Fluchtgeschwindigkeit (Raumfahrt)

Begriff aus der Raumfahrt
(Weitergeleitet von Fluchtbahn)

Beim Erreichen der Flucht- oder Entweichgeschwindigkeit ist die kinetische Energie eines Probekörpers gerade ausreichend, um dem Gravitationspotential eines Himmelskörpers ohne weiteren Antrieb – ballistisch – zu entkommen. Tabellierte Werte beziehen sich meist auf die Oberfläche von Himmelskörpern als Ausgangspunkt. Nicht berücksichtigt werden gegebenenfalls die Luftreibung sowie der Geschwindigkeitsbeitrag durch die Rotation des Himmelskörpers und Beiträge anderer Körper zum Gravitationspotential; sie sind in der Praxis natürlich zu beachten. Vereinfacht hängt die Fluchtgeschwindigkeit bei einem als kugelsymmetrisch angenommenen Himmelskörper nach dem Schalentheorem lediglich von dessen Masse und Radius ab.

Die Fluchtgeschwindigkeit von der Erde heißt auch zweite kosmische Geschwindigkeit – die erste ist die Kreisbahngeschwindigkeit eines Orbitalflugs im niedrigen Orbit um die Erde. Der Begriff der kosmischen Geschwindigkeit mit der Bedeutung sehr großer Geschwindigkeit entstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit Meteoren.[1] Zur Zeit des Wettlaufs zum Mond wurden die kosmischen Geschwindigkeiten gelegentlich auch astronautische genannt.[2]

Kreisbahngeschwindigkeit

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Bei horizontalem Abschuss fällt ein Körper auf die Erdoberfläche zurück, wenn die Fluchtgeschwindigkeit nicht erreicht wird (A bzw. B).
Mit der 1. kosmischen Geschwindigkeit beschreibt der Körper eine Kreisbahn um die Erde und wird ein Satellit (C), mit etwas höherer Geschwindigkeit wird eine ellipsenförmige Umlaufbahn erreicht (D).
Mit der 2. kosmischen Geschwindigkeit des Raumflugkörpers öffnet sich die Bahn zu einer Keplerparabel (E).

Wenn sich ein Körper mit der Geschwindigkeit   auf einer Kreisbahn mit Radius   um das Zentrum der Erde (oder eines anderen Himmelskörpers) bewegt, beträgt seine Zentripetalbeschleunigung  . Im freien Fall wird sie ausschließlich von der Gravitation des Planeten verursacht, also:

 

Dabei ist   die Gravitationskonstante und   die Masse des Planeten. Die Kreisbahngeschwindigkeit ergibt sich durch Umstellen der obigen Gleichung zu:

 

Für die Erde ist   3,986·1014 m3/s2 und der mittlere Radius 6371 km. Damit ergibt sich die Kreisbahngeschwindigkeit als erste kosmische Geschwindigkeit zu   = 7,91 km/s. Dieser Wert hat keine praktische Bedeutung, da solche Geschwindigkeiten innerhalb der Erdatmosphäre nicht aufrechtzuerhalten sind. Der Flugkörper würde durch den Luftwiderstand stark abgebremst und durch die dabei entstehende Hitze zerstört.

In etwa 180 km Höhe, also etwa an der Grenze der Erdatmosphäre, beträgt die Kreisbahngeschwindigkeit etwa 7,8 km/s (28.080 km/h).

Bei einem Raketenstart spielt auch die lokale Rotationsgeschwindigkeit der Erde eine Rolle, da sie die durch die Rakete aufzubringende Geschwindigkeit reduzieren kann. Maximal ist dieser Effekt bei einem Start am Äquator in Richtung Osten. Unter dieser Bedingung liefert die Erdrotation einen Beitrag von etwa 0,46 km/s.

Fluchtgeschwindigkeit

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Fluchtgeschwindigkeiten an der Oberfläche
Himmels­körper   am Äquator
in km/s
Merkur 004,3
Venus 010,2
Erde 011,2
Mond 002,3
Mars 005,0
Phobos 000,011
Deimos 000,006
Ceres 000,5
Jupiter 059,6
Saturn 035,5
Uranus 021,3
Neptun 033,5
Pluto 001,1
Sonne 617,4
Sonne
im Erdabstand[3]
042,1
Ereignishorizont
eines Schwarzen Loches
Licht-
geschwindigkeit

Die Fluchtgeschwindigkeit ist die Mindestgeschwindigkeit für eine offene, nicht zurückkehrende Bahn. Die kinetische Energie eines Probekörpers ist dann gleich seiner Bindungsenergie im Gravitationsfeld, also:

 

Umstellen nach   ergibt:

 

Die Fluchtgeschwindigkeit ist also um den Faktor   größer als die erste kosmische Geschwindigkeit.

Für Himmelskörper mit konstanter mittlerer Dichte   und Radius   skaliert   mit  ,   also linear mit  . Nebenstehende Tabelle enthält Beispiele.

Alternative Berechnung der Fluchtgeschwindigkeit aus der Oberflächengravitationsbeschleunigung g und dem Radius des Objektes   ohne Berücksichtigung der Rotationsgeschwindigkeit des Objektes:  

In dem Wert 11,2 km/s für die Erde, der zweiten kosmischen Geschwindigkeit, ist wieder die Rotationsgeschwindigkeit der Erde nicht berücksichtigt. Auch muss für Flugbahnen zum Mond die Fluchtgeschwindigkeit nicht vollständig erreicht werden, denn L1 liegt nicht bei  .

Umgekehrt kann man aus der Geschwindigkeit, die ein Körper (ohne nennenswerten eigenen Antrieb) beim Erreichen der Erde besitzt, auch schließen, in welcher Entfernung der Körper begonnen hat, in Richtung Erde zu beschleunigen (wobei man allerdings die Geschwindigkeit der Erde auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne berücksichtigen muss): Bei den Apollo-Missionen betrug die Geschwindigkeit beim Wiedereintritt 10,8 km/s. Im Falle der Apollo-Mission wäre ein Wert höher (oder gleich) als 11,2 km/s nicht möglich, da die Raumkapsel sonst aus einer viel größeren Entfernung hätte „Anlauf“ nehmen müssen (nämlich  ). Ähnlich kann man die „Herkunft“ von Kometen oder Meteoriten eingrenzen: Die Fluchtgeschwindigkeit (von der Sonne) auf der Erdbahn beträgt etwa 42 km/s. Mit dieser Geschwindigkeit kreuzen Kometen vom Rand des Sonnensystems die Erdbahn. Eine höhere Geschwindigkeit deutet auf einen interstellaren Ursprung hin.

Geometrische Bedeutung

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Wenn ein Flugkörper, der sich auf einer Kreisbahn um einen Planeten befindet, einen Geschwindigkeitsschub in Flugrichtung erhält, so verformt sich seine Flugbahn zu einer Ellipse. Wird die Geschwindigkeit weiter erhöht, steigt die Exzentrizität der Ellipse an. Das geht so lange, bis der ferne Brennpunkt der Ellipse unendlich weit weg ist. Ab dieser Geschwindigkeit ist der Körper nicht mehr auf einer geschlossenen Bahn, sondern die Ellipse öffnet sich zu einer Parabelbahn. Dies geschieht genau dann, wenn der Flugkörper die zweite kosmische Geschwindigkeit erreicht.

Während sich der Körper von dem Planeten entfernt, wird er von dessen Gravitation weiterhin abgebremst, sodass er erst in unendlicher Entfernung zum Stillstand kommt. Wird hingegen die zweite kosmische Geschwindigkeit überschritten, so nimmt die Flugbahn die Form eines Hyperbel-Asts an – in diesem Fall bleibt im Unendlichen eine Geschwindigkeit übrig, die als hyperbolische Exzessgeschwindigkeit oder hyperbolische Überschussgeschwindigkeit bezeichnet wird und die Energie der Hyperbelbahn charakterisiert. Sie berechnet sich aus der Summe der Energien, also der Quadrate der Geschwindigkeiten, analog zur Berechnung im Folgeabschnitt. Ebenfalls üblich ist die Angabe des Quadrates der Geschwindigkeit (also Energie pro Masse), häufig mit dem Formelzeichen c3.

Fluchtgeschwindigkeit von einem Schwarzen Loch

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In der allgemeinen Relativitätstheorie berechnet sich die radiale Fluchtgeschwindigkeit wie nach Newton, ist aber richtungsabhängig. Zudem ist die Kreisbahngeschwindigkeit höher als nach Newton, um den Faktor  , mit  . Erst mit steigendem Abstand vom Schwerpunkt konvergiert das Verhältnis von Flucht- und Kreisbahngeschwindigkeit gegen  . Das hat seinen Grund darin, dass im Gravitationsfeld der Raum nicht euklidisch ist und der Umfang eines Kreises weniger als   beträgt. Während die Fluchtgeschwindigkeit erst am Ereignishorizont des schwarzen Loches, bei  , die Lichtgeschwindigkeit   erreicht, ist die Kreisbahngeschwindigkeit schon bei   (an der sogenannten Photonensphäre) gleich   und bis   größer als die radiale Fluchtgeschwindigkeit.[4]

Fluchtgeschwindigkeiten von weiteren Objekten

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Als dritte kosmische Geschwindigkeit   gilt die minimale Startgeschwindigkeit von der Erdoberfläche, mit der (bei Ausnutzen der Bahngeschwindigkeit der Erde um die Sonne, aber ohne Ausnutzen ihrer Eigenrotation und ohne Swing-by-Manöver an Planeten) das Sonnensystem verlassen werden kann. Der Flugkörper muss also das gemeinsame Gravitationsfeld von Erde und Sonne überwinden. Nach dem Start mit   = 11,2 km/s und Verlassen der Einflusssphäre der Erde hat der Körper noch die hyperbolische Exzessgeschwindigkeit  . Diese muss zusammen mit der Bahngeschwindigkeit   der Erde die Fluchtgeschwindigkeit   aus dem Sonnensystem im Abstand   = 1 AE ergeben,[5]

 .

Die zum Erreichen dieser Geschwindigkeit nötige Startgeschwindigkeit   ergibt sich dann aus

 

bzw.

 .

Die Masse des Mondes und der anderen Planeten ist hier vernachlässigt worden; das Ergebnis würde sich kaum ändern.

Im Fall der Fluchtgeschwindigkeit aus der Milchstraße ist das Gravitationsfeld jedoch sehr deutlich kein Zentralfeld und ein beträchtlicher Teil der Masse liegt außerhalb der Bahn der Sonne um das galaktische Zentrum. Eine numerische Berechnung, die auch ein Modell für die Verteilung der Dunklen Materie berücksichtigt, ergibt eine Fluchtgeschwindigkeit von  .[6] Das ist erwartungsgemäß weit mehr als das  -fache der Bahngeschwindigkeit der Sonne von rund 220 km/s.[7]

Siehe auch

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Einzelnachweise

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  1. Giovanni Virginio Schiaparelli: Entwurf einer astronomischen Theorie der Sternschnuppen. 1867, Übersetzung aus dem Italienischen 1871, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche, Digitalisat des Originals.
  2. Karl Böhm, R. Dörge: Auf dem Weg zu fernen Welten: ein Buch von der Weltraumfahrt. Neues Leben, Berlin, 1958, S. 89.
  3. Für den Wert von 42,1 km/s ist anzumerken: startet ein Satellit/Probekörper/Teilchen von der Sonnenoberfläche mit der dortigen Fluchtgeschwindigkeit von 617,4 km/s, so hat er/es beim Erreichen der Umlaufbahn der Erde um die Sonne noch die Restgeschwindigkeit von 42,1 km/s, die ab dieser Entfernung zum Verlassen des Sonnensystems noch nötig sind. Startet der Satellit aber von der Erdumlaufbahn, so besitzt er ja bereits die Orbitgeschwindigkeit der Erde von 29,8 km/s, und es ist insbesondere eine geringere Startgeschwindigkeit relativ zur Erde nötig. Siehe Abschnitt #Fluchtgeschwindigkeiten von weiteren Objekten für weitere Details.
  4. Rosswog und Bruggen: High Energy Astrophysics. ASTR 498 @ University of Maryland, PDF, S. 7.
  5. Ernst Messerschmid, Stefanos Fasoulas: Raumfahrtsysteme - Eine Einführung mit Übungen und Lösungen. Springer-Verlag, 2000, ISBN 978-3-662-09675-8, S. 106–109 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  6. Til Piffl et al.: The RAVE survey: the Galactic escape speed and the mass of the Milky Way. Astronomy & Astrophysics 562, 2014, doi:10.1051/0004-6361/201322531 (freier Volltext).
  7. M. J. Reid, A. C. S. Readhead, R. C. Vermeulen, R. N. Treuhaft: The Proper Motion of Sagittarius A*. I. First VLBA Results. In: The Astrophysical Journal. Band 524, Nr. 2, 1999, S. 816–823, doi:10.1086/307855, bibcode:1999ApJ...524..816R.