Wienerprozess

stochastischer Prozess
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Ein Wienerprozess ist ein zeitstetiger stochastischer Prozess, der normalverteilte, unabhängige Zuwächse hat. Benannt wurde der Prozess, der ein mathematisches Modell für die brownsche Bewegung darstellt und deswegen selbst häufig als „brownsche Bewegung“ bezeichnet wird, nach dem US-amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener. Seit der Einführung der stochastischen Analysis durch Itō Kiyoshi in den 1940er Jahren spielt der Wienerprozess die zentrale Rolle im Kalkül der zeitstetigen stochastischen Prozesse und wird in zahllosen Gebieten der Natur- und Wirtschaftswissenschaften als Grundlage zur Modellierung zufälliger Entwicklungen herangezogen.

Zwei Beispielpfade eines Standard-Wienerprozesses

Geschichte

 
Thorvald N. Thiele
 
Louis Bachelier

1827 beobachtete der schottische Botaniker Robert Brown unter dem Mikroskop, wie Pflanzenpollen sich in einem Wassertropfen unregelmäßig hin- und herbewegten (daher der Name brownsche Bewegung). 1880 beschrieb der Statistiker und Astronom Thorvald Nicolai Thiele (1838–1910) in Kopenhagen erstmals einen solchen „Prozess“ (die Theorie der stochastischen Prozesse war damals allerdings noch nicht entwickelt), als er wirtschaftliche Zeitreihen und die Verteilung von Residuen bei der Methode der kleinsten Quadrate studierte.

1900 griff der französische Mathematiker Louis Bachelier (1870–1946), ein Schüler Henri Poincarés, Thieles Idee auf, als er versuchte, die Kursbewegungen an der Pariser Börse zu analysieren. Beide Ansätze hatten letztendlich nur geringen Einfluss auf die zukünftige Entwicklung des Prozesses, zum Teil wohl aus dem Grunde, dass Finanzmathematik zu diesem Zeitpunkt eine untergeordnete Rolle in der Mathematik jener Zeit spielte. Heute jedoch gilt gerade die Finanzmathematik als Hauptanwendungsgebiet von Wienerprozessen. Dennoch bevorzugte zum Beispiel der Stochastiker William Feller die Bezeichnung Bachelier-Wiener-Prozess.

Der Durchbruch kam jedoch, als Albert Einstein 1905 in seinem annus mirabilis,[1] offenbar ohne Kenntnis von Bacheliers Arbeiten und unabhängig von ihm Marian Smoluchowski (1906),[2] den Wienerprozess in seiner heutigen Gestalt definierte. Einsteins Motivation war es, die Bewegung der brownschen Partikel durch die molekulare Struktur des Wassers zu erklären – ein Ansatz, der damals äußerst kontrovers war, heute aber unbestritten ist – und diese Erklärung mathematisch zu untermauern. Interessanterweise forderte er dabei eine weitere, physikalisch sinnvolle Eigenschaft, die Rektifizierbarkeit der Zufallspfade, für sein Modell nicht. Obwohl dies bedeutet, dass die Partikel in jeder Sekunde eine unendlich lange Strecke zurücklegen (was das gesamte Modell theoretisch disqualifiziert), bedeutete der einsteinsche Ansatz den Durchbruch sowohl für die molekulare Theorie als auch für den stochastischen Prozess.

Einen Beweis für die wahrscheinlichkeitstheoretische Existenz des Prozesses blieb Einstein allerdings schuldig. Dieser gelang erst 1923 dem US-amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener, der dabei neue Hilfsmittel von Lebesgue und Borel auf dem Gebiet der Maßtheorie ausnutzen konnte. Dennoch war sein Beweis so lang und kompliziert, dass ihn wohl nur eine Handvoll Zeitgenossen verstehen konnten. Von Itō Kiyoshi ist überliefert, dass er einige seiner größten Fortschritte bei der Entwicklung des stochastischen Integrals bei dem Versuch erreichte, Wieners Arbeit nachzuvollziehen.

Letztendlich war es auch Itō, der dem Wienerprozess den Weg von der Physik in andere Wissenschaften ebnete: Durch die von ihm aufgestellten stochastischen Differentialgleichungen konnte man die brownsche Bewegung an mehr statistische Probleme anpassen. Bacheliers Ansatz scheiterte letztendlich daran, dass der Wienerprozess, unabhängig von seinem Startwert, im Laufe der Zeit fast sicher einmal negative Werte erreicht, was für Aktien unmöglich ist. Doch die durch eine stochastische Differentialgleichung abgeleitete geometrische brownsche Bewegung löst dieses Problem und gilt seit der Entwicklung des berühmten Black-Scholes-Modells als Standard. Das von den nicht rektifizierbaren Pfaden des Wienerprozesses aufgeworfene Problem bei der Modellierung brownscher Pfade führt zum Ornstein-Uhlenbeck-Prozess und macht ebenfalls den Bedarf einer Theorie der stochastischen Integration und Differentiation deutlich – hier wird nicht die Bewegung, sondern die Geschwindigkeit des Teilchen als ein nicht rektifizierbarer vom Wienerprozess abgeleiteter Prozess modelliert, aus dem man rektifizierbare Teilchenpfade durch Integration erhält.

Heute werden in praktisch allen Natur- und vielen Sozialwissenschaften brownsche Bewegungen und verwandte Prozesse als Hilfsmittel verwendet.

Definition

Ein Wienerprozess (Synonym: brownsche Bewegung) ist ein zeitstetiger stochastischer Prozess, der normalverteilte, unabhängige Zuwächse hat:
Ein stochastischer Prozess   auf dem Wahrscheinlichkeitsraum   heißt (Standard-)Wienerprozess, wenn die vier folgenden Bedingungen gelten:

  1.   (P-fast sicher).
  2. Für gegebene Zeitpunkte   sind die Zuwächse   stochastisch unabhängig. Der Wienerprozess hat also unabhängige Zuwächse.
  3. Für alle   gilt  . Die Zuwächse sind also stationär und normalverteilt mit dem Erwartungswert null und der Varianz  .
  4. Die einzelnen Pfade sind (P-)fast sicher stetig.

Der vierte Punkt kann auch aus der Definition insofern gestrichen werden, als sich mit dem Stetigkeitssatz von Kolmogorow-Tschenzow zeigen lässt, dass es unter den obigen Voraussetzungen immer eine fast sicher stetige Version des Prozesses gibt.

Alternativ lässt sich ein Wienerprozess   nach Paul Lévy durch folgende zwei Eigenschaften charakterisieren:

  1.   ist ein stetiges lokales Martingal mit  .
  2.   ist ein Martingal.

Eigenschaften

Einordnung

  • Der Wienerprozess zählt zur Familie der Markowprozesse und dort speziell zur Klasse der Lévyprozesse. Außerdem erfüllt er die starke Markoweigenschaft.
  • Der Wienerprozess ist ein spezieller Gaußprozess mit Erwartungswertfunktion   und Kovarianzfunktion  .
  • Der Wienerprozess ist ein Martingal. Ist also   die von   erzeugte Filtrierung, dann gilt für die bedingte Erwartung   für alle  .
  • Der Wienerprozess ist ein Lévyprozess mit stetigen Pfaden und konstantem Erwartungswert  .

Eigenschaften der Pfade

 
fast sicher. Damit sind die Pfade des Wienerprozesses insbesondere hölderstetig zum Exponenten   mit  , jedoch nicht hölder- -stetig.

Selbstähnlichkeiten, Reflexionsprinzip

  • Auch das Negative eines Standard-Wienerprozesses, also   ist ein Standard-Wienerprozess. Allgemeiner gilt auch das Reflexionsprinzip: Ein an einer beliebigen Stoppzeit   gespiegelter Wienerprozess ist wieder ein Wienerprozess. Der gespiegelte Prozess   ist dabei wie folgt definiert:   falls   und   falls  .
  • Der Wienerprozess ist selbstähnlich unter Streckung der Zeitachse, d. h.   ist für jedes   ein Standard-Wienerprozess.
  • Inversion der Zeitachse: auch   ist ein Standard-Wienerprozess
  • Verschiebung der Zeitachse: Für jedes deterministische   ist der stochastische Prozess   ebenfalls ein Wienerprozess; hier werden die Zuwächse vom Zeitpunkt   an betrachtet, d. h.   erfüllt die schwache Markoweigenschaft.

Generator

 
Eine brownsche Bewegung auf der Kugel. Der Generator dieses Prozesses ist ½ mal der Laplace-Beltrami-Operator auf einer Mannigfaltigkeit, hier einer Kugeloberfläche.

Für den Generator   eines eindimensionalen Standard-Wienerprozesses gilt

 ,

das heißt   ist ½ mal der Operator der zweiten Ableitung. Allgemeiner ist der Generator eines mehrdimensionalen Wienerprozesses ½ mal der Laplaceoperator. Diese Beziehung kann verwendet werden, um Wienerprozesse auch auf anderen Mannigfaltigkeiten wie z. B. auf einer Kugel (siehe Bild) zu definieren, nämlich als Markowprozess mit dem Laplace-Beltrami-Operator als Generator.

Verallgemeinerter Wienerprozess

Ist   ein Standard-Wienerprozess, so nennt man den stochastischen Prozess

 

brownsche Bewegung mit Drift   und Volatilität  . Damit lassen sich auch stochastische Prozesse darstellen, die tendenziell eher fallen ( ) oder tendenziell eher steigen ( ). Dabei gilt

 .

Auch allgemeine Wienerprozesse sind Markow- und Lévyprozesse, aber die Martingaleigenschaft gilt nur noch in abgeschwächter Form:

Ist  , so ist   ein Supermartingal, ist  , so ist   ein Submartingal. Für   ist   ein Martingal.

Der mehrdimensionale Fall

 
75 Schritte einer diskreten Annäherung an eine zweidimensionale brownsche Bewegung. So ähnlich könnte sich auch das Partikel unter Browns Mikroskop bewegt haben.

Ein mehrdimensionaler stochastischer Prozess   heißt n-dimensionaler (Standard-)Wienerprozess oder n-dimensionale brownsche Bewegung, falls die Koordinaten   unabhängige (Standard-)Wienerprozesse sind. Die Zuwächse   sind dann ebenfalls unabhängig und  -verteilt (n-dimensionale Normalverteilung), wobei   die Einheitsmatrix der Dimension n ist.

Der n-dimensionale Wienerprozess hat eine besonders schöne Eigenschaft, die ihn von den meisten anderen mehrdimensionalen Prozessen abhebt und die ihn für die Modellierung des brownschen Partikels prädestiniert: Er ist invariant unter Drehungen der Koordinatenachsen. Das bedeutet, dass für jede orthogonale Matrix   der gedrehte (oder gespiegelte) Prozess   genau dieselbe Verteilung wie   besitzt.

Genau wie die eindimensionale brownsche Bewegung kann man nun auch die n-dimensionale verallgemeinern: Für jeden Vektor   und jede Matrix   wird durch

 

eine brownsche Bewegung mit Drift   und Varianz   definiert. Dementsprechend gilt  . Hierbei können die einzelnen Koordinaten also auch miteinander korreliert sein.

Zusammenhang zu anderen stochastischen Prozessen

  • Ist   eine geometrische brownsche Bewegung, so ist   eine brownsche Bewegung (mit Drift). Andererseits kann man aus jedem Wienerprozess   mit Drift   und Volatilität   durch   eine geometrische brownsche Bewegung gewinnen.
  • Mit Hilfe des stochastischen Integralbegriffes von Itô lässt sich der Wienerprozess zum Itōprozess verallgemeinern.
  • Der symmetrische Random Walk kann als zeitdiskretes Pendant zum Wienerprozess angesehen werden, denn es gilt der folgende Konvergenzsatz: ist für   der Random Walk   auf dem diskreten Zeitgitter   so definiert, dass   gilt und   sich in jedem Zeitschritt mit Wahrscheinlichkeit   um   nach oben und mit Wahrscheinlichkeit   um   nach unten bewegt, so konvergiert   für   gegen einen Standard-Wienerprozess (Invarianzprinzip von Donsker).
  • Ist   ein Standard-Wienerprozess und  , so ist   eine brownsche Brücke.

Simulation von brownschen Pfaden

Um mit Hilfe von Zufallszahlen Pfade eines Wienerprozesses zu simulieren, stehen verschiedene Methoden zur Verfügung, die allesamt auf verschiedenen Eigenschaften des Prozesses aufbauen:

Einfacher Random Walk

Die einfachste Möglichkeit besteht darin, die oben erwähnte Konvergenz des einfachen Random Walk gegen einen Wienerprozess auszunutzen. Dazu muss man lediglich rademacherverteilte Zufallsvariablen B1, B2, B3, … simulieren, die untereinander unabhängig sind und jeweils mit Wahrscheinlichkeit   die Werte 1 und −1 annehmen. Dann kann man zu einer vorgegebenen Schrittweite   einen Wienerprozess an den Stellen   durch

 

approximieren. Der Vorteil dieser Methode liegt darin, dass nur sehr einfach herzustellende rademacherverteilte Zufallsvariablen benötigt werden. Allerdings handelt es sich nur um eine Approximation: Das Resultat ist kein Gauß-Prozess, sondern hat quasi binomialverteilte Zustände (genauer gesagt ist   binomial(n; 0,5)-verteilt). Um die Normalverteilung hinreichend gut anzunähern, muss   deshalb sehr klein gewählt werden. Diese Methode ist deshalb nur zu empfehlen, wenn man den Prozess ohnehin auf einem sehr feinen Zeitgitter simulieren möchte.

Gaußscher Random Walk

Die folgende Methode ist dem einfachen Random Walk überlegen (sofern kein besonders feines Zeitgitter benötigt wird), da sie den Prozess exakt simuliert (d. h. die resultierenden Zustände stimmen in Verteilung mit denen eines Wienerprozesses überein):

 ,

wobei   unabhängige, standardnormalverteilte Zufallszahlen sind (beispielsweise erzeugt durch die Polar-Methode von Marsaglia). Diese als gaußscher Random Walk bezeichnete Diskretisierung ist nur dann von Nachteil, wenn die vorhandenen normalverteilten Zufallsvariablen nicht von gleichmäßiger „Qualität“ sind. Wenn zum Beispiel Quasi-Zufallszahlen verwendet werden, weisen spät auftretende Zahlen bisweilen Abhängigkeitsstrukturen auf, die das Ergebnis verzerren können. In einem solchen Fall ist eine der folgenden Methoden vorzuziehen:

Brownsche Brücke

 
Die ersten fünf Halbierungsschritte der brownschen Brücke, die jeweils neu simulierte Iteration ist rot eingezeichnet.

Diese auf Paul Lévy zurückgehende Methode[3] (die nur am Rande etwas mit dem gleichnamigen stochastischen Prozess zu tun hat) nutzt die Kovarianzstruktur des Wienerprozesses aus und legt ein höheres Gewicht auf frühe standardnormalverteilte Zufallsvariablen  .

Hier wird zuerst  , welches normalverteilt mit Varianz 1 ist, durch   simuliert. Nun wird das Intervall [0,1] schrittweise halbiert und folgender Schritt wiederholt:

  ergibt sich als arithmetisches Mittel   plus eine weitere Normalverteilte Zufallsvariable, um die Varianz zu korrigieren. Also:

 

Analog:

 

und so weiter. Die Faktoren   verringern sich dabei in jedem Halbierungsschritt um den Faktor   und sorgen dafür, dass die Zustände die richtige Varianz erhalten.

Um einen Wienerprozess statt auf [0,1] auf ein beliebiges Intervall [0,a] auszuweiten, kann man nun die oben beschriebene Transformation   anwenden; X ist dann ein Wienerprozess auf [0,a].

Hintergrund dieser nichtkausalen Modellierung ist, dass   bedingt auf   und   wiederum normalverteilt ist.

Spektralzerlegung

Bei der Spektralzerlegung wird der Wienerprozess in einer Art stochastischer Fourieranalyse als trigonometrische Polynome mit zufälligen Koeffizienten approximiert. Sind   unabhängig und standardnormalverteilt, so konvergiert die Reihe

 

gegen einen Wienerprozess. Diese Methode konvergiert bezüglich der L2-Norm zwar mit maximaler Geschwindigkeit, beinhaltet aber im Gegensatz zur brownschen Brücke viele aufwändige trigonometrische Funktionsauswertungen. Daher findet sie, vor allem in der Monte-Carlo-Simulation, weniger oft Anwendung.

Geometrie

Die ein- und zwei-dimensionale brownsche Bewegung ist rekurrent, in allen höheren Dimensionen ist sie transient. (Satz von Pólya (Irrfahrten): „Ein betrunkener Mann findet immer heim, ein betrunkener Vogel nicht.“) Siehe auch Markowkette.

Literatur

  • Andrei N. Borodin, Paavo Salminen: Handbook of Brownian Motion - Facts and Formulae. Birkhäuser, Basel 2002, ISBN 3-7643-6705-9.
  • Ioannis Karatzas, Steven E. Shreve: Brownian Motion and Stochastic Calculus (Graduate Texts in Mathematics). Springer, New York 1997, ISBN 0-3879-7655-8.
  • David Meintrup, Stefan Schäffler: Stochastik. Theorie und Anwendungen. Springer, Berlin/Heidelberg 2005, ISBN 3-540-21676-6, Kap. 12, S. 341–374.
  • René L. Schilling, Lothar Partzsch: Brownian Motion. An Introduction to Stochastic Processes. De Gruyter, Berlin/Boston 2012, ISBN 978-3-11-027889-7.
  • John Michael Steele: Stochastic Calculus and Financial Applications. Springer, New York 2000, ISBN 0-387-95016-8.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Einstein, Albert: Über die von der molekularkinetischen Theorie der Wärme geforderte Bewegung von in ruhenden Flüssigkeiten suspendierten Teilchen. In: Annalen der Physik. Band 17, 1905, S. 549–560.
  2. Smoluchowski, M.: Zur kinetischen Theorie der Brownschen Molekularbewegung und der Suspensionen. In: Annalen der Physik. Band 21, 1906, S. 756–780.
  3. P. Lévy: Processus stochastiques et mouvement brownien. Gauthier-Villars, Paris 1965.