Nelkenrevolution

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Die Nelkenrevolution (portugiesisch Revolução dos Cravos/? oder einfach 25 de Abril) bezeichnet den linksgerichteten Aufstand großer Teile der Armee in Portugal am 25. April 1974 gegen die autoritäre Diktatur des sogenannten Estado Novo. Sie verdankt ihren Namen den roten Nelken, die den aufständischen Soldaten – im Rahmen des allgemeinen Volksfestes und der Freude angesichts der Ereignisse – in die Gewehrläufe gesteckt wurden. Sie verlief beinahe unblutig – es gab vier Tote, als verbleibende regimetreue Truppen vor dem Sitz der portugiesischen Geheimpolizei auf unbewaffnete Demonstranten feuerten – und eröffnete den Weg zur demokratischen Dritten Republik.

Vorgeschichte

Erinnerungsinschrift an die Revolution

In Portugal kam 1926 eine Militärjunta unter General Carmona durch einen Putsch an die Macht. Mehr als Spanien bemühte sich Portugal besonders ab 1932 unter Carmonas Nachfolger Salazar um eine Distanzierung vom italienischen Faschismus und vom deutschen Nationalsozialismus. 1933 baute Salazar seine Macht durch eine neue Verfassung und die Abschaffung des Parlamentarismus aus. Portugal verbündete sich im Zweiten Weltkrieg mit Spanien zum Bloco Ibérico. Das autoritäre Regime des Estado Novo (deutsch: Neuer Staat) blieb von den Alliierten unangetastet und bestand fort.

1949 wurde Portugal Gründungsmitglied der NATO. Damit unterstrich Portugal seine antikommunistische Haltung im Kalten Krieg.

1968 wurde Salazar von Marcelo Caetano abgelöst. Am Charakter der Diktatur änderte dies nur wenig. Sie ähnelte der in Spanien unter Franco, trotz einer leichten Verbesserung unter Caetano. So gab es keine freien Gewerkschaften, sondern nur nach Berufsständen organisierte Scheingewerkschaften.

Begleitet von Maßnahmen der Repression wie Pressezensur und Folter versuchte Salazar ein System zu verwirklichen, das als Quinta (ein gegen äußere Einflüsse abgeschlossenes Landgut) bezeichnet wurde. Es handelte sich dabei um eine statisch-geschlossenen Gesellschaft, die in einem paternalistischen, katholisch inspirierten, vormodernen Ständestaatsmodell organisiert war. Dabei sollte nur die Elite herrschen (daher der Schlachtruf „O povo é quem mais ordena“ (deutsch etwa: „Das Volk regiert/​befiehlt“) aus dem Lied „Grândola, Vila Morena“), die große Masse der Bevölkerung wurde bewusst in Armut, Unwissenheit und Rückständigkeit gehalten, um den Portugiesen die „Übel“ der Moderne zu ersparen. Aus dieser Geisteshaltung wird die Abwehr gegen moderne Entwicklungen wie Industrialisierung, Tourismus und Bildung verständlich. Die vierjährige Grundschule für das Volk verstand Salazar als Zugeständnis. Über ein Drittel des Volkes waren unter Salazar Analphabeten.

Dem Rechtsanwalt Peter Benenson kam 1961 die Idee zur Gründung von Amnesty International, als er von dem Fall zweier portugiesischer Studenten las, die in einem Lissaboner Restaurant kritische Worte über Diktator Salazar geäußert hatten, daraufhin verhaftet und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden waren.

Im Februar 1974 veröffentlichte der stellvertretende Generalstabschef António de Spínola sein Buch Portugal e o Futuro (Portugal und die Zukunft), das besonders in militärischen Kreisen Furore machte. Spínola analysierte darin Portugals „systemimmanente Diskrepanz“ gegenüber den anderen westeuropäischen Staaten, die es in eine wirtschaftliche und politische Isolation gebracht habe. Die Zukunft Portugals hänge vor allem vom Ausgang des Kolonialkriegs ab, der zu viele Menschenleben koste und bis zu 50 % des Staatshaushaltes verschlinge, militärisch aber nicht zu gewinnen sei. Spínola schlug eine „neue nationale Strategie“ vor, in der die Teilnahme des Volkes am politischen Willensbildungprozess und das Recht der Kolonien auf Selbstbestimmung gewährleistet sein sollten.

Für die „Bewegung der Streitkräfte“ („Movimento das Forças Armadas“ kurz: MFA) war dieses Buch das Signal zum Aufbruch. Es kritisierte die Kolonialpolitik des Caetano-Regimes durch den zweiten Mann der Militärhierarchie. Erst dadurch erhielt das MFA größeren Zulauf in der Bevölkerung.[1]

Caetano inszenierte Anfang März 1974 eine Vertrauenskundgebung höherer Offiziere, der Spínola und Generalstabschef Francisco da Costa Gomes demonstrativ fernblieben. Daraufhin wurden sie ihrer Ämter enthoben. Gerüchte über eine von der Staatsschutzpolizei DGS geplante Verhaftung von 22 Offizieren beschleunigten die Putschvorbereitungen des MFA.

Verlauf

Wandgemälde

Das Signal: Grândola, Vila Morena

Am 24. April 1974 um 22:50 Uhr spielte der portugiesische Rundfunk das Liebeslied E depois do adeus (Nach dem Abschied) von Paulo de Carvalho. Dies war das verabredete Signal an die aufständischen Truppen.

Als Revolutionslied berühmt wurde aber ein anderes Lied: Grândola, Vila Morena (Grândola, braungebrannte Stadt). Gegen 0:30 Uhr am 25. April las der Sprecher des katholischen Rundfunks Rádio Renascença die erste Strophe des von der Diktatur verbotenen Liedes, danach erklang das Lied selbst, gesungen von dem antifaschistischen Protestsänger Zeca Afonso.

Für alle militärischen Einheiten, die sich zur „Bewegung der Streitkräfte“ bekannten, waren die Verse das vereinbarte Zeichen zum bewaffneten Aufstand. Knapp 18 Stunden später hatte die „Bewegung der Streitkräfte“ Westeuropas älteste Diktatur gestürzt. Die Bewegung bestand vornehmlich aus jungen Offizieren der unteren Ränge, darunter Salgueiro Maia. Seit Beginn der Kolonialkriege in den afrikanischen Provinzen (1961) waren auch einfache Soldaten aus dem Volk zu Offizieren ausgebildet worden. Diese Männer waren es, die den diensthabenden Kommandanten festsetzten und über die Autobahn nach Lissabon fuhren, um Ministerien, Rundfunk- und Fernsehsender sowie den Flughafen zu besetzen. Die Mehrheit der angerückten Regierungstruppen lief zu den Aufständischen über.

Gewehre und Nelken

Demonstration in Porto 1983 zum Gedenktag des 25 de Abril

Tausende von Lissabonern säumten den Weg der Kolonne, jubelten den Befreiern zu, liefen neben den Armeefahrzeugen her, sprangen auf. Die ersten roten Nelken, die der Revolution den Namen geben sollten, tauchten auf, leuchteten an den Uniformen der Soldaten und aus ihren Gewehrläufen. Die rote Nelke war ein internationales Symbol der sozialistischen Arbeiterbewegung, deren Ideen die portugiesische Revolution maßgeblich prägten. Marcelo Caetano flüchtete sich unter dem Druck der Ereignisse hinter die Mauern der Kaserne der bewaffneten Polizeistreitkräfte, der Guarda Nacional Republicana (GNR), am Largo do Carmo. Die Belagerung dauerte bis zum Abend, bis der Diktator sich bereit erklärte, die Regierung an General Spínola, den ehemaligen Gouverneur der Provinz Guinea-Bissau, zu übergeben. Dies war nicht der Wunschkandidat der Aufständischen und die zornige Bevölkerung forderte die vollständige Erhebung. Der unblutigen Übergabe wegen akzeptierten die MFA-Führer um Otelo Saraiva de Carvalho dieses Angebot aber.

Bei der Erstürmung der Stützpunkte der Geheimpolizei PIDE/​DGS durch die Bevölkerung fielen Schüsse auf die Heranstürmenden. Hierbei starben vier Menschen. Aufständische verharrten dennoch mit „Morte à PIDE“- und „Assassinos“-(Mörder)-Rufen vor dem Gebäude. Am Morgen ergaben sich die Polizisten. Das Archiv, die Folterwerkzeuge und das moderne Arsenal fielen in die Hände der Aufständischen.

Neben der Tafel mit dem Straßennamen „Rua António Maria Cardoso“ brachten die Aufständischen ein zweites Schild an: „Avenida dos Mortos pela PIDE“ (Straße der Opfer der PIDE), was sich sowohl auf die Opfer vom Vorabend bezog als auch auf die zahlreichen Ermordeten um den oppositionellen General Humberto Delgado (er wurde 1965 bei Olivença von der PIDE ermordet).

Die Aufständischen spürten viele PIDE-Agenten und Informanten in den öffentlichen Einrichtungen, Universitäten und Schulen auf. Der letzte Chef der Geheimpolizei, Major Silva Pais, wurde in seiner Wohnung verhaftet.

In der Nacht zum 27. April wurden die politischen Gefangenen aus dem PIDE-Kerker in Caxias befreit. Ihre Verwandten und Freunde empfingen sie auf der Straße. Jahrelang waren die Gefangenen dort ohne Gerichtsverfahren Folter, Isolationshaft und Demütigung ausgesetzt.

Bekannt geworden ist das Foto der revolutionsfreundlichen Abendzeitung „República“ von Hermínio da Palma Inácio, wie er nach der Befreiung in einer Gebärde der Freude und des Triumphs beide Arme emporreckt. Der Gründer der Widerstandsgruppe LUAR (Liga für revolutionäre Einheit und Aktion) war einer der populärsten und vom Regime gefürchtetsten Widerstandskämpfer. Er entführte beispielsweise 1961 ein Flugzeug, um Flugblätter abzuwerfen.

Noch vor dem 1. Mai kehrten viele Verbannte und politisch Verfolgte aus dem Exil zurück. Mário Soares (Sozialistische Partei) kehrte aus Paris ebenso zurück wie Álvaro Cunhal von der Kommunistischen Partei (PCP). Dieser hatte 13 Jahre in PIDE-Kerkern verbracht, bis ihm 1960 die Flucht aus Peniche gelang. Seitdem hatte er in Moskau und Prag gelebt.

Aus dem brasilianischen Exil, in dem er seit 1958 lebte, kam der bekannte Mathematiker und republikanische Präsidentschaftskandidat von 1951, Rui Luís Gomes. Aus Algerien kamen zwei bekannte und tatkräftige Widerstandskämpfer, Fernando Piteira Santos und der Dichter Manuel Alegre, die die Patriotische Front für Nationale Befreiung (FPLN) mitbegründet und über den Freiheitssender Voz da Liberdade (Stimme der Freiheit) die Antifaschisten in der Heimat ermutigt hatten.

Wandgemälde

Forderungen

Sofortiges Ende des Kolonialkrieges – Generalamnestie für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer lauteten die Kundgebungsparolen von Vereinigungen, die für rund 100.000 Fahnenflüchtige und Kriegsdienstverweigerer sprachen, die vielfach ins Exil gegangen waren. Das Amnestiegesetz wurde am 1. Mai 1974 erlassen, das Ende des Krieges ließ noch auf sich warten, doch erste Schritte waren eingeleitet.

Die Zeitung República nahm keine Rücksicht mehr auf die Zensur und berichtete ausführlich. Am Nachmittag des 26. April zog ein Demonstrationszug vor das „República“-Haus und dankte der Redaktion durch das Singen der Nationalhymne für ihren unermüdlichen Kampf um Meinungs- und Pressefreiheit.

Die portugiesischen Provinzen Moçambique (Mosambik) und Angola wurden am 25. Juni bzw. 11. November 1975 unabhängig.

Gedenkstätte für den 25 de Abril in Lissabon

Der 1. Mai 1974 in Lissabon

Am 1. Mai gehörte die Straße dem Volk. Die Rote Nelke wurde in Portugal zum Symbol der Freiheit. Die zum Schutz der ersten freien Maikundgebung abkommandierten jungen Infanteristen und Marinesoldaten steckten sie auf die Gewehrläufe. Der Demonstrationszug glich einer Mischung aus Volksfest und politischer Manifestation.

Der Zug ging zum Lissabonner Sportstadion, das seitdem den Namen „Estádio 1º de Maio“ trägt. Mehr als 100.000 Portugiesen wollten dort die Befreiung feiern. Nach den Gewerkschaftern sprachen Mário Soares von den Sozialisten und Álvaro Cunhal, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, die demonstrativ gemeinsam ins Stadion einzogen.

Mário Soares betonte, dass die Kommunistische Partei in der Zeit des Faschismus die meisten Opfer habe bringen müssen, und rief aus: „Hier und heute haben wir den Faschismus endgültig besiegt. Dieser Sieg ist der Sieg des Volkes.“

Soares wie Cunhal verlangten eine Regierung von der Mitte über die Sozialisten bis zu den Kommunisten. „Unidade“ (Einheit) war die Parole der Stunde. Die Masse antwortete mit dem berühmt gewordenen Ruf: „O povo unido jamais será vencido!“ (deutsch: „Das vereinigte Volk wird niemals wieder besiegt werden!“)

Im Gegensatz zu Militärputschen in anderen Ländern hatte der Aufstand der Offiziere in Portugal durch diese Massenbekundungen der Bevölkerung eine Legitimation erhalten. Die Verfilmung der Ereignisse durch Maria de Medeiros in Nelken für die Freiheit (2000) zeigte die Zusammenhänge anschaulich.

Auswirkungen auf das portugiesische Kolonialreich

Die Nelkenrevolution beinhaltete auch eine Absage an die blutigen Kolonialkriege, die Portugal in Guinea-Bissau, Angola und Mosambik führte. In schneller Folge wurden anschließend Verträge mit den jeweiligen Unabhängigkeitsbewegungen abgeschlossen, die einen sofortigen Waffenstillstand und das Versprechen auf baldiges Ende der Kolonialherrschaft beinhalteten. In Guinea-Bissau wurde die Unabhängigkeit noch im selben Jahr umgesetzt. Angola und Mosambik, São Tomé und Príncipe und Kap Verde folgten 1975.

Filme

  • Capitães de Abril (wörtlich: Hauptmänner des April, dt. Fassung: Nelken für die Freiheit, R.: Maria de Medeiros, POR 2000, ausgestrahlt ARTE 21. April 2003, 20.45h-22.45h).
  • Cravos de Abril ("Nelken des April", R: Ricardo Costa, POR 1999)
  • A Revolução de Abril no Olhar de Carlos Gil ("Die April-Revolution, gesehen von Carlos Gil", R: Ivan Dias, POR 2010)
  • Nachtzug nach Lissabon (2004)

Literatur

  • Raquel Varela: Die Arbeiterbewegung und die Rolle der Soldaten in der portugiesischen Nelkenrevolution, in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Heft III/2011.
  • Klaus Steiniger: Portugal im April. Chronist der Nelkenrevolution. Verlag Wiljo Heinen, Berlin, 2011, ISBN 978-3-939828-62-4 (466 Seiten, 60 schwarz-weiß Fotos).
  • Dominique de Roux: Le Cinquième Empire, éditions Belfond, 1977. Editions du Rocher, 1997
  • Jaime Semprun: La Guerre sociale au Portugal, éditions Champ libre, 1975
  • Charles Reeve, Claude Orsoni et al: Portugal, l'autre combat, éditions Spartacus, 1975
  • Yves Léonard: La Révolution des œillets, éditions Chandeigne, 2003
  • Charles Reeve: Les œillets sont coupés, Paris-Méditerranée, 1999
  • Svenja Schell: Die Ursachen und Folgen der portugiesischen Nelkenrevolution, 2007
  • Manuel von Rahden: Militär und Parteien während der Nelkenrevolution (1974–75), in: Marko Golder, Manuel von Rahden: Studien zur Zeitgeschichte Portugals. Hamburger Ibero-Amerika Studien Bd. 10, LIT Verlag, 1998, Seite 107–218
  • Willi Baer, Karl-Heinz Dellwo, 25. April 1974 – Die Nelkenrevolution, In: Willi Baer, Karl-Heinz Dellwo (Hrsg.): Bibliothek des Widerstands. Bd. 15, Laika-Verlag, Hamburg 2012, ISBN 9783942281850.
Commons: Carnation Revolution – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Zur Rolle der Armee vgl. Raquel Varela: Die Arbeiterbewegung und die Rolle der Soldaten in der portugiesischen Nelkenrevolution, in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Heft III/2011.