem militärischen Zusammenbruch Österreich-Ungarns am Ende des Ersten Weltkrieges im Oktober 1918 endete das Reich der Habsburger. Der Vielvölkerstaat wurde nicht formell aufgelöst, sondern auf seinem Territorium gründeten sich – meist ohne Rücksicht auf die bisherige Verfassungslage – die neuen souveränen Staaten Deutschösterreich und Tschechoslowakei; Ungarn blieb (mit dem Zwischenspiel einer Räterepublik) als Königreich ohne König mit einem Drittel seiner früheren Fläche erhalten. Weitere Gebiete gingen an Italien, den neuen Staat der Serben, Kroaten und Slowenen, Rumänien und das aus Teilen Altösterreichs, des Deutschen Reiches und Russlands neu gebildete Polen.
Die bisherigen Abgeordneten aus den deutschen Siedlungsgebieten Altösterreichs traten am 21. Oktober 1918 als erstes Parlament des neuen Staates zusammen und wählten am 30. Oktober 1918 die erste demokratische Regierung. Am 12. November 1918 beschlossen sie die republikanische Staatsform und dass Deutschösterreich Teil der deutschen Republik (vgl. Weimarer Republik) sei. Kurz darauf definierten sie die Gebietsansprüche Deutschösterreichs. Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges akzeptierten die gewählte Staatsform, nicht aber den Staatsnamen „Deutschösterreich“ und einen beträchtlichen Teil der Gebietsansprüche – insbesondere nicht den Anschluss an das Deutsche Reich.
Proklamation des Staates Deutschösterreich
Nach dem Kaiserlichen Manifest vom 16. Oktober 1918 (Österreich soll […] zu einem Bundesstaate werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiete sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet) berichtet die Wiener Polizeidirektion am 18. Oktober 1918:
„In den deutschnationalen Kreisen macht sich nun angesichts dieser Haltung der nichtdeutschen Völker, die in der Auslegung des Selbstbestimmungsrechtes bis zur völligen Abkehr Österreichs gehen, eine lebhafte Propaganda dafür bemerkbar, dass sich nunmehr auch die Deutschen auf sich selbst besinnen und den Anschluss an das deutsche Reich suchen sollen. Bemerkenswert erscheint, dass sich auch die sozialdemokratische Parteipresse in ganz ähnlichen Gedankengängen bewegt.[1]“
Am 21. Oktober 1918 traten die zuletzt 1911 gewählten deutschen Reichsratsabgeordneten im niederösterreichischen Landhaus in Wien als „Provisorische Nationalversammlung des selbständigen deutsch-österreichischen Staates“ zusammen. Zu dieser konstituierenden Sitzung kamen von den insgesamt 516 Reichsratsabgeordneten alle 208 Vertreter der überwiegend deutschsprachigen Gebiete Altösterreichs zusammen.[2] Es handelte sich um 65 christlichsoziale und 37 sozialdemokratische Abgeordnete sowie 106 Vertreter deutschnationaler und liberaler Gruppierungen.[3]
Zu Präsidenten der Versammlung wurden Franz Dinghofer (Deutschnationale Bewegung), Jodok Fink (Christlichsoziale Partei) und Karl Seitz (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) gewählt.[4]
Karl Seitz, in den Gründungsjahren der Republik Staatsoberhaupt, erklärte nach seiner Wahl: Wir legen heute den Grundstein für ein neues Deutschösterreich. Dieses neue Deutschösterreich wird errichtet werden nach dem Willen des deutschen Volkes.[5] Speziell die Sozialdemokraten und die Großdeutschen verbanden damals mit dem Begriff „Österreich“ den vergangenen Vielvölkerstaat der Habsburgermonarchie. Karl Renner hatte daher in seinem im Oktober 1918 entstandenen, vor der Beschlussfassung mehrfach geänderten Entwurf zur provisorischen Verfassung den neuen Staat als Südostdeutschland bezeichnet.[6] Schließlich setzten sich die christlichsozialen Politiker durch, die den Österreich-Begriff nicht völlig aufgeben wollten.
Von der Provisorischen Nationalversammlung wurden:
- die Gebietsgewalt über alle deutschsprachigen Gebiete der ehemaligen Monarchie beansprucht,
- die Wahl der konstituierenden Nationalversammlung angekündigt (fand am 16. Februar 1919 statt),
- aus der Mitte der Abgeordneten ein Vollzugsausschuss, der Staatsrat, mit 20 Mitgliedern (darunter die drei Präsidenten der Prov. Nationalversammlung, der Staatskanzler und der Staatsnotar) gewählt und
- weitere fünf Ausschüsse der Prov. Nationalversammlung konstituiert.[7]
Parallel dazu organisierten sich die anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Doppelmonarchie. Am 24. Oktober erklärten galizische Politiker, ein gemeinsames Parlament in Wien sei ab sofort sinnlos. Tschechische Politiker gründeten am 28. Oktober 1918 die Tschechoslowakische Republik, Kroatien, Serbien und Slowenien bildeten am 29. Oktober das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (Königreich Jugoslawien). Am 31. Oktober erklärte das Königreich Ungarn die Realunion mit Österreich für beendet.
Am 30. Oktober wählte die Provisorische Nationalversammlung unter Vorsitz von Karl Seitz die erste Staatsregierung. Staatskanzler der Konzentrationsregierung aus Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Großdeutschen wurde der Sozialdemokrat Karl Renner. Gleichzeitig amtierte in den ersten Novembertagen 1918 noch die kaiserlich-königliche Regierung Heinrich Lammasch, deren Zuständigkeitsbereich sich innerhalb einer Woche von ganz Cisleithanien auf das verkleinerte neue Österreich reduziert hatte. Sie administrierte die Auflösung des früheren Staatsgebietes, soweit sie von Wien aus zu beeinflussen war, und übergab ihre Agenden sukzessive der neuen Regierung.
Der neue Staat hatte seine Staatsform vorerst offen gelassen. Sozialdemokraten plädierten für die Republik, die Christlichsozialen konnten sich den Kaiser vorerst noch als „lebenslänglichen Volksanwalt“, wie Ignaz Seipel die Funktion in einem Zeitungsbeitrag beschrieb, vorstellen. Letztlich nahmen auch die Christlichsozialen von monarchischen Staatsformen Abstand. Ihre Spitzenpolitiker arbeiteten gemeinsam mit Karl Renner und Vertretern der wenige Stunden später entlassenen k.k. Regierung an der Erklärung, die der zur vollständigen Abdankung nicht bereite Kaiser abgeben sollte, um einen Konflikt des Monarchen mit den Repräsentanten des republikanischen Staates zu vermeiden.
Am 11. November 1918 unterzeichnete Kaiser Karl I. in Schloss Schönbrunn die so genannte Verzichtserklärung. Die Schlüsselsätze dieser Erklärung lauteten:
„Im voraus erkenne ich die Entscheidung an, die Deutschösterreich über seine künftige Staatsform trifft. Das Volk hat durch seine Vertreter die Regierung übernommen. Ich verzichte auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften.“
In der Erklärung enthob der Kaiser von Österreich weiters seine Regierung ihres Amtes; noch am gleichen Abend übersiedelte er nach Eckartsau in den Donauauen, in ein Schloss im Privateigentum der Habsburgischen Familienstiftung.
Zu diesem Zeitpunkt war für den 12. November von den neuen Politikern längst die Ausrufung der Republik vereinbart worden: Die Provisorische Nationalversammlung trat im bis dahin dem – sich am gleichen Tag de facto selbst auflösenden – Reichsrat unterstehenden Parlamentsgebäude zusammen und beschloss mit nur zwei Gegenstimmen das Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich.[8]
Die ersten beiden Artikel lauteten:
- Artikel 1
- Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt.
- Artikel 2
- Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik. Besondere Gesetze regeln die Teilnahme Deutschösterreichs an der Gesetzgebung und Verwaltung der Deutschen Republik sowie die Ausdehnung des Geltungsbereiches von Gesetzen und Einrichtungen der Deutschen Republik auf Deutschösterreich.
Gebietsansprüche Deutschösterreichs
Die Provisorische Nationalversammlung erhob Anspruch auf „die Gebietshoheit über das geschlossene Siedlungsgebiet der Deutschen innerhalb der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“. Die proklamierte Republik umfasste 118.311 km² und 10,37 Mio. Einwohner, bestehend aus:
- Niederösterreich (und der südmährische Kreis Znaim)
- Oberösterreich (und das deutsche Südböhmen um Krumau)
- Steiermark (inklusive Marburg an der Drau, jedoch ohne die slowenische Untersteiermark)
- Kärnten (inklusive das mehrheitlich slowenisch besiedelte Südkärnten sowie das dreisprachige Kanaltal)
- Tirol (mit Südtirol, jedoch ohne Welschtirol)
- Vorarlberg
- Salzburg
- Deutschböhmen (mit der Stadt Eger und Karlsbad)
- Sudetenland (der deutsch besiedelte Nordrand von Böhmen und Mähren sowie Österreichisch-Schlesien)
- die „Einschlußgebiete“ Iglau, Olmütz und Brünn (Sprachinseln mehrheitlich deutscher Städte in tschechischem Gebiet)
Auf Deutsch-Westungarn (später Burgenland) wurde im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes der Völker politisch, nicht aber rechtlich Anspruch erhoben. Der rechtliche Anspruch Österreichs entstand erst im Oktober 1919 mit dem Vertrag von Saint-Germain und wurde 1921 weitgehend eingelöst.
Das Ende des Staatskonzepts Deutschösterreich
Es stellte sich bereits im Frühjahr 1919 heraus, dass das Staatskonzept Deutschösterreichs nicht realisierbar war. Es gelang dem Kriegsverlierer Österreich nicht, all jene Gebiete des früheren kaiserlichen Österreich in einem Staat zusammenzufassen, auf die es Anspruch erhob. Südtirol wurde von Italien annektiert, die teils deutschsprachig besiedelten Gebiete Böhmens und Mährens fielen der Tschechoslowakei zu. Auch der Zusammenschluss mit der Weimarer Republik, der unter anderem unter Berufung auf das von US-Präsident Woodrow Wilson formulierte Selbstbestimmungsrecht der Völker angestrebt wurde, konnte nicht realisiert werden.
Die am 16. Februar 1919 gewählte Konstituierende Nationalversammlung – 72 Sozialdemokraten, 69 Christlichsoziale, 26 Vertreter deutschnationaler Gruppierungen, 1 Tscheche, 1 bürgerlicher Demokrat, 1 Zionist – nahm daher von der ursprünglichen Absicht der provisorischen Verfassung Abstand, für die von Deutschen besiedelten Gebiete Tschechiens, deren Bewohner nicht mitwählen konnten, ernannte Volksvertreter einzusetzen. Dies hätte zu enormen außenpolitischen Problemen geführt.[9]
Karl Renner rechnete am 5. März 1919 in der zweiten Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung vor, dass rund vier Millionen „unzweifelhaft deutsche Einwohner“, das seien „mehr als die ganze Schweiz Einwohner hat“, daran gehindert worden seien, das neue Parlament Deutschösterreichs mitzuwählen[10]; damit habe man „eine Teilung Deutschlands“ bewirkt. Im Einzelnen nannte der Staatskanzler: [11]
- Deutschböhmen mit 14.496 km² und 2,23 Mio. Einwohnern
- Böhmerwaldgau (an Oberösterreich anzuschließen) mit 3.280 km² und 183.000 Einwohnern
- Provinz Sudetenland mit 6.533 km² und 678.800 Einwohnern
- Kreis Deutsch-Südmähren mit 1.840 km² und 173.000 Einwohnern
- Sprachinsel Brünn mit 140.000 Einwohnern
- Sprachinsel Olmütz mit 48.000 Einwohnern
- Sprachinsel Iglau mit 37.000 Einwohnern
- An Niederösterreich anzuschließende südmährische Gemeinden mit 385 km² und 22.900 Einwohnern
- Im Norden somit 27.022 km² und 3.515.509 Einwohner
- Deutsch-Südtirol mit 6.496 km² und 250.861 Einwohnern
Am 10. September 1919 unterzeichnete Staatskanzler Renner den Vertrag von Saint-Germain (vgl. Pariser Vorortverträge), der als „Diktat der Siegermächte“ bezeichnet wurde. Mit der Ratifizierung des Vertrages durch die Nationalversammlung am 21. Oktober wurde der Name des Landes gemäß den Vertragsbestimmungen von Staat Deutschösterreich auf Republik Österreich geändert. Die Bestrebungen zum Zusammenschluss mit dem republikanischen Deutschen Reich wurden durch entsprechende Artikel sowohl im Vertrag von Saint-Germain für Österreich (Artikel 88: „Die Unabhängigkeit Österreichs ist unabänderlich, es sei denn, daß der Rat des Völkerbundes einer Abänderung zustimmt. […]“, vgl. Anschlussverbot) wie auch im Versailler Vertrag für das Deutsche Reich (Artikel 80: „Deutschland erkennt die Unabhängigkeit Österreichs innerhalb der durch Vertrag zwischen diesem Staate und den alliierten und assoziierten Hauptmächten festzusetzenden Grenzen an und verpflichtet sich, sie unbedingt zu achten […]“) obsolet. Die Siegermächte des „Großen Krieges” wollten damit ein neues übermächtiges Deutschland verhindern.
Abgesehen von den nicht erreichten Zielen wurden im Friedensvertrag das Mießtal, Unterdrauburg und das Kanaltal mit Tarvis in Kärnten Jugoslawien beziehungsweise Italien zugesprochen, Feldsberg und Gmünd Böhmzeil in Niederösterreich der Tschechoslowakei. Die Südsteiermark der historischen Steiermark ging an Slowenien verloren. Andererseits wurde im Vertrag Deutsch-Westungarn, ohne das Gebiet von Ödenburg, das durch eine nachträgliche, nicht einwandfreie Volksabstimmung (14. Dezember 1921) bei Ungarn blieb, Österreich zugesprochen.
Karl Renner verfasste 1920 eine Hymne, Deutschösterreich, du herrliches Land, die den nicht mehr staatsoffiziellen Landesnamen enthielt. Die Komposition wurde allerdings nie offiziell zur Nationalhymne erklärt. Die Sozialdemokratische Arbeiter-Partei Deutschösterreichs änderte hingegen ihren Namen nicht.
Siehe auch
Literatur
- Zbynek A. Zeman: Der Zusammenbruch des Habsburgerreiches 1914–1918. Verlag für Geschichte und Politik, Wien 1963 (Original: The Break-Up of the Habsburg Empire. Oxford University Press, 1961)
- Rudolf Neck (Hrsg.): Österreich im Jahre 1918. Berichte und Dokumente. R. Ouldenburg, München 1968
- Bundesministerium für Unterricht (Hrsg.): Österreich, freies Land – freies Volk. Dokumente. Österr. Bundesverlag, Wien 1957
- Friedrich Funder: Vom Gestern ins Heute. Aus dem Kaiserreich in die Republik. Herold, Wien 1971³
Einzelnachweise
- ↑ Neck: a.a.O., S. 67
- ↑ Bundesministerium für Unterricht (Hrsg.): a.a.O., S. 139
- ↑ Walter Goldinger, Dieter A. Binder, Geschichte der Republik Österreich 1918–1938. Verlag für Geschichte und Politik / Oldenbourg, Wien und München 1992, S. 14
- ↑ Provisorische Nationalversammlung im Österreich-Lexikon aeiou.at
- ↑ Neck: a.a.O., S. 75
- ↑ Goldinger, Binder: a.a.O., S. 19
- ↑ Neck: a.a.O., S. 77
- ↑ Gesetz vom 12. November 1918 über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich (ALEX – Historische Rechts- und Gesetzestexte Online)
- ↑ Goldinger, Binder: a.a.O., S. 28 f.
- ↑ Demonstration der Sudetendeutschen am 4. März 1919
- ↑ Stenographische Protokolle der Konstituierenden Nationalversammlung für Deutschösterreich, 2. Sitzung, 5. März 1919, S. 26 (alex.onb.ac.at)