Farbe-Ton-Forschung

wissenschaftliche und künstlerische Bewegung
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Die Farbe-Ton-Forschung war eine wissenschaftliche und künstlerische Bewegung, die sich mit allgemein multisensorischen und synästhetischen Wahrnehmungsphänomenen befasste. Sie entwickelte sich in den 1920er Jahren im deutschsprachigen Raum und endete kurz vor Beginn der nationalsozialistischen Diktatur.

Im Jahr 1925 initiierte der Hamburger Professor der Psychologie Georg Anschütz verschiedene Aktivitäten zur Erforschung der visuellen Aspekte auditiver Wahrnehmung. Die Bemühungen gipfelten in vier interdisziplinären Kongressen zur Farbe-Ton-Forschung in den Jahren 1927, 1930, 1933 und 1936. Zahlreiche Dokumente finden sich in drei Sammelbänden sowie in weiteren Publikationen.[1] Diese Veröffentlichungen zeigen zum ersten Mal umfangreiches Material farbiger Visualisierungen synästhetischer Phänomene. Die ersten beiden Kongresse sind ausführlich dokumentiert. Neben der Beschreibung und Analyse synästhetischer, durch Schallreize ausgelöster Wahrnehmungsphänomene wurde erfolgreich versucht, psycho-logische Forschung, Musikpsychologie, Pädagogik und Bildende Kunst zusammenzuführen. Im Rahmen der Farbe-Ton-Forschung wurden darüber hinaus ausführliche Quellenstudien durchgeführt und viele hundert Publikationen ausgewertet. In den 1930er Jahren rückten allgemeine Fragestellungen in den Vordergrund, insbesondere im Zusammenhang mit der Entwicklung des Tonfilms.

Kongresse der Farbe-Ton-Forschung

Zunächst gründete Anschütz die Psychologisch-Ästhetische Arbeitsgemeinschaft, die ab 1927 als Psychologisch-Ästhetische Forschungsgesellschaft weitergeführt wurde. Zahlreiche Experten wurden zu Vorträgen nach Hamburg eingeladen. Vier Kongresse wurden initiiert:

1.        2.-5.3.1927: mit einer Kurzfassung dokumentiert[2]

2.        1.-5.10.1930: ausführliche Dokumentation im 3. Band[1]

3.        2.-7.10.1933, „Tonfilm, Neue Bühne, Neue Musik“: Programm abgedruckt im 2.Band, der erst nachträglich 1936 fertiggestellt wurde, aber mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr in den Handel kam[1]

4.        4.-11.10.1936, „Spitzenleistungen des deutschen und ausländischen Films – Film als Kunst unserer Zeit“: nicht ausführlich dokumentiert.

Da zum vierten Kongress mit Ausnahme eines Plakatentwurfs von Rudolf Gahlbeck kein Material erhalten ist, ist nicht klar, ob diese Veranstaltung in der geplanten Form überhaupt stattgefunden hat.

Themen und Personen

Die Veranstaltungen der „Farbe-Ton-Forschung“ führten zahlreiche Experten und interessierte Laien aus den verschiedensten Bereichen zusammen. Zusätzlich bereicherten Ausstellungen synästhetischer Bilder und Objekte sowie Filmvorführungen die Tagungen. So umfasste eine begleitende Ausstellung zum ersten Kongress etwa 2000 Bilder und Dokumente – dieser Umfang wurde beim zweiten Kongress noch übertroffen (Bd.3[1], S. 407). Einige Personen sollen hier exemplarisch benannt sein:

Wahrnehmungs- und Gestaltpsychologie

Der Begründer der Farbe-Ton Forschung, Georg Anschütz, verfasste zahlreiche psychologische und pädagogische Studien, insbesondere zur Gestaltpsychologie, bevor er sich an der Universität Hamburg auf die Erforschung multisensorischer Wahrnehmungsphänomene spezialisierte. Der Psychologe Albert Wellek, der als Begründer der modernen Musikpsychologie gilt, lieferte Beiträge zur wahrnehmungspsychologischen Begründung der Notenschrift, die er auf Ursynästhesien, wie etwa die Verbindung von Tonhöhe und visueller Höhe, zurückführt. Er veröffentlichte auch eine umfangreiche Studie zum absoluten Gehör, in der er u.a. die Möglichkeit der Identifizierung der Tonhöhe anhand zusätzlich wahrgenommener, synästhetischer Farben beschreibt[3].

Musikwissenschaften

Im Hinblick auf multisensorische Referenzen der Musikwahrnehmung traten neben Wellek insbesondere Friederich Mahling und Alexander Truslit hervor. Mahling verfasste eine ausführliche Literaturstudie, die viele hundert Studien und künstlerische Abhandlungen zum Farbenhören berücksichtigt. Truslits musikpädagogische Studien stellen die auditive Wahrnehmung von Bewegung und deren Anwendung in der interpretatorischen Praxis in den Vordergrund und postulieren ein Bewegungsgesetz (Urbewegung), dem jede Musikdarbietung zu genügen habe.

Pädagogik

Beim ersten Kongress wirkte auch Oskar Rainer mit, der Begründer der Musikalischen Graphik, die zur musikalisch-künstlerischen Ausbildung in Schülerprojekten entwickelt worden war, und bis heute in Wiener pädagogisch eingesetzt wird. Der Blindenlehrer Wilhelm Voss präsentierte ausführliche Studien zu visuellen Phänomenen bei Erblindeten, die durch auditive oder taktile Stimuli ausgelöst werden. Daneben ist die Mitwirkung von Heinrich Grahl, der assoziativ bebilderte Notenschriften für Kinder entwickelte, sowie von Gertrud Grunow belegt, die am Bauhaus eine multisensorisch geprägte Harmonisierungslehre vertrat.

Malerei und Graphik

Statische Visualisierungen von Geräuschen und Musik wurden unter anderem von Max Gehlsen, Walther Behm, Rudolph Gahlbeck, Heinrich Hein, dem Druckgraphiker Hugo-Meier Thur und dem Musikalisten Arne Hošek vorgelegt und im Hinblick auf Verknüpfungen auditiver und visueller Wahrnehmung diskutiert.

Lichtkunst, Kinetismus und Film

Konzepte der dynamischen Visualisierung von Musik wurden als Farblichtmusik von Alexander László und Ludwig Hirschfeld-Mack, als Kinetismus von Zdeněk Pešánek und als musikbezogener, abstrakter Film von Oskar Fischinger präsentiert. Im Rahmen der Farbe-Ton-Forschung wurde jedoch weniger das künstlerische Konzept, sondern vielmehr die Bedeutung für die individuelle Wahrnehmung diskutiert.

Bedeutung synästhetischer Visualisierungen

Die strikt individuellen Phänomene der genuinen Synästhesie sind durch abstrakte Formen und Farben gekennzeichnet, die keinen assoziativen Bezug zum auditiven Reiz erkennen lassen. Konkrete Elemente sind dagegen als Ergebnisse ikonischer Referenz einzustufen, die im Wahrnehmungssystem aller Menschen verankert sind. Die Post-hoc-Analyse der publizierten Visualisierungen von Musik und Geräuschen[4] zeigt, dass in der Farbe-Ton-Forschung zunächst die seltenen individuellen Phänomene im Vordergrund standen, während später zunehmend ikonische Inhalte hinzukamen, insbesondere bei Schülerzeichnungen und in Zusammenhang mit den Massenprodukten des Tonfilms.

Würdigung und Kritik

Die Veröffentlichungen der Farbe-Ton-Forschung dokumentieren erstmals die Beschäftigung mit intermodalen Phänomenen im großen Stil. Die Tagungen waren im deutschsprachigen Raum von überregionaler Bedeutung; Sie führten unterschiedliche Disziplinen, insbesondere Psycho-logie, Pädagogik, Kunst und Musik zusammen. Es wurde deutlich, dass intermodales Denken zu interdisziplinären Ansätzen führt. Die theoretische und künstlerische  Auseinandersetzung konzentrierte sich insbesondere auf die visuelle Relevanz auditiver Reize und lieferte erste Ansätze systematischer Konzepte für den Tonfilm.

Allerdings wurde versucht, aus introspektiven Beobachtungen individueller Phänomene – nach heutigem Sprachgebrauch handelt es sich um genuine Synästhesien - auf allgemein verbreitete Prozesse der Verknüpfung der Sinnesbereiche zu schließen. Dies bewirkte bisweilen eine Unklarheit der gezogenen Schlussfolgerungen, z.B. bei Anschütz 1931[5].

Die Bedeutung genuiner, individueller Synästhesien für allgemeine Wahrnehmungsprozesse ist bis heute nicht vollständig geklärt; eine spezifische Unterscheidung allgemeiner und spezieller Phänomene wird erst seit den 1990er Jahren allgemein akzeptiert.

Aktuelle Fortsetzungen

Die Verbindung unterschiedlicher Fachbereiche, insbesondere von Kunst, Musik und Psychologie ist auch heute typisch für Tagungen der Synästhesieforschung, z. B. der MHH Hannover, Artecitta Granada, UKSA London oder TU Kazan. Neue Verfahren der Hirnforschung (z. B. fNMR) geben heute weitere Impulse zum Verständnis der Wahrnehmungsprozesse.

Die wissenschaftlichen und künstlerischen Bemühungen der Farbe-Ton-Forschung fanden gegen Ende der 1930er Jahre ein jähes Ende: verschiedene Akteure wurden zur Emigration gezwungen, kamen in Kriegswirren um oder diskreditierten sich durch Kooperation mit dem Regime.

Georg Anschütz arrangierte sich mit dem System, um seine Professorenstelle zu erhalten. Es sind keine Dokumente verfügbar, die eine nationalsozialistische Gesinnung anzeigen. Der Vorwurf einer Kollaboration ist jedoch nicht bestreitbar.

Anschütz archivierte die bis dahin vorhandenen Materialien der Farbe-Ton-Forschung, deren abstrakte Darstellungen dem nationalsozialistische Kunstverständnis widersprachen, im Gebäude der Hamburger Universität. Dies deutet darauf hin, dass er hoffte, nach dem Ende der Diktatur die Synästhesieforschung wieder aufzunehmen zu können. Diese Hoffnung bestätigte sich nicht, denn fast das gesamte Materialien, Bilder und Texte gingen im Bombenkrieg verloren, und Anschütz wurde nach dem Kriegsende seiner Ämter enthoben. Dennoch markiert die Farbe-Ton-Forschung in Hamburg einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einem grundlegenden Verständnis multisensorischer Verbindungen im Wahrnehmungssystem - ein Thema, dass heute wieder auf großes Interesse stößt.

  1. a b c d Anschütz, Georg (Hrsg.): Farbe-Ton-Forschungen, Bd.1. Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft, 1927. Bd.2., 1936 & Bd.3., Hamburg: Psychologisch-ästhetische Forschungsgesellschaft, 1931
  2. Grundner, Rolf: Bericht über den ersten Kongress für Farbe-Ton-Forschung und über die Sitzungen der Psychologisch-ästhetischen Forschungsgesellschaft in Hamburg (1927-1930). Hamburg: 1930
  3. Wellek, Albert: Das absolute Gehör und seine Typen. Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth, 1938
  4. Haverkamp, Michael: Visualization of synaesthetic experience during the early 20th century – an analytic approach. Int. Conf. on Synesthesia., Hannover, 2003 (http://www.michaelhaverkamp.de/synaesthesie.htm)
  5. Anschütz, Georg: Zu Typologie und Theorie des Farbenhörens. In Farbe-Ton-Forschungen, Bd.3. Psychologisch-ästhetische Forschungsgesellschaft, 1931