Urchristentum
Als Urchristentum bezeichnet man in der Christentumsgeschichte die Entstehungszeit des Christentums, die vom Tod des Jesus von Nazaret um 30 oder 33 bis zur Verschriftung der synoptischen Evangelien zwischen 70 und 130 reichte.
Die Entstehungsphase umfasst in etwa jenen Zeitraum, den auch die Apostelgeschichte des Lukas - die erste Darstellung des Urchristentums mit historischem Anspruch - beschreibt. Sie ist jedoch nicht identisch mit der Geschichte der Jerusalemer Urgemeinde, da diese nur einen, wenn auch besonders hervorgehobenen, Teil des Urchristentums bildete. Dieses verstand sich nicht als eigene Religion, sondern als ein Teil des Judentums. Es wurde auch von anderen jüdischen Gruppen und im Römischen Reich als jüdische Gruppe wahrgenommen.
Jedoch begriffen auch die Urchristen seit etwa 48 die Völkermission als Aufgabe aller Christen. Denn ihre Verkündigung war auf weltweite Ausdehnung angelegt. Das Urchristentum umfasste daher bald nicht nur die Gemeinden in Judäa, sondern auch im gesamten östlichen Mittelmeerraum bis hin zu Rom. Mit dem Ende der Urgemeinde um 135 war auch seine Trennung vom Judentum besiegelt.
Viele christliche Konfessionen und Sekten beanspruchen die wahre Kenntnis des Urchristentums für sich, da sie daraus ihr Selbstverständnis im Gegenüber zu anderen christlichen Richtungen ableiten.
Quellen
Das Wissen über das Urchristentum stammt im Wesentlichen aus dem Neuen Testament (NT), hier vor allem aus den Paulusbriefen, den drei synoptischen Evangelien und der Apostelgeschichte. Die frühkatholischen Briefe, das später entstandene Johannesevangelium und die Offenbarung des Johannes spiegeln bereits ein späteres Stadium der Entwicklung des Christentums, als der römische Staat es als eigene Religion verfolgte (siehe Christenverfolgungen im Römischen Reich). Das NT wurde durch die Kanonbildung im zweiten Jahrhundert zur Urkunde des Urchristentums. Es beansprucht und behielt bis heute normativen Charakter für die meisten christlichen Richtungen der Folgezeit. Jedoch sind von keiner NT-Schrift außer den echten Paulusbriefen Autor und Umstände der Abfassung zweifelsfrei bekannt. Die historischen Daten lassen sich meist nur indirekt aus diesen Schriften selber erschließen.
Hinzu kommen eine Reihe außerbiblischer frühchristlicher Schriften, darunter die Apokryphen. Gemeinsam geben sie Aufschluss über die innere und äußere Entwicklung dieser neuen Weltreligion in der Spätantike. Zu den urchristlichen Schriften außerhalb des NT gehören die Werke der „Apostolischen Väter“, die fließend in die Patristik übergehen:
- Erster Clemensbrief: ein Brief der Gemeinde Roms an die Gemeinde in Korinth, entstanden etwa zeitgleich mit dem 1. Petrusbrief (ca. 95);
- die Didache: bestehend aus einem Katechismus (Morallehre), einer Gottesdienstordnung und einer „kleinen Apokalypse" (ca. 100-110);
- die Ignatiusbriefe: verfasst vom Bischof Ignatius von Antiochia an seine Gemeinden auf seinem Weg zum Martyrium in der Zirkusarena (ca. 110);
- der Barnabasbrief: ein antijüdischer Traktat eines unbekannten Autoren zur allegorischen Auslegung des Alten Testaments (zwischen 70-140);
- Zweiter Clemensbrief: die älteste erhaltene christliche Predigt, die Worte Jesu zitiert, die nicht im NT enthalten sind. Autor und Zeit sind unbekannt.
- der Hirt des Hermas: eine Apokalypse ähnlich der Offenbarung des Johannes, die Visionen, Gebote und Gleichnisse enthält (ca. 150 in Rom verfasst).
Weitere Quellen sind auch die Notizen des Hegesippus (ca. 180), die nur durch Zitate bei Eusebius von Caesarea bekannt sind, sowie Notizen über die Entstehung der Evangelien bei Papias von Hierapolis (um 150), die jedoch heute weitgehend als unhistorisch eingestuft werden.
Zeitrahmen und Datierungen
Das NT zeigt - anders als andere zeitgenössische Quellen - kein Interesse an exakten Zeitangaben. Als einziges Fixdatum nennt es das 15. Regierungsjahr des Kaisers Tiberius, in dem Johannes der Täufer auftrat, nach außerbiblischen Angaben also das Jahr 28 (Lk 3,1). Der Todestag Jesu soll nach den drei älteren Evangelien der 15. Nisan zu Beginn eines Passahfestes unter Pontius Pilatus gewesen sein: Das macht 30 oder 33 als Todesjahr Jesu wahrscheinlich. Demnach gingen der Bildung der Urgemeinde zwei bis fünf Jahre einer Wanderschaft Jesu mit seinen Jüngern in Galiläa und Judäa voraus. Diese irdische Wirksamkeit Jesu zählt man gewöhnlich noch nicht zum Urchristentum, sondern zu seinen Entstehungsbedingungen.
Seine folgende Geschichte fällt in die Regierungszeit der römischen Kaiser Tiberius und Claudius sowie ihrer judäischen Statthalter Felix, Gallio und Festus, die das NT nennt. Anhand dieser und weiterer Hinweise lassen sich einige Daten ungefähr bestimmen:
- in den 30er Jahren wurde der hellenistische Christ Stephanus in Jerusalem hingerichtet und ein Teil der Urgemeinde nach Samaria vertrieben.
- Zwischen 32 und 35 erfuhr Paulus seine Bekehrung. Zwei volle Jahre später besuchte er erstmals die Jerusalemer Urgemeinde (Gal 1, 11-18).
- Um 44 ließ Herodes Agrippa I. den Zebedaiden Jakobus hinrichten (Apg 12,2).
- Zwischen 44 und 48 fand das Apostelkonzil statt (Gal 2,1; Apg 15).
- Um 49 vertrieb Kaiser Claudius mit den Juden auch eine christliche Gemeinde aus Rom (Suetonnotiz in Verbindung mit Apg 18,2).
- Danach bereiste Paulus seine Gemeinden in Griechenland und hielt sich ab 50 in Korinth auf, wo er um 52 dem Statthalter Gallio vorgeführt wurde (Apg 18,12).
- Zwischen 52 und 56 befand er sich in Ephesus.
- Um 56 wurde er in Jerusalem gefangengenommen, für zwei Jahre in Cäsarea Philippi, danach in Rom nochmals zwei Jahre inhaftiert (ca. 60).
Hinzu kommen außerbiblische Datenangaben:
- Nach dem Testimonium Flavianum und Hegesippus wurde Jakobus der Gerechte, Jesu Bruder und späterer Leiter der Urgemeinde, um 62 vom Hohenpriester Ananos II. hingerichtet.
- Nach der Legende des 1. Clemensbriefs starb Paulus bei der Christenverfolgung durch Nero in Rom um 64.
Der Ursprung: Die Auferstehungserfahrungen
Hauptartikel: Auferstehung Jesu Christi
Die Frage nach einem Entstehungszeitpunkt des Christentums lässt sich nicht beantworten, da der Übergang von Jesus, dessen Denken fest im Judentum verankert war, über seine Bezeichnung als "Messias" (griechisch "Christos"), die missionarische Verkündigung der Jesus-Jünger und anderer bei den Juden und später den Heiden bis hin zur Entstehung der hellenistisch geprägten christlichen Kirche ein fließender ist.
Die Kreuzigung Jesu war für seine ersten Nachfolger, die sich von ihm eine innergeschichtliche Befreiung erhofft hatten (Lk 24,21), eine Katastrophe. Denn sie waren allesamt Juden, für die diese Todesart ein Gottesurteil über Jesu Anspruch, Gottes Reich zu bringen, bedeutete: Ein Gehängter galt als endgültig aus Gottes Volk verstoßen, seine Gegner hatten demnach Recht behalten. Dies wie auch die Gefahr, als Anhänger eines Zelotenführers mit ihm hingerichtet zu werden, macht ihre Flucht plausibel (Mk 14,50). Obwohl die Texte dies nicht ausdrücklich feststellen, ist ihre Rückkehr in ihre Heimat Galiläa spätestens nach Jesu Hinrichtung wahrscheinlich. Damit war die Gemeinschaft, die Jesus unter ihnen gestiftet hatte, beendet.
Bald darauf kam es dennoch in der Hauptstadt Judäas, die als Tempelstadt zugleich Kultzentrum des gesamten Judentums war, zur öffentlichen Verkündigung, Jesus sei der von Gott zur Rettung aller Menschen auferweckte Kyrios Christus (Apg 2,36). Alle Urchristen waren nach dem NT davon überzeugt, dass Jesus selbst diesen Glauben an ihn bewirkte, indem er sich seinen Jüngern nach seinem Tod als (von Gott) „Auferweckter" offenbart habe. Darauf beziehen sich die ältesten Credoformeln des NT, die nur diese eine Aussage variabel formulieren:
- Er ist auferstanden am dritten Tag nach der Schrift... (1 Kor 15,4)
- Der Kyrios ist wirklich auferstanden und dem Simon erschienen... (Lk 24,34)
- Er ist auferstanden, er ist nicht hier. (Mk 16,6)
„Auferstehung" bzw. „Auferweckung" meint im jüdischen Kontext kein geistiges Weiterleben nach dem Tod, sondern eine radikale, leibhafte Neuschöpfung des Toten. Zwar gab es diesen Glauben damals im Judentum auch sonst: Aber noch nie war dergleichen von einem nach jüdischem Gesetz Verurteilten und durch Nichtjuden Gekreuzigten berichtet worden. Wie es zu diesem Wendepunkt im gescheiterten Glauben der Nachfolger Jesu kam, ist historisch umstritten. Denn die endgültige Erweckung zu ewigem Leben bedeutete für Juden ein unbegreifliches Gnadenurteil Gottes; zudem machte das 1. Gebot es ihnen unmöglich, einen Menschen als Gott zu verehren.
Eine leibhafte Begegnung mit Jesus nach dessen Tod hatten nach urchristlichem Zeugnis auch Jakobus, Jesu Bruder, der ihm zu Lebzeiten nicht gefolgt war, und erbitterte Gegner der Urchristen wie Paulus von Tarsus, der weder sein Auftreten noch seinen Tod erlebt hatte. Zudem erstrecken sich Berichte über Visionen vom auferstandenen Jesus über einen längeren Zeitraum: Paulus berichtet von „500 Brüdern", die eine Kollektivvision erfahren hatten und teilweise noch lebten, so dass er sie den Korinthern um 55 als befragbare Augenzeugen präsentierte (1 Kor 15,6).
Solche Visionen hatten nur spätere Christen: Sie ließen sich also nicht unbeteiligt beobachten, sondern veränderten die ganze weitere Lebensorientierung der Betroffenen. Daraus erklärt sich auch die Energie, mit der die erste Christengeneration missionierte, Gemeinden gründete und sich auf das erwartete baldige Weltende einstellte. Daher gehen auch nichtchristliche Historiker meist von irgendeiner realen Erfahrung der ersten Judenchristen aus, die sie zu dieser Überzeugung brachte.
Wem der auferstandene Jesus erschien, ist nach den NT-Berichten jedoch nicht eindeutig. Nach einer alten Augenzeugenliste der Urgemeinde erschien er zuerst dem Simon Petrus, danach den versammelten zwölf Jüngern (1 Kor 15,5f.). Nach dem Johannesevangelium (Jh 20,11-18) dagegen erschien er zuerst der Maria Magdalena; nach Lukas (Lk 24,13-35) zwei unbekannten Jüngern. Keines der Evangelien bestätigt die genannte Kollektivvision. Der als unecht angesehene Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,9-20) bringt die vorliegenden Visionsberichte in eine Abfolge, die der Zeugenliste widerspricht.
In jedem Fall spielten Petrus und einige der Frauen aus Galiläa eine wichtige Rolle dabei, die übrigen Anhänger wieder zusammenzurufen und nach Jerusalem zurückzuholen, um dort eine christliche Gemeinde zu gründen. Deren Leiter sollen nach der lukanischen Darstellung mit dem Kreis der zwölf Erstberufenen identisch gewesen sein. Ihre Autorität führen alle Evangelien auf eine gemeinsame Vision des Auferstandenen zurück, bei der sie ihren universalen Missionsauftrag erhalten haben sollen. Wo diese Vision stattfand, ist ebenfalls widersprüchlich überliefert (Mt/Mk: in Galiläa; Lk/Jh: in Jerusalem). Die Auferstehungserfahrung war der Ausgangspunkt der urchristlichen Lehre.
Der Passionsbericht
Die Auferstehungserfahrung war der Kern- und Ausgangspunkt der urchristlichen Lehre, und konfrontierte Jesu Anhänger zunächst mit der Frage nach dem Sinn seines Todes, und eröffnete ihnen zusätzlich eine neue Perspektive, diesen zu deuten. Mithilfe der Erinnerung an Jesu Eigenverkündigung wurde seine Kreuzigung als stellvertretender Sühnetod, als ultimative Übernahme des Endgerichts Gottes und gnädige Einladung zur Umkehr gedeutet. Deshalb sind Kreuz und Auferstehung (Auferweckung) in allen urchristlichen Glaubensbekenntnissen eng miteinander verbunden. Sie bilden den gemeinsamen Hauptinhalt der nachösterlichen Verkündigung und apostolischen Lehre.
Von diesem Kristallisationskern aus wurde offenbar bald auch das vorherige Leben Jesu auf das zentrale Heilsereignis, seinen Tod und seine Auferstehung, hin nacherzählt. So entstand wohl schon im ersten Jahrzehnt der vormarkinische Passionsbericht in Jerusalem, den der gleichnamige Evangelist in sein Markusevangelium einbaute. Es gilt als das älteste der vier Evangelien des NT, das ihnen ihre Grundstruktur vorgab.
Urchristliche Gemeinden in Galiläa und Syrien
Unabhängig davon müssen in Galiläa ebenfalls sehr früh christliche Gemeinden existiert haben. So fand man in Kafarnaum eine frühchristliche Pilgerstätte. Sie wird mit dem ehemaligen Wohnhaus des Petrus identifiziert, wo die ersten Jesusanhänger sich trafen. Die Visionen vom Auferstandenen, auf die das älteste Evangelium nach Markus hinweist (Mk 16,7) und die das Matthäusevangelium dann berichtet (Mt 28,9f.16-20), sollen in Galiläa stattgefunden haben. Galiläische Jesusanhänger sammelten auch jene Reden, Streitgespräche und Gleichnisse Jesu, die erst mündlich, dann schriftlich tradiert und von den synoptischen Evangelisten Matthäus und Lukas aufgenommen wurden (Logienquelle).
In Damaskus soll schon zur Zeit der Bekehrung des Paulus (um 32-35) eine Gemeinde existiert haben. Sie kann dort im Zuge der Verfolgung der Jerusalemer Gemeinde nach der Hinrichtung des Urchristen Stephanus durch Flucht einiger seiner Anhänger entstanden sein. Aus Syrien stammt wahrscheinlich auch das etwa gleichzeitig mit der schriftlichen Logienquelle entstandene apokryphe Thomasevangelium (um 50).
Der Missionsauftrag
Die Aufgabe der Jünger und Apostel war es nun, nicht nur die Lehren des Wanderpredigers aus Nazaret, sondern auch die »frohe Botschaft« (Evangelium) von seiner Auferstehung zu verkünden. Die erste Gemeinde, die sich diesem Auftrag zur Mission verpflichtet sah, war jene in Jerusalem. Hier bildeten die so genannten »Säulen« Petrus, Jakobus und Johannes (Gal 2,9; Mk 5,37 u.a.) das Zentrum der jüdischen Bewegung. Ihr erster Sprecher wurde Petrus, der später vermutlich von Jakobus abgelöst wurde. Petrus könnte dann über Syrien nach Kleinasien gelangt sein, wo in Antiochia eine weitere große Gemeinde entstanden war, und schließlich nach Rom, wo vermutlich schon in den 40er Jahren eine Christengemeinde entstanden war, an die auch Paulus seinen Römerbrief adressierte.
Der Missionsauftrag wurde zunächst unter den Juden ausgeführt und später auf die Heiden ausgeweitet.
Sowohl in der Jerusalemer Urgemeinde als auch den hinzukommenden Gemeinden und Zirkeln war die Erwartung der Wiederkunft (Parusie) Jesu bestimmend, den seine Anhänger jetzt im jüdischen Sinne als Messias sahen. Auch bestanden alle frühen Gemeinden aus Judenchristen und sahen sich als Teil des Judentums, wie die Übernahme des mosaischen Gesetzes und der Tempeldienst der Jerusalemer veranschaulichen. Daneben gab es aber auch griechisch sprechende Judenchristen, die sogenannten Hellenisten, die sich kritisch zum Tempel äußerten, und wohl nicht zuletzt deshalb von den jüdischen Machthabern verfolgt wurden. Selbst innerhalb der christlichen Gemeinde bekamen sie wirtschaftliche Probleme, da sie keinen Zugang hatten zur Armenversorgung des Tempels: Dies war der Hintergrund der Wahl der sieben Diakone (Apg 6).
Das Apostelkonzil und das Ende der Urgemeinde
Gegen den anfänglichen Widerstand konservativer judenchristlicher Kreise in der Jerusalemer Urgemeinde wurde im Verlauf eines Apostelkonzils (zwischen 44 und 49) vereinbart, dass die von der antiochenischen Gemeinde ausgehende prinzipiell torafreie Heidenmission als Konsens des Urchristentums akzeptiert wird.
Mit diesem Ereignis ist im Rückblick die Entstehung einer neuen Weltreligion eingeleitet worden. Eine Loslösung des christlichen Glaubens vom Alten Bund und den religiösen Traditionen des Judentums schloss gerade Paulus als Hauptvertreter der Heidenmission jedoch kategorisch aus (Röm 9-11).
Mit dem Tod des Jakobus (62) verlor die judenchristlich geprägte Jerusalemer Urgemeinde ihre Führungsrolle im Urchristentum. Beginnend mit der Bekehrung von Diaspora-Juden (Gal 2,9), gewannen überwiegend heidenchristliche Gemeinden außerhalb Palästinas wie Antiochia rasch an Zahl und Bedeutung. Sie verbreiteten die neue Lehre ihrerseits im gesamten Mittelmeerraum. Paulus und seine Helfer prägten die Theologie dieser neuen Gemeinden.
Am jüdischen Aufstand von 66 verweigerten auch die Jerusalemer Christen die Beteiligung. Bei dem weiteren Aufstand Simon Bar Kochbas (132) musste die Urgemeinde deshalb in das ostjordanische Pella fliehen. Mit dem Scheitern dieses letzten jüdischen Aufstandsversuchs 135 war auch ihre Existenz beendet. Die von ihr beeinflussten Gemeinden in Syrien und im Ostjordanland galten einigen der maßgebenden Kirchenväter im 2. Jahrhundert bereits als "Häresie" des Christentums. Spätestens mit der Entstehung des Islam gingen die letzten Reste des nahöstlichen Judenchristentums unter.
Herausbildung kirchlicher Ämter
Um so sichtbarer wurden die kleinen (heiden)christlichen Gemeinden. Von ihren Problemen und Streitigkeiten berichten die kanonisierten wie auch die nicht kanonisierten Briefe der ersten Christen. Paulus selbst schrieb mit die ersten dieser Briefe, die schon auf die Zeit von 50 bis 64 datieren. Klemens von Rom, der 99 dem Märtyrertod starb, schrieb mit die ersten Briefe, die nicht mehr in das Corpus des Neuen Testaments aufgenommen wurden. Innerhalb dieser Zeitspanne verschwanden dann auch zunehmend die Apostel, Propheten und Evangelisten (1 Clem 37,3) als Würdenträger und Autoritäten. Und auch, wenn Clemens noch forderte: »Haltet euch an die Heiligen« (1 Clem 46,2), wurde bereits von Paulus vor so genannten »falschen Heiligen« gewarnt (vgl. Eph 7,1; Apg 15,1).
Die Praxis der brüderlichen Belehrung (Mt 18 ,15-18) verschob sich so auf die »Erstlinge«, die Erstgetauften einer Gemeinde, und schließlich die ersten sich herausbildenden Ämter: Episkopen (Bischöfe) (vgl. Eph 4,1), Presbyter und Diakone ersetzten die charismatischen Ämter und konsoldierten die weiterhin autonomen Gemeinden. Dabei war in dem Versuch, die Einmaligkeit Jesu in der irdischen Hierarchie abzubilden, jeweils nur ein Bischof vorzufinden. Diesem monarchanischen Bischof unterstanden zur Hilfe bei der Liturgie die (oft an der Zahl der Apostel orientierten: zwölf) Presbyter. Ein Presbyter hier noch ein Ehrenamt und wurde erst später mit eigenen pfarrähnlichen Verpflichtungen versehen. Die praktischen Arbeiten oblagen dann den Diakonen, von denen eine bestimmte Anzahl nicht bezeugt ist.
Die Herausarbeitung von Hierarchie und Gemeindestruktur erwies sich als um so notwendiger, da sich die Erwartung vom nahen Ende der Welt und der Widerkunft Christi (Parusie), von denen die Jünger noch geprägt schienen, nicht erfüllte. Die Phase der sog. »Parusieverzögerung« wurde nun aber nicht als Ende der eschatologischen Perspektive gesehen, sondern als eine verlängerte Zeit für die Vorbereitungen verstanden. Die gepflegten Werte sollten dies in »Tat und Wahrheit« belegen (1 Joh 3,18): Der Dienst an der und für die Gemeinde wurde hervorgehoben wie auch die Gastfreundschaft, das Beten und Fasten. Das Liebesmahl (Joh 13,34) und der Liebesdienst (Agape) gewann so erweiterte Bedeutung.
Gerade in dieser Kombination von asketischen Vorschriften, die sich auf die Christen selbst bezogen und auch vor deren eigenem Tod (Martyrium) nicht brachen, und der praktischen Nächstenliebe, die sich am Dienst an den Armen, Kranken und Verlassenen, den Witwen und Waisen und den Sklaven vollzog, bereiteten sich nicht nur die Anhänger der neuen Religion auf das nahe Ende vor, sondern gewann diese Gemeinschaft auch nach außen ihre enorme Anziehungskraft. Schon Paulus hatte dies im Ansatz erkannt und daher für die Anfänge einer lokalen Mission nicht die größeren Städte selbst, sondern deren arme Vororte bevorzugt.
Als in der Zeit der Christenverfolgungen, die unter Domitian von 81 bis 96 ihren vorläufigen Höhepunkt erlangten, die Mission schwieriger wurde, konnte daher das Gemeindechristentum insgesamt überleben, wenn nicht erstarken. Die nun vermehrt Verfolgten und Getöteten wurden als Christus Nachfolgende anerkannt und verehrt und eröffneten dem jungen Christentum die ebenso wichtige wie problematische Perspektive einer vorweggenommenen »Endzeit« im persönlichen Bekennertod. Sollte später erhobene Forderung nach nahezu obsessivem Martyrium aber auch innerkirchlich zu Abgrenzung herausfordern, fand die Leidensbereitschaft der Christen außerhalb ihrer Gemeinden viel Anerkennung.
Mit dem Tod des Johannes um etwa 100 endet dann die Phase des Urchristentums. Johannes selbst hatte noch den logos in die christliche Lehre eingeführt und so für die kommenden Probleme ebenso den Boden bereitet, wie für die Akzeptanz, die die dem (mittleren) Platonismus nun offene Lehre auch in gehobenen Kreisen bald finden sollte. Die so genannte Nachapostolische Zeit des 2. Jahrhunderts, die nun in den Bereich der Geschichte der Alten Kirche gerechnet wird, sollte dann bestimmt sein durch die Frage der Stellung des Sohnes (mit den Extrema Subordination oder Ditheismus), mit der sich Ignatius von Antiochien auseinandersetzte, von der Auseinandersetzung mit dem Gnostizismus, dem Marcionitismus und dem Montanismus und von der Konsolidierung der allmählich über die Gemeindegrenzen hinaus wachsende und sich darüber hinaus auch als solche begreifenden Kirche.
Literatur
- Stefan Alkier: Das Urchristentum: zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin. Mohr, Tübingen 1993. ISBN 3-16-146057-X
- Jürgen Becker: Das Urchristentum als gegliederte Epoche. Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 1993. ISBN 3-460-04551-5
- Jürgen Becker (Hrsg.): Die Anfänge des Christentums. Alte Welt und neue Hoffnung. Kohlhammer, Stuttgart 1987. ISBN 3-17-001902-3
- Klaus Berger: Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments. Francke, Tübingen-Basel 1994. ISBN 3-8252-8082-9, ISBN 3-7720-1752-5
- Hans Conzelmann: Geschichte des Urchristentums. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 61989. ISBN 3-525-51354-2
- Karl Martin Fischer: Das Urchristentum. Teil 1. Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1985. ISBN 3-374-00295-1
- Hubert Frankemölle: Frühjudentum und Urchristentum: Vorgeschichte – Verlauf – Auswirkungen (4. Jahrhundert v.Chr. bis 4. Jahrhundert n.Chr.). Stuttgart: Kohlhammer 2006. ISBN 978-3-17-019528-8
- Joachim Gnilka: Die frühen Christen. Ursprünge und Anfang der Kirche. Herder, Freiburg i.B. - Basel - Wien 1999. ISBN 3-451-27094-3
- Leonhard Goppelt: Die apostolische und nachapostolische Zeit. In: Die Kirche in ihrer Geschichte. Band 1, Lieferung A. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 21966.
- Gerd Lüdemann: Das frühe Christentum nach der Tradition der Apostelgeschichte. Ein Kommentar. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987. ISBN 3-525-53578-3
- Franz Josef Ortkemper u.a. (Hrsg.): Gemeindestrukturen im Neuen Testament. Bibel und Kirche. Stuttgart 56, 2001, Heft 4, S. 193ff. (Katholisches Bibelwerk Stuttgart) ISSN 0006-0623 (mit mehreren Beiträgen zum Thema)
- Ludger Schenke: Die Urgemeinde. Kohlhammer, Stuttgart 1990. ISBN 3-17-011076-4
- Wilhelm Schneemelcher: Das Urchristentum. Kohlhammer, Stuttgart 1981. ISBN 3-17-007242-0
- Walter Schmithals: Theologiegeschichte des Urchristentum - eine problemgeschichtliche Darstellung. Kohlhammer, Stuttgart 1994. ISBN 3-17-012965-1
- Gerd Theißen: Die Religion der ersten Christen - eine Theorie des Urchristentums. Kaiser, Gütersloh 32003. ISBN 3-579-02623-2
- François Vouga: Geschichte des frühen Christentums. Francke, Tübingen - Basel 1993. ISBN 3-8252-1733-7, ISBN 3-7720-2223-5
- Nicholas Thomas Wright: The New Testament and the People of God (Christian Origins and the Question of God). Augsburg Fortress Publishers, Minneapolis 1996. ISBN 0-8006-2681-8 (Review und Inhalt (englisch))
Siehe auch
- Jerusalemer Urgemeinde
- Alte Kirche, Apostelgeschichte, Kirchengeschichte
- Kanon des Neuen Testaments, Märtyrer, Patristik, Theologie