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Das '''Spiegelstadium''' ([[Französische Sprache|französisch]] ''le stade du miroir'') bezeichnet in der Theorie des französischen [[Psychoanalytiker]]s [[Jacques Lacan]] eine Entwicklungsphase des Kindes um den 6. bis 18. Lebensmonat, innerhalb der die Entwicklung des [[Ich]]s stattfindet. Lacan versucht mit dieser Theorie, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie im Menschen [[Selbstbewusstsein]] entsteht und funktioniert.
 
Das '''Spiegelstadium''' ([[Französische Sprache{{frS|französisch]] ''le stade du miroir''}}) bezeichnet in der Theorie des französischen [[Psychoanalytiker]]s [[Jacques Lacan]] eine Entwicklungsphase des Kindes um den 6. bis 18. Lebensmonat, innerhalb der die Entwicklung des [[Ich]]s stattfindet. Lacan versucht mit dieser Theorie, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie im Menschen [[Selbstbewusstsein]] entsteht und funktioniert.
 
Die Konzeption des Spiegelstadiums zählt zu den bekanntesten und einflussreichsten Theorien Lacans. Sie wurde erstmals 1936 auf dem ''14. Internationalen Kongress für Psychoanalyse'' in Marienbad vorgestellt. Eine überarbeitete Form stellte Lacan auf dem 16. Kongress 1949 in Zürich vor. Schriftlich wurde der Aufsatz nur in der zweiten Fassung von 1949 in den ''Écrits'' veröffentlicht. In deutscher Sprache erschien diese Theorie im Band ''Schriften I'' unter dem Titel ''Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion [fonction du Je], wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint''.
 
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== Beschreibung des Spiegelstadiums ==
{{Hauptartikel|Spiegeltest}}
 
Lacan geht nach eigenem Bekunden von einer Beobachtung des [[Psychologe]]n [[James Mark Baldwin]] aus, der feststellte, dass Kinder zwischen dem 6. und dem 18. Lebensmonat ihr eigenes Bild in einem [[Spiegel]] erkennen. Das Kind betrachte sich, so Lacan, eingehend im Spiegel und begrüße sein Bild mit einer „jubilatorischen Geste“ der Verzückung. Diese Verzückung interpretiert Lacan als Identifikation des Kindes, das sich dort zum ersten Mal selbst begegnet, mit seinem Bild. Diese Begegnung ist vor allem deshalb ein Anlass zur Freude, weil sich das Kind im Spiegel zum ersten Mal ''vollständig'' sieht, anstatt „zerstückelt“ aus der Leibperspektive – aus welcher man das eigene Gesicht nie sieht und seine eigenen Gliedmaßen daher unzusammenhängend als abgetrennt erscheinende „Partialobjekte“ erfährt.
 
Im Gegensatz zum Menschen lässt die meisten ''Tiere'' ihr Spiegelbild gleichgültig, indem sie sich beispielsweise rasch von ihm abwenden. DieTiere, wenigendie Ausnahmenim zählenSpiegelbild ihrerseitsein zufremdes Individuum vermuten und mit Drohgebärden reagieren, bestehen den hochentwickeltenSpiegeltest Tierartennicht. {{Hauptartikel|Spiegeltest}}Es wird außerdem unterschieden, ob das Tier nur die Funktion des Spiegels versteht (der Spiegel als Hilfsmittel, um verstecktes Futter sichtbar zu machen) oder das eigene Spiegelbild darin erkannt wird.
 
== Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion ==
Mit dem ersten Blick auf das Ich als Ganzes konstituiert sich nach Lacan die [[Psyche|psychische]] Funktion des [[Ich]]s (frz. „je“''je''). Erst durch das im Spiegel erblickte [[Selbstbild]] entwickelt das Kind ein Bewusstsein von sich selbst. War es zuvor noch [[Symbiose|symbiotisch]] mit seiner Außenwelt – v. a. in Form der Mutter(brust) – verbunden, beginnen sich nun Ich und Nicht-Ich voneinander zu trennen. Das Kind erfährt sich zum ersten Mal als autonomes, [[Kohärenz (Psychologie)|kohärentes]], vollständiges Lebewesen.
 
:„Man kann das Spiegelstadium ''als eine [[Identifikation (Psychologie)|Identifikation]]'' verstehen im vollen Sinne, den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung.“ (''Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion'', S. 64)
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== Narzissmus ==
[[Datei:Michelangelo Caravaggio 065.jpg|mini|hochkant=0.8|[[Michelangelo Merisi da Caravaggio|Caravaggios]] „Narziss“]]
 
Das Imaginäre ist aber auch der Ort von [[Narzissmus|narzisstischen]] Größen- und [[Allmacht]]s&shy;phantasien, die eben auf dem Bild der Vollständigkeit beruhen, welches das Kind im Spiegel erfährt. Durch den Blick in den Spiegel nimmt es „in einer Fata Morgana die Reifung seiner Macht vorweg“, indem es sich als mächtig und autonom erlebt, auch wenn es real noch fast vollständig von seiner Umgebung abhängig ist. Das Kind sieht seine körperliche Einheit als „totale Form des Körpers“, aber es ''fühlt'' diese Einheit noch nicht. Das spiegelbildliche Ich ist eine Täuschung in Form eines narzisstischen „Größen-Selbst“, wie auch schon von [[Sigmund Freud]] beschrieben, auf dessen Begriff des [[Narzissmus#Primärer und sekundärer Narzissmus|„primärenprimären Narzissmus“Narzissmus]] Lacan ausdrücklich zurückgreift.<ref>(''Das Spiegelstadium.'', S.&nbsp;68).</ref>
[[Datei:Michelangelo Caravaggio 065.jpg|mini|[[Michelangelo Merisi da Caravaggio|Caravaggios]] „Narziss“]]
 
Das Imaginäre ist aber auch der Ort von [[Narzissmus|narzisstischen]] Größen- und [[Allmacht]]s&shy;phantasien, die eben auf dem Bild der Vollständigkeit beruhen, welches das Kind im Spiegel erfährt. Durch den Blick in den Spiegel nimmt es „in einer Fata Morgana die Reifung seiner Macht vorweg“, indem es sich als mächtig und autonom erlebt, auch wenn es real noch fast vollständig von seiner Umgebung abhängig ist. Das Kind sieht seine körperliche Einheit als „totale Form des Körpers“, aber es ''fühlt'' diese Einheit noch nicht. Das spiegelbildliche Ich ist eine Täuschung in Form eines narzisstischen „Größen-Selbst“, wie auch schon von [[Sigmund Freud]] beschrieben, auf dessen Begriff des [[Narzissmus#Primärer und sekundärer Narzissmus|„primären Narzissmus“]] Lacan ausdrücklich zurückgreift.<ref>(''Das Spiegelstadium'', S.&nbsp;68)</ref>
 
Die Bedeutung dieses vollständigen Selbstbildes für das Subjekt wird daran deutlich, dass in [[Psychose|psychotischen]] Zuständen des [[Wahnsinn]]s diese Vollständigkeit oft zerbricht und dem Psychotiker in [[Traum|Träumen]] Partialobjekte wie z.&nbsp;B. abgehackte Hände erscheinen, welche er als [[Trauma (Psychologie)|traumatische]] Bedrohung wahrnimmt. Bekannte Beispiele für solche Partialobjekte sind nach Lacan in den Gemälden von [[Hieronymus Bosch]] zu finden. Auch im Verlauf psychoanalytischer Therapien tauchen manchmal angstauslösende Bilder von zerstückelten Körpern auf. Der primäre Narzissmus ist also lebenswichtig innerhalb der Phase der [[Adoleszenz]]&shy;entwicklung.
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== Entfremdung und Ich-Spaltung ==
Die Vollständigkeit, die das Kind im Spiegel erfährt und die es mit seiner jubilatorischen Geste feiert, ist aber, obwohl der Mensch nicht ohne sie auskommt, wie gesagt eine Täuschung: Die imaginäre Einheit des Körpers im Spiegel ist noch keine reale Einheit. Die Identifikation des Kindes mit seinem Bild besitzt eine „Verkennungsfunktion“ (''Das Spiegelstadium'', S.&nbsp;69) – das "Mich-Erkennen" (me connaître) ist zugleich ein Verkennen (méconnaître). Das Kind sieht nicht ''sich'' im Spiegel, sondern eben nur sein ''Bild''. Der Ort dessen, was es sieht, befindet sich außerhalb seiner selbst: im Spiegel. Das Spiegelstadium geht daher auch mit der Erfahrung der [[Entfremdung]] einher und bewirkt eine ''Spaltung des Subjekts''. Lacan unterscheidet deshalb zwischen zwei Formen des Ichs: dem ''Ich (je)'' und dem ''Ich (moi)'', auch wenn diese beiden Aspekte des Ichs im ''Spiegelstadium''-Aufsatz nicht deutlich und systematisch voneinander abgegrenzt sind.
 
=== Ich (je) ===
Das Ich (je) ist der unmittelbare Anblick des Ichs als einesein anderenanderes im Spiegel (je spéculaire), also der Blick auf das eigene Ich aus einer Außenperspektive, durch die das Kind sich überhaupt als jemand erfährt, der von anderen gesehen werden kann. Dieses „je spéculaire“ entwickelt sich schließlich zu einem sozialen Ich (je social). Bei der Entwicklung dieses sozialen Ichs fungiert das Spiegelbild als die „[[Das Symbolische|symbolische Matrix]] […], an der das ''Ich'' (je) in einer ursprünglichen Form sich niederschlägt.“ (''Das Spiegelstadium'', S.&nbsp;64)
 
Dem Ich (je) entspricht der Begriff der [[Soziale Rolle|Sozialen Rolle]], der [[Maske]] oder [[Persona]]. Im Englischen wird es in Anlehnung an die Rollensoziologie [[George Herbert Mead]]s oft mit „I“ übersetzt (vgl. Dylan Evans: ''Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse'', S.&nbsp;141).
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Das ''Ich (moi)'' ist ebenfalls im ‚je speculaire‘ bereits angelegt, stellt aber eine „sekundäre Identifikation“ dar bzw. den „Stamm der sekundären Identifikationen“, das heißt den Ursprung der narzisstischen Identifikation des Ichs mit seinem Größen-Selbst. Das Ich (moi) ist eine Form der „[[Imago (Psychologie)|Imago]]“ (''Das Spiegelstadium'', S.&nbsp;65), nach welcher sich das Subjekt hin orientiert und das ihm als Ideal gilt, dem es sich „[[Asymptote|asymptotisch]]“ anzunähern versucht (S.&nbsp;64). Letztlich ist dieses [[Idealisierung (Psychologie)|idealisierte]] Bild aber unerreichbar, weil es „auf einer fiktiven Linie situiert“ ist (S.&nbsp;64). Es funktioniert nur als „Versprechen zukünftiger Ganzheit“ (Evans: ''Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse'', S.&nbsp;279).
 
Wenn das Ich (je) mit „I“ übersetzt werden kann, so wird das Ich (moi) im Englischen gelegentlich mit dem Begriff „Ego“ übersetzt. Lacan bezeichnet es auch in Anlehnung an [[Sigmund Freud]] als „Ideal-Ich“ (''Das Spiegelstadium'', S.&nbsp;64). Obwohl er im ''Spiegelstadium''-Aufsatz von einem „je-idéal“ schreibt (wovon er sich seit einer Neuauflage des Aufsatzes 1966 in einer Anmerkung ausdrücklich wieder distanziert), verwendet er im weiteren Verlauf seines Werkes den passenderen Begriff „moi-idéal“, um den Freudschen Begriff des Ideal-Ichs zu bezeichnen.
 
Dieses imaginäre „Ideal-Ich“ ist für Lacan jedoch nicht zu verwechseln mit dem „Ich-Ideal“, das dem Subjekt als Vorbild dient und auf dem seine [[Das Symbolische|symbolische Existenz]] beruht. Das Ich-Ideal beruht auf der Einführung des Subjekts in die Ordnung der Sprache und des [[Das Symbolische|Symbolischen]], das Ideal-Ich dagegen auf der imaginären Erfahrung des Spiegelstadiums. Im ersten Fall unterwirft sich das Subjekt dem [[Der große Andere|großen Anderen]] und seinen [[Signifikant]]en, im zweiten Fall bespiegelt es sich selbst im Bild seiner körperlichen Einheit. (Mehr zu den Begriffen [[Ich]], [[Ich-Ideal]], [[Ideal-Ich]] und [[Über-Ich]] vgl. Evans: ''Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse'', S.&nbsp;139–143.)
 
=== Ich ist ein Anderer ===
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Nachdem das Konzept des Spiegelstadiums bereits recht früh formuliert worden war, arbeitete Lacan zeit seines Lebens mit dieser Konzeption, auch wenn er sie später eher allgemein unter dem Begriff des [[Das Imaginäre|Imaginären]] fasste. Im Verlauf seines weiteren Werks korrigierte er auch einige Einseitigkeiten seiner ursprünglichen Konzeption, indem er etwa das Spiegelstadium immer weniger als biographisches Ereignis betonte, sondern es vielmehr als grundlegende Struktur des Subjekts begriff:
 
:„Das Spiegelstadium ist weit davon entfernt, nur ein Ereignis zu sein, das in der Entwicklung des Kindes erfolgt. Es illustriert die konfliktreiche Natur der dualen Beziehung.“ (''Seminar IV. Die Objektbeziehung'' [1956-571956–57])
 
Insgesamt fasste Lacan die Bedeutung des Spiegelstadium wie folgt zusammen:
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Die 1936 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellte Theorie des Spiegelstadiums stellte Lacans erste bedeutende Neuerung innerhalb der psychoanalytischen Lehre dar und machte ihn sowohl innerhalb der Psychoanalyse wie auch darüber hinaus schlagartig bekannt. Der Einflussbereich der Theorie erstreckte sich dabei bis ins Feld der [[Kulturtheorie]] und der [[psychoanalytische Filmtheorie|psychoanalytischen Filmtheorie]]. Der französische [[Antiimperialismus|Antikolonialist]] [[Frantz Fanon]] verwendete Lacans Konzeption, um die Selbstwahrnehmung kolonialer Minderheiten zu erklären. Sie beruhe auf einem [[Entfremdung|entfremdeten]] Selbstbild, das durch den verinnerlichten Blick der fremden [[Kolonialismus|Kolonialherren]] verzerrt sei.
 
Gleichwohl war das Konzept des Spiegelstadiums innerhalb der Psychoanalyse – wie Lacans Theorie überhaupt – nicht unumstritten. Bereits die Frage, inwiefern Lacans Interpretation des kindlichen Verhaltens vor dem Spiegel wirklich aus einer „Verzückung“ über die erstmalige Vollständigkeit des Selbstbildes und damit als erster Schritt zur Herausbildung des Ichs zutreffend ist, ist nicht eindeutig zu beantworten. Ob Lacan die Vorgänge im Inneren des Kindes mit seiner Theorie korrekt nachzeichnet, muss letztlich offen bleibenoffenbleiben und ist [[experiment]]ell nur schwer oder gar nicht überprüfbar. Die Konzeption des Spiegelstadiums, die zwar auf empirischen, letztlich aber auf in verschiedenen Weisen interpretierbaren Beobachtungen beruht, fußt auf metapsychologischen Annahmen, die sich aufgrund ihres spekulativen Charakters einer [[empirisch]]en Überprüfbarkeit tendenziell entziehen. So gehört die Frage nach der Entstehung und Funktionsweise des Selbstbewusstseins zu den noch immer ungelösten Fragen sowohl der [[Psychologie]] wie auch der [[Philosophie]].
 
Konkret kritisiert wurde an der Theorie des Spiegelstadiums unter anderem Lacans [[Biologismus|biologistische]] Tendenz. So zieht Lacan immer wieder Sachverhalte aus der Tierwelt heran, um das Spiegelstadium beim Menschen zu erklären, indem er sowohl [[Tauben]] als auch [[Wanderheuschrecken]] als allgemeine Belege für die Existenz von Spiegelbeziehungen und Formen von [[Mimikry]] anführt, ohne ihre Übertragbarkeit und Bedeutung für psychologische Zusammenhänge zu hinterfragen. (Vgl. Hanna Gekle: ''Tod im Spiegel. Zu Lacans Theorie des Imaginären'', S.&nbsp;53)
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Auch wurde oft die Unangemessenheit des Lacanschen Konzepts im Ganzen kritisiert. Ganz wörtlich verstanden würde das Spiegelstadium ja etwa bedeuten, dass ein Kind, das nicht mit Spiegeln in Berührung kommt, Störungen in der Ich-Entwicklung aufweisen müsste. Auch erscheint die Fokussierung auf das ‚technische‘ Spiegelbild der Komplexität des Prozesses der Ich-Entstehung nicht angemessen. Jedoch ist fraglich, ob Lacan selbst diese Fokussierung so beabsichtigte. Eine weiter gefasste Interpretation des Spiegelstadiums als Beziehung zwischen Kind und Mutter leistet Peter Widmer in seinem Buch ''Subversion des Begehrens. Eine Einführung in Jacques Lacans Werk'' (S.&nbsp;26–36). Auch Dylan Evans schreibt: „Auch wenn es keinen Spiegel gibt, sieht der Säugling sein Verhalten im imitierenden Verhalten der Erwachsenen oder in dem anderer Kinder reflektiert. Durch diese Imitation fungiert die andere Person als Spiegelbild.“ (''Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse'', S.&nbsp;276)
 
Eine alternative psychoanalytische Konzeption der Entstehung des Ichs bietet die durch die Arbeiten [[Melanie Klein]]s geprägte [[Objektbeziehungstheorie]], die von Psychoanalytikern wie [[William R. D. Fairbairn]] oder [[Donald Winnicott]] vertreten wird, wobei Winnicott sich ausdrücklich positiv auf Lacans Thesen zum Spiegelstadium bezieht. Winnicott bezeichnet den Blick der Mutter als „Vorläufer des Spiegels“: Die Augen der Mutter spiegeln, einem menschlichen Spiegel gleich, den Blick des Kindes zurück und vermitteln so Geborgenheit, Zuwendung und Akzeptanz. „Die Mutter schaut das Kind an, und ''wie sie schaut, hängt davon ab, was sie selbst erblickt.''“ (Winnicott: ''Vom Spiel zur Kreativität'', S.&nbsp;129). Der Begriff der [[Spiegelung (Psychologie)|Spiegelung]] sowie der „Spiegelübertragung“ spielt auch in [[Heinz Kohut]]s Theorie des [[Narzissmus]] eine entscheidende Rolle, wobei Kohut unter der Spiegelübertragung ausschließlich eine zwischenmenschliche [[Übertragung (Psychoanalyse)|Übertragungsbeziehung]] versteht. Andere Leseweisen zum Verhältnis zwischen dem Kind und seinem Bild bieten auch [[Julia Kristeva]], [[Jessica Benjamin]] oder [[Jean Laplanche]].
 
== Das Spiegelstadium in der Literatur und Sprachtheorie ==
In Bildungs- und Entwicklungsromanen wie [[Johann Wolfgang von Goethe]]s ''[[Wilhelm Meisters Lehrjahre]]'' und anderen Texten entwickelt sich der Protagonist durch Reflexion. Diese lässt sich mit Lacans Theorie auf ein Gespräch mit sich selbst, also zwischen ''je'' und ''moi'', herunterbrechen. In Sehnsucht nach der Reduktion der Differenz besteht für den Protagonisten und seine Psyche die Möglichkeit, die Differenz – also das Erkennen der Zerstückelung und Unvollständigkeit – zu akzeptieren oder durch Taten zu vervollständigen. (Siehe: ''Pagel, Gerda: Lacan Einführung: Im Banne des Spiegels –„Ich ist ein anderer“'')
Im Kampf zwischen den beiden Polen „Ich“ (moi) und „Du“ (je) steht in Lacans erstem Spiegelstadium des Ich nur die Sehnsucht nach Anerkennung durch das Du. Der Andere fungiert hier nur als Spiegel, der die Vollständigkeit des Ich bestätigen soll und damit eines eigenen Wertes beraubt wird. Für das Ich ist hier das Du zuallererst nur ein Instrument zur Stärkung des Egos. Doch Ziel des reflektierenden Gespräches ist es, das Du als eigenständiges Ich anzuerkennen und ihm damit eine eigene Existenzberechtigung zuzuschreiben. Sprachtheoretisch nach [[Ferdinand de Saussure]] steht hier die Integration ins Relationssystem der Sprache ([[Langage]]) an vorderster Stelle, ansonsten gleicht die Art des Gesprächs einem Monolog. (Siehe: ''Lang, Hermann: Die Sprache und das Unbewusste. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1998'')
Bei Jaques Lacan sind die Spiegelstadien Stufen der Persönlichkeitsentwicklung und so mit dem Prinzip der Reflexion verbunden. Diese Stadien können in Texten inhaltlich gekennzeichnet sein:
* Beispiel [[Johann Wolfgang von Goethe]]sGoethes [[''Wilhelm Meisters Lehrjahre]]'': Der Titelheld Wilhelm Meister trifft auf seiner Entwicklungsreise immer wieder Frauen. Die Gründe, weshalb er sie anziehend findet oder die Sympathie auf Gegenseitigkeit beruht, spiegeln den Fortschritt der Reflexionsstadien wider: Solange er narzisstisch unreflektiert handelt, kommt der Protagonist nur mit Frauen zurecht, die ihn nicht kritisieren. Er benutzt diese Frauen, um sich selbst bestätigen zu lassen, da er es selbst nicht kann. Erst, als er sich in seiner Selbstwahrnehmung besser sehen kann, da er seine Unvollkommenheiten zulässt, findet er eine Partnerin auf Augenhöhe. Mit ihr tritt er ins Gespräch und kann dabei sich selbst völlig zwanglos reflektieren. Dabei entdeckt er seine sozialen und medizinischen Fähigkeiten und kann durch diese Existenzstärkung aus seinen narzisstischen Charakterzügen ausbrechen. Dadurch ist die Differenz zwischen dem Je und dem Moi (des Spiegelbildes) nicht mehr unermesslich groß oder er kann die Differenz aushalten, akzeptieren und sich selbst damit annehmen, ohne eigenverliebt zu sein.
 
== Siehe auch ==
* [[Spiegelneuron]]en – Nervenzellen, die beim visuellen Betrachten von Handlungen menschlicher Personen angeregt werden und mit der Fähigkeit zur [[Empathie]] in Verbindung stehen
 
== Literatur ==
* [[Jacques Lacan]]: ''Die Familie'' (1938). In: Ders.: ''Schriften III.'' Walter-Verlag, Olten 1978, S. 39-10139–101 (erste Version der Konzeption des Spiegelstadiums, v.&nbsp;a. S. 57-6057–60).
* Jacques Lacan: ''Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint'' (1948). In: Ders.: ''Schriften I''. Quadriga, Weinheim, Berlin 1986, S. 61–70.
* Dylan Evans: ''Spiegelstadium''. In: Ders.: ''Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse''. Turia + Kant, Wien 2002, S. 277-279277–279.
* Hanna Gekle: ''Tod im Spiegel. Zu Lacans Theorie des Imaginären''. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996.
* Émile Jalley: ''Freud, Wallon, Lacan. L'enfantL’enfant au miroir.'' EPEL, Paris 1998.
* [[Heinz Kohut]]: ''Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen'' (1971). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976.
* Dany No­busNobus: ''Life and de­athdeath in the glass: A new look at the mir­rormirror stage.'' In: Ders. (HgHrsg.): ''Key con­ceptsconcepts of La­ca­nianLacanian psy­cho­ana­ly­sispsychoanalysis.'' Other Press, New York 1998, S. 101-138101–138.
* Gerda Pagel: ''Im Banne des Spiegels – „Ich ist ein anderer“.'' In: Dies.: ''Lacan zur Einführung.'' 4. Auflage. Junius Verlag, Hamburg 2002, S. 23-38 23–38.
* [[Élisabeth Roudinesco]]: ''The mir­rormirror stage: an ob­li­te­ra­tedobliterated ar­chivearchive.'' In: Jean-Michel Ra­batéRabaté (HgHrsg.): ''The Cam­bridgeCambridge com­pa­nioncompanion to La­canLacan.'' Cam­bridgeCambridge Uni­ver­sityUniversity Press, Cam­bridgeCambridge 2003, S. 25-3425–34.
* Peter Widmer: ''Die Entdeckung des Begehrens: das Spiegelstadium''. In: Ders.: ''Subversion des Begehrens. Eine Einführung in Jacques Lacans Werk''. Turia + Kant, Wien 1997 (4. Auflage), S. 26-3626–36.
* [[Donald W. Winnicott]]: ''Vom Spiel zur Kreativität'' (1971). Klett-Cotta, Stuttgart 1987, S. 128–135.
 
== Weblinks ==
* [http://www.oaza.ch/OazA_Spiegelung.html Peter Widmer: Der Blick des Dritten] (Auszug aus: ''Subversion des Begehrens'', Wien: Turia + Kant 1997)
* [http://www.nosubject.com/Mirror_stage Mirror stage] – Artikel zum Spiegelstadium bei [http://www.nosubject.com/ No Subject – Encyclopedia for Lacanian Psychoanalysis] (englisch)
* [http://www.archive.org/details/MatchbookFilmsMirror Video eines 14 Monate alten Kindes vor dem Spiegel (mov; 16,3&nbsp;MB)]
* [http://lacan-entziffern.de/spiegelstadium/das-spiegelstadium-im-spiegel-des-anderen/ Rolf Nemitz: Das Spiegelstadium im Spiegel des Anderen] Artikel in [http://lacan-entziffern.de/ "Lacan entziffern"] (2012)
* Anna-Maria Babin: [http://www.muenchner-semiotik.de/ausgabe/2015/babin_coppola-apocalypse-now-u-lacan.pdf ''Lacan Now!'' Ein Blick auf Jacques Lacan mittels Francis Ford Coppolas ''Apocalypse Now'']. In: [http://www.muenchner-semiotik.de/ Muenchner Semiotik – Zeitschrift des Forschungskolloquiums an der LMU (2015)]
* [http://www.recenseo.de/druck.php?idx=95&instidx=&navx=Inhalt Stephan Öhrlein: Die zwei Seiten des Ich. Zu den Begriffen des Ich in den Werken Meads und Lacans.] (Auszug)
* [http://audiothek.philo.at/podcasts/philosophische-brocken/spiegelstadium-revisited Spiegelstadium revisited / Ulrike Kadi, August Ruhs / 3. Mai 2007]
* [http://lacan-entziffern.de/spiegelstadium/das-spiegelstadium-im-spiegel-des-anderen/ Rolf Nemitz: Das Spiegelstadium im Spiegel des Anderen] Artikel in [http://lacan-entziffern.de/ "''Lacan entziffern"''] (2012)
* [http://www.psychoanalyse.org/Portals/0/vortrag/stockreiter_karl0306.htm Karl Stockreiter: Schauplatz Körper] bei [http://www.psychoanalyse.org/ www.psychoanalyse.org]
* Patrick Thor: [http://www.muenchner-semiotik.de/ausgabe/2015/thor_wortkoerper-lacan-grass-schlingensief.pdf Der fremde (Wort‑)Körper im entfremdeten Leib – Was uns Jacques Lacans Psychosemiologie über unsere Subjektwerdung, über unsere Psychosen (G. Grass’ ''Blechtrommel'') und über unseren Krebs (Ch. Schlingensiefs ''Mea Culpa'') sagen kann]. In: [http://www.muenchner-semiotik.de/ Muenchner Semiotik – Zeitschrift des Forschungskolloquiums an der LMU (2015)]
*[http://audiothek.philo.at/podcasts/philosophische-brocken/spiegelstadium-revisited Spiegelstadium revisited / Ulrike Kadi, August Ruhs / 3. Mai 2007]
* [http://www.oaza.ch/OazA_Spiegelung.html Peter Widmer: Der Blick des Dritten] (Auszug aus: ''Subversion des Begehrens.'', Wien: Turia + Kant, Wien 1997)
 
* [http://www.archive.org/details/MatchbookFilmsMirror Video eines 14 Monate alten Kindes vor dem Spiegel (mov; 16,3&nbsp;MB)]
 
== Einzelnachweise ==